Klimakrise, Umweltschutz: Corona hat die Themen längst von Platz eins verdrängt. Wer jetzt vor Erderwärmung und Tipping Points warnt, hat schlechte Karten. Vor allem seit die Pandemie Industrie, Handel und Verkehr weltweit ins Schleudern gebracht hat. Aber nun scharrt die Lobby der Shareholder kräftig mit den Hufen: Weitermachen, konsumieren, kassieren! Dabei hatte die kurze Atempause, wie uns die Forschung mitteilt, mal ganz gut getan: die Erderwärmung geriet kurzfristig ins Stocken, Atmosphäre und Natur konnten sich leicht erholen. Die Chance für einen Neustart, für einen Green New Deal! Oder soll alles weitergehen im gefährlichen alten Trott?
Dem allgemeinen Trend zum Trotz sollen drei aktuelle Bücher ins Gespräch gebracht werden, die hier vielleicht auch ohne Corona kaum eine Chance gehabt hätten. Sie wurden geschrieben, als Pandemie und Panik noch nicht die Welt erobert hatten. Alle drei handeln von Klima, Umwelt und Umverteilung und weisen – gleichsam Manifesten – forsch in die Zukunft, fordern heraus, fordern auf nachzudenken, entschieden zu handeln.
Das erste, "Mondays for Future" erschien erst vor wenigen Wochen (21. April) und spielt mit seinem Untertitel "Freitag demonstrieren. Am Wochenende diskutieren. Ab Montag anpacken und umsetzen" auf die weltweite Fridays-for-Future-Bewegung an. Hey, da heben sich hier schon bei einigen die Brauen. Gefahr im Verzug! Dräut im Hintergrund wieder Gretchen?
Doch gemach, die Autorin Claudia Kemfert ist Wissenschaftlerin. Sie moralisiert nicht, kommt uns nicht quasi-religiös. Als Professorin für Energieökonomie und Nachhaltigkeit leitet Claudia Kemfert im Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung Berlin (DIW) die Abteilung Energie, Verkehr und Umwelt und trat bereits mit verschiedenen wichtigen Publikationen an die Öffentlichkeit. Vielleicht gilt ihre Einschätzung nach dem Corona-Neustart erst recht "Wir sind an einem Wendepunkt. Jetzt haben wir die Chance für einen echten Wandel", so ihr Statement zu Beginn des Buchs "'Fridays for Future' hat die Welt verändert". Und wie auch von der Jugendbewegung längst erkannt, geht es ihr bei weitem nicht nur ums Klima: "Klimaschutz, Frieden, Demokratie und eine solidarische Gesellschaft gehören zusammen", betont sie und ruft die wichtigsten Ziele der "Agenda 2030" ins Gedächtnis, die 2015 in New York immerhin von allen UN-Mitgliedstaaten feierlich verabschiedet wurden.
Tatsächlich sind die 17 ehrgeizigen Hauptziele (SDGs, Sustainable Development Goals) der Deutschen Nachhaltigkeitsagenda zur nationalen Umsetzung vielen nicht bekannt. Dabei berücksichtigen sie, wie Kemfert hervorhebt, "erstmals alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit – Soziales, Umwelt, Wirtschaft – gleichermaßen. "Es geht um Armut, Hunger, Gesundheit und Bildung, Geschlechter- und andere Ungleichheiten, um Wasser- und Energieversorgung, um Wirtschaft und Infrastruktur, um Nachhaltigkeit und um Biodiversität im Wasser und an Land, um Frieden und um Partnerschaft – und um Klimaschutz geht es auch."
Doch die Message ist längst nicht überall angekommen. Claudia Kemfert kann sich dagegen nach neuen Studien (2019) durchaus auf eine breitere Öffentlichkeit stützen. Nach Umfragen messen immerhin 63 Prozent der deutschen Bevölkerung dem Klimaschutz eine ähnlich hohe Bedeutung bei wie den beiden Topthemen Bildung (69 Prozent) und soziale Gerechtigkeit (65 Prozent). Jedoch nur 14 Prozent der Menschen meinen, das galt noch vor Corona, dass die Bundesregierung genug tut.
Kritisch, aber ausgesprochen sachlich, zeigt die Autorin auf, wie unzureichend die nationalen Politiken bislang in der Umsetzung vorangekommen sind. "Als Sachverständigenrat des Bundesumweltministeriums haben wir in unserem Gutachten 2019 in allen drei Feldern deutlich Alarm geschlagen", berichtet die Wissenschaftlerin. Ihr Resümee: Im Klimaschutz Minderung der Treibhausgase um lediglich 32 Prozent statt der vereinbarten 40 Prozent. Bei der biologischen Vielfalt befindet sich keiner der angestrebten Indikatoren im Zielbereich. Auch in der Nachhaltigkeitsstrategie ist die Erreichung der Ziele gefährdet. "Es ist, wie wenn der Arzt dir empfiehlt, das Rauchen aufzugeben und du verkündest, dass du das total ernst nimmst und fest vorhast. Und dann beschließt du, nur noch nach dem Essen und abends zu rauchen und stellst den Aschenbecher vom Wohnzimmertisch ins Regal. Wort und Tat klaffen erheblich auseinander."
Und gnadenlos bleibt die Powerfrau am Ball: "Wir müssen bis 2050 das 1,5- beziehungsweise Zwei-Grad-Ziel erreichen und heute (!) dafür geeignete Maßnahmen einleiten!" Doch keines der anderen Agenda-Ziele geht bei Kemfert verloren: "Gleichzeitig dürfen wir keines der Agenda-2030-Ziele wichtiger nehmen als die anderen. Demokratie, Menschenwürde, sozialer und globaler Frieden (Ziel 16) sind nicht egal, weil wir ein massives Klimaproblem haben. Rassismus, Ausgrenzung von Minderheiten und Genderthemen (Ziele 5 und 10) dürfen wir nicht vergessen, wenn wir über CO2-Emissionen nachdenken. Armut, Hunger, Gesundheit und Bildung (Ziele 1,2,3 und 4) gehören zur Debatte dazu, wenn wir über Energie- und Verkehrswende sprechen." (Ketzerischer Gedanke an dieser Stelle: Hängt es vielleicht mit diesen sozialen Zielen zusammen, warum so viele Rechtspopulisten die Klimabewegung bekämpfen? Und andererseits: Gibt es tatsächlich Menschen, die diese Ziele ablehnen, sich aber "Humanisten" nennen?)
Alle Argumente für und wider werden von der Autorin penibel, aber beileibe nicht langatmig aufgeführt. Wie in einem pfiffigen Kompendium werden die Begriffe wie "Green New Deal", "Green Finance" oder "Carbon Bubble Crash" sauber erklärt und in ihrer Bedeutung abgewogen. In seiner ganzen Aufmachung wie auch in seiner anschaulichen Diktion wendet sich das Buch an einen durchschnittlich gebildeten Leser und erläutert die schwierigsten Widersprüche, Konflikte und "teuflischen Details" äußerst sachlich und ohne Polemik.
Nicht weniger als 123 didaktische Leitfragen führen durch die 200 Seiten des Buches. Und schon nach den ersten Seiten bleibt selbst dem starrköpfigsten "Klima-Leugner" nichts anderes übrig, als vor der Kraft der Zahlen und Argumente in die Knie zu gehen. Und die Autorin erinnert an die wichtigsten Konferenzen, in denen sich die Klimawissenschaftler weltweit austauschten und die Weltgemeinschaft sich zu einer gemeinsam wirkenden Nachhaltigkeitsstrategie verpflichtete.
Und wer sich am Ende veranlasst sieht, endlich selbst tätig zu werden, dem bietet Claudia Kemfert von #1 bis #53 knackige Handreichungen zur praktischen Umsetzung. Winziger Wermutstropfen: Etwas mühselig gestaltet sich indes das Nachschlagen der über 500 Fußnoten. Die muss der Leser nämlich auf den Seiten des Verlages online aufsuchen.
Claudia Kemfert, Mondays for Future – Freitag demonstrieren, am Wochenende diskutieren und ab Montag anpacken und umsetzen, Murmannn, 2020, 200 Seiten, ISBN: 978-3-86774-644-1, 18,00 Euro
Unsere Welt neu denken: Eine Einladung
Und noch eine Powerfrau als Autorin: Maja Göpel. Ihr ebenso starker Titel "Unsere Welt neu denken. Eine Einladung" steht seit Wochen auf Platz eins der Sachbuch-Bestsellerliste des "Spiegel". Ihr Buch sei kein Klimabuch, schreibt die Autorin zu Beginn ihrer Einladung. "Ich bin keine Klimaforscherin. Ich bin Gesellschaftsforscherin, und mein Hauptinteresse gilt der politischen Ökonomie. Ich sehe mir die Art und Weise an, wie die Menschen wirtschaften und ihr Zusammenleben gestalten. Welche Beziehungen sie dazu zur Natur und zu den anderen Menschen eingehen. Wie sie mit Ressourcen umgehen, mit Energie, Material, Arbeitskraft." Und sie hat sehr genau hingeschaut in den letzten Jahren. Was dabei herausgekommen ist, liest sich spannend von vorne bis hinten – und macht sehr nachdenklich.
Maja Göpel ist Transformationsforscherin und hat derzeit eine Honorarprofessur an der Leuphana Universität Lüneburg inne. Die Transformationsforschung befasst sich im Rahmen der vergleichenden Politikwissenschaft mit grundlegenden Veränderungen politischer Systeme und gesellschaftlicher wie wirtschaftlicher Ordnung. Außerdem ist Maja Göpel Generalsekretärin des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen (WBGU).
Im März letzten Jahres gründete sie mit einer kleinen Gruppe von Wissenschaftler*innen die Scientists für Future (S4F). Zusammen formulierten sie einen offenen Brief, worin sie die Jugendprotestbewegung "mit einer Aneinanderreihung von Fakten als vollkommen gerechtfertigt" unterstützte. "Wir hätten nie damit gerechnet", bekennt sie heute, "dass innerhalb von drei Wochen 26.800 Wissenschaftler*innen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz diesen Brief mitzeichnen würden“.
