Kolumne: Sitte & Anstand

Ist Sex böse? Die religiöse Zwangswelt des Atlanta-Mörders

Im Debattierclub der deutschen Medienlandschaft hat man den Achtfachmörder von Atlanta rasch durch die gängigsten Erhitzungsdiskurse gejagt – Rassismus, Sexismus – und sich dann wieder anderen Dingen zugewendet. Dass er seinen Hass mutmaßlich aus seiner Religion bezog, ist dabei allenfalls am Rande Thema gewesen. In den USA hingegen haben die Medien mal reinrecherchiert in die Selbstauskunft des mutmaßlichen Täters: Die asiatischstämmigen Frauen in den Massagesalons hätten für ihn eine "Versuchung" bedeutet, die er dann "eliminieren" musste.

Wie krank ist das? Jedenfalls fügt es sich problemlos in die neurotischen Vorstellungen der vorherrschenden Religionen, was Sexualität angeht. Vom Tatverdächtigen, einem intensiv gläubigen jungen Baptisten, weiß man nun, dass er sich für einige Zeit in Behandlung begeben hatte. Wegen "Sexsucht". In einer christlichen Institution namens "HopeQuest", die sich an Süchtige wendet und die sich in früheren Jahren auch einen Ruf erworben hat, Homosexualität für eine Krankheit zu halten und sie "behandeln" zu wollen. "HopeQuest" liegt nicht weit entfernt vom Massagesalon, in dem der Mörder seine ersten Opfer fand. Hier hat der Tatverdächigte sich 2019 und 2020 für etwas in Behandlung begeben, was er als "Sexsucht" und "Pornographiesucht" empfand – nebulöse und irreführende Begriffe, die weniger der Medizin oder der Psychologie entspringen als eben verqueren Ideen, mit denen religiöse Menschen oft gequält werden: Sex und Lust seien unbedingt weitestgehend zu zügeln, da sie schmutzig und irgendwie böse seien. Warum auch immer der Herrgott sie sich dann ausgedacht haben mag.

Gerade in den USA gibt es unter sich für religiös erachtenden jungen Menschen eine Modewelle der "Purity Culture" ("Reinheitskultur"), in der man es sich zur Auflage macht, vor der Ehe auf keinen Fall erotische Erfahrungen machen zu wollen.

Viele Religiöse propagieren hier einen Unterdrückungsmechanismus, der auf die Natur des Menschen zielt: Sexualität ist, wie bei allen Säugetieren, ein Fakt, sie ist eine Grundkomponente des höher entwickelten Lebens, sie ist nicht gut, sie ist nicht böse, man sollte sie ebenso wenig gewaltsam unterdrücken wie Atmung, Essen oder Lachen, aber man kann sie dazu nutzen, dass Menschen sich schlecht fühlen. Und gehorsam werden. Wo Sexualität außerhalb der Ehe als böse propagiert wird, fällt den Ehefrauen oft die Rolle der sexuellen Verfügungsmasse zu, die ihren Mann auf Wunsch zu befriedigen habe.

Sexsucht? Pornographiesucht? Eine psychologische Studie unter säkularen und jüdisch-orthodoxen Teenagern in Israel deutet darauf hin, dass der Zwang, alles Sexuelle an sich zu unterdrücken, eher das Gegenteil bewirkt, nämlich eine zwanghafte Beschäftigung mit sexuellen Vorstellungen und Gedanken. "In meiner Arbeit mit sexuellem Zwangsverhalten bei Erwachsenen habe ich nachgewiesen", sagt Studienautor Yaniv Efrati, "dass elterliche Reaktionen auf sexuelles Verhalten der Kinder (Masturbation, Pornographiekonsum) für die Entwicklung von sexuellem Zwangsverhalten signifikant sind. Kommentare, die Sexualität als 'schmutzig' oder 'verboten' darstellen, fördern nur die Entstehung von sexuellem Zwangsverhalten."

Auch bemerkt Efrati, dass religiöse Menschen ihre eigene sexuelle Zwanghaftigkeit oft überschätzen. "Auf dem Feld der Therapie sehe ich, dass religiöse Menschen in ihrer Selbstauskunft oft von sexueller Zwanghaftigkeit berichten, während sie in der Praxis gar keine sexuelle Zwangsverhalten an den Tag legen. Sie definieren sich nur so – wegen der negativen Gefühle von Scham und Schuld, die der Konflikt zwischen Sexualität und Religion in ihnen verursacht." Oder anders gesagt und debattenfertig aufbereitet: Ohne Religion keine Scham und kein Selbsthass wegen vollkommen natürlicher Vorgänge, und keine aufgestaute Aggression, die sich auf die furchtbarste Weise ihren Weg sucht.

Unterstützen Sie uns bei Steady!