Definition eines Diskurskonstrukts

Die "Identitätslinke" – was ist das überhaupt?

Nicht nur in den Feuilletons ist immer wieder von einer "Identitätslinken" die Rede. Doch was meint diese Bezeichnung eigentlich? Welche Besonderheiten sind der "Identitätslinken" eigen? Wie unterscheiden sie sich von den "Identitätsrechten" und "Soziallinken"? Passen Bezeichnungen wie "Lifestyle-Linke" oder "Salon-Linke" nicht besser? Und worin bestehen eigentlich die Einwände gegen die gemeinte "Identitätslinke"? Um Antworten hat der hpd den Politikwissenschaftler und Soziologen Armin Pfahl-Traughber gebeten.

Allgemeine Definition von "Identitätslinker"

Zunächst einmal gilt es allgemein zu konstatieren, dass die gemeinte "Identitätslinke" nicht für ein konkretes Projekt steht. Die Bezeichnung nutzt keine Partei, kein Verein und keine Zeitschrift. Es besteht auch keine klare Ideologie, es gibt kein entwickeltes Programm. Ein Chefideologe ist ebenso wenig präsent wie ein Denkzirkel. Gemeint ist vielmehr ein Diskurskonstrukt, also eine Bezeichnung für bestimmte Positionen, die eine öffentliche Wirkung entfalten wollen. Dazu gehören die Beschwörung "post-moderner" Denkweisen, die Betonung einer "post-kolonialen" Grundposition, die Einforderung eines "kritischen Weißseins", die Klage über "Islamophobie", die Kritik von "kultureller Aneignung" oder die Rede vom "strukturellen Rassismus" der Weißen. Gemeinsam ist diesen Auffassungen, dass sie sich auf die Identität von diskriminierten Minderheiten beziehen: Diverse, Muslime oder Schwarze (interessanterweise nicht Juden). Genau die auf diese Gruppen bezogene Identitätsfixierung erklärt, warum die Formulierung "Identitätslinke" genutzt wird.  

Besonderheiten von "Identitätspolitik"

Indessen kann ein Engagement für diskriminierte Minderheiten auch mit universalistischen Vorzeichen erfolgen. Dabei würden angebliche oder tatsächliche Eigenschaften von sozialen Gruppen keine, aber die Ausrichtung an Gleichwertigkeit und Menschenrechten eine grundlegende Rolle spielen. Es geht aber nicht um einen allgemeinen, sondern um einen identitären Antirassismus. Die Ablehnung der Diskriminierung soll mit dem Identitätsanspruch der Minderheiten verbunden werden. Damit hat man es mit einem besonderen Fall von Identitätspolitik zu tun. Diese meint allgemein Bemühungen um die verbindliche Gestaltung des sozialen Miteinanders, wobei den Eigenschaften einer besonderen Gruppe ein herausragender Stellenwert zugeschrieben wird. Diese identitätsbildenden Eigenschaften können aus den unterschiedlichsten Inhalten und Zugehörigkeitsformen bestehen. Dazu zählen ethnische, kulturelle, politische, religiöse oder soziale Eigenschaften, die eben die gemeinte Gruppenidentität konstitutiv prägen würden.  

Auffassungen in einem Diskurskonstrukt

Bei der Abwehr der Diskriminierung findet man bei der Identitätslinken bestimmte Positionen, die auch die Auffassungen des gemeinten Diskurskonstrukts prägen: Demnach gebe es eine Dominanzkultur der Weißen, woraus eine Benachteiligung der Nicht-Weißen erfolge. Dies sei den Gesellschaften der westlichen Welt strukturell eingeschrieben, wobei aber über Rassismus eben jene Weißen nicht sprechen wollten. Sie diskriminierten darüber hinaus auch unabhängig von individuellen Einstellungen und Handlungen, eben aufgrund der auf die Dominanzkultur bezogenen Zugehörigkeit. Dies erkläre dann auch, warum es keinen Rassismus von Schwarzen gegen Weiße geben könne. Denn die Dominanzkultur sei nicht von Schwarzen, sondern von Weißen geprägt. Letztere betrieben auch kulturelle Aneignung, das heißt sie bedienten sich aus der Kultur von Minderheiten. Insofern seien Dreadlocks als Frisur ebenso wie Indianerkostüme zu Karneval rassistisch. In Detailaspekten wie diesen beiden genannten Fällen kann es aber auch partielle Unterschiede geben.

Differenzierung zur "Identitätsrechten"

Um die Besonderheiten der Identitätslinken zu erkennen, bieten sich vergleichende Betrachtungen mit anderen Phänomenen an. So gibt es auch eine Identitätsrechte, die auf die angebliche Mehrheit des deutschen Volkes orientiert ist: Dessen "ethnisch-kulturelle Identität" solle gegen einen Multikulturalismus verteidigt werden. Die Deutschen hätten ein gleiches Identitätsrecht wie etwa die Türken, beide Volksgruppen darüber hinaus den gleichen Wert. Ihre ethnisch-kulturelle Identität könnten sie indessen am besten in getrennten Räumen pflegen. Diese Grundauffassung der Identitätsrechten läuft dann letztendlich auf eine massenhafte Vertreibung hinaus. Hinsichtlich der Bezugsgruppen und Folgen bestehen demnach gegenüber der Identitätslinken grundlegende Unterschiede. Gleichwohl gibt es auch formale Gemeinsamkeiten: Man denkt in den Dimensionen von Kollektiven, es gibt in den Gruppen eine reine Wesenheit, deren Identitäten haben einen herausragenden Stellenwert und die Separierung von Zugehörigkeiten soll wichtig sein.

Differenzierung zur "Soziallinken"

Es gibt auch Gemeinsamkeiten der Identitätslinken mit der Soziallinken, die eben in einem Bekenntnis zu politisch linken Positionen besteht, was die gegenüber den Benachteiligten eingeforderte Solidarität veranschaulichen soll. Die als "klassisch" geltende Linke meint damit die unteren Schichten, ihnen gegenüber soll es um mehr "soziale Gerechtigkeit" und damit letztendlich eher Gleichheit auch in der Mehrheitsgesellschaft gehen. Ein Engagement für diese benachteiligten Gruppen schließt ein solches für die gemeinten Minderheiten nicht aus. Ganz im Gegenteil, kann es dabei doch um einen Einklang von gesellschaftspolitischen Vorstellungen gehen. Indessen blendet die Identitätslinke den sozioökonomischen Komplex im Selbstverständnis bei ihrem Wirken weitgehend aus. Dies läuft daher auf eine entsprechende Einschätzung des gesellschaftlichen Status hinaus. Denn so gilt als Angehörige der dominanten Gruppe auch die weiße Discountmarkt-Kassiererin und als Angehöriger der diskriminierten Gruppe ebenso der schwarze Top-Manager.

Auseinandersetzung mit alternativen Begriffen

Mittlerweile kursieren auch alternative Begriffe für die Identitätslinke. Dazu gehören "Lifestyle-Linke" oder "Salon-Linke". Indessen erfassen diese Bezeichnungen eine eher persönliche Haltung, die nicht notwendigerweise etwas mit dem Engagement für Minderheiten zu tun haben muss. Demnach sonnt man sich im Alltagsleben in dem Bekenntnis zu einer "guten" Gesinnung, die aber weder mit persönlichen noch mit politischen Konsequenzen einhergehen muss. Es gilt als "schick", links zu sein. So entstehende Doppelmoralen hat es in der Linken häufig gegeben, insofern wären die Identitätslinken nur ein neuerer Teil davon. Gleiches gilt hinsichtlich der Bezeichnung "Salon-Linke", die auf die bloße Bekundung einer "linken" Gesinnung in höheren Kreisen abstellt. Ihr können mit der Identitätslinken auch "progressive Neoliberale" zugeordnet werden. Sie wollen in Chefetagen mehr Homosexuelle und Schwarze sehen, die Arbeitsbedingungen und die Entlohnung der Mitarbeiter sind ihnen aber nicht so wichtig.

Identitätslinke als allgemeine Sammelbezeichnung

Bilanzierend betrachtet soll "Identitätslinke" daher weiterhin als Sammelbezeichnung gelten. Es geht um Akteure mit einem "linken" und "progressiven" Selbstverständnis, welche die Mehrheitsgesellschaft als diskriminierend ansehen und sich für als diskriminiert geltende Minderheiten einsetzen wollen. Indessen muss sich ein solches Engagement nicht notwendigerweise auf eine Gruppenidentität beziehen. Diese Besonderheit macht dann aber die Identitätslinke eben zur Identitätslinken. Sie orientiert sich an den jeweiligen Kollektiven, nicht an universellen Werten. So sind etwa Diskriminierungen in diskriminierten Gruppen kaum ein Thema. Für Antisemitismus und Frauendiskriminierung gilt dies ebenso wie für Homosexuellenfeindlichkeit und Sexismus. Identitätslinke blicken dabei primär auf die Mehrheitsgesellschaft und eben nicht auch auf die Minderheiten. Ihr Engagement richtet sich damit an den jeweiligen Gruppenidentitäten und nicht an den universellen Menschenrechten aus. Genau dies macht diese Besonderheit aber auch zu einem Problem.

Identitätslinke als Konstrukt zum Verständnis

Abschließend soll die Bezeichnung der "Identitätslinken" als Konstrukt noch einmal thematisiert werden. Da es sich bei dem Gemeinten eben nicht um eine feste Organisation handelt und auch keine entwickelte Programmatik vorliegt, sind verallgemeinerbare Aussagen vom Grundsatz her ein Problem. Jeder Anhänger eines bestimmten Gesichtspunktes kann darauf verweisen, dass er eine gewisse Schlussfolgerung nicht teilen würde. Dies gilt gerade für die Absonderlichkeiten innerhalb dieses Diskurses, wie etwa Dreadlocks als Indiz für Rassismus bei Weißen. Denkt man derartige Auffassungen zu Ende, dürfte Jazz auch nicht mehr von Weißen gespielt werden. Indessen bilden diese Folgerungen die Konsequenzen des erwähnten Verständnisses. Solange die gemeinten Identitätslinken sich von solchen Prägungen