Als Kritikerin eines ungebremsten Fortschritts warnt die Wissenschaftlerin vor dem immer wieder als Folge auftretenden "Rebound-Effekt". Göpel: "Er ist eines der am meisten unterschätzten Hindernisse auf dem Weg in eine nachhaltige Wirtschaftsweise". Und sie erläutert ihre Thesen an vielfältigen Beispielen, von der Optimierung der Dampfkraft über die Elektrifizierung bis hin zur Nutzung des Erdöls: "Eine neue Technik ging sparsamer mit den Ressourcen um, weshalb sie eine größere Verbreitung fand, was insgesamt jedoch zu einem Mehrverbrauch führte, der dann die Einsparungen wieder zunichte machte und sie sogar übertraf". Sehr eingängig wird der von ihr beschworene Rebound-Effekt auch an der modernen Autoentwicklung beschrieben, deren Zeuge wir heute sind: Die Vorteile effektiverer Motoren mit geringerem Verbrauch werden durch Neuzulassung immer stärkerer und schnellerer Maschinen wieder zunichte gemacht. Sogar im Elektroauto stecke ein Rebound, moniert die Autorin: "Zum Einen, weil zur Herstellung seiner Batterie natürlich Energie notwendig ist und außerdem Seltene Erden, die oft unter umweltschädlichen Bedingungen abgebaut werden. Zum Zweiten, weil auch für den Aufbau einer Ladestruktur Energie und Material benötigt werden".
7 Kommentare
Kommentare
David See am Permanenter Link
also 1. Kein Fleisch und kein Fisch mehr essen! 2. In Städten gibt es nur ÖPNV!
es geht nicht um eine nette Ethik, sondern was wir für Menschen sind (Zitat geklaut)
Peter Müller am Permanenter Link
"Oder soll alles weitergehen im gefährlichen alten Trott?"
Muß es doch. Sonst würden die Verschwörungstheoretiker ja Recht behalten die sagen, das Corona nur ein Vorwand ist um andere Maßnahmen durchzusetzen.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Andere Maßnahmen können sich ja auch positiv auf die Zukunft der Menschheit auswirken, haben Sie darüber schon einmal nachgedacht? dass nicht weiter die selben Fehler gemacht werden und die Erde dabei zugrunde geht.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Danke, Thomas Brandenburg (auch wegen der früheren Rezension von Bregmans Buch 'Im Grunde gut')!
Außerdem kann ich mir jetzt (fast) meinen eigenen hpd-Beitrag (nach dem vom 8.1.20) sparen. Es sollte darin im Kern um die schamlose Corona-Instrumentalisierung nicht nur in Ungarn gehen und dass es sich dabei um eine Konterrevolution gegen die ökonologische Revolution handelt.
Helmut Lambert am Permanenter Link
"Dabei hatte die kurze Atempause, wie uns die Forschung mitteilt, mal ganz gut getan." Wer mit solcher "Brille" seine Buchempfehlungen einleitet, hat bei mir seinen Anspruch auf Kompetenz und Sachl
Damit ist nicht gegen die Bücher gesagt.
Hans Trutnau am Permanenter Link
Wenn man das aus der 'Einleitung' Zitierte einmal im Zusammenhang liest (und bemerkt, worauf es sich bezieht), macht es plötzlich viel mehr Sinn, nicht?
Thomas R. am Permanenter Link
"Sie moralisiert nicht,"
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"Gibt es tatsächlich Menschen, die diese Ziele ablehnen, sich aber "Humanisten" nennen?"
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Oooh ja, die gibt es, und das überrascht auch nicht. Schließlich ist "Humanist-sein" und "moralischer-Mensch-sein" nicht dasselbe.
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"Nach Umfragen messen immerhin 63 Prozent der deutschen Bevölkerung dem Klimaschutz eine [...] hohe Bedeutung bei"
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Supi. Ist nur leider fürn A...., wenn sie sich nicht auch entsprechend verhalten.
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"Wir leben nicht über unsere Verhältnisse", [...] "wir leben über die Verhältnisse der anderen".
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SEHR schön formuliert.
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"Gleichwohl ist Maja Göpel keine Verfechterin der Graswurzel-Theorie, der einzelne Bürger könne mit seiner Kaufentscheidung, durch nachhaltigeren Konsum die globale Planetenzerstörung aufhalten."
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Mehr und immer mehr "einzelner Bürger", die nicht länger Teil des Problems sein wollen, können das sehr wohl. Es würde sich ja auch niemals irgendwas ändern, wenn jeder darauf wartete, daß Andere anfangen oder mitmachen.
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"Solche Appelle seien nichts weiter als die "Privatisierung des Umweltschutzes"."
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Das ist doch Quatsch. Individuelles Engagement und politische Steuerungsmaßnahmen schließen einander nicht aus, sie ergänzen sich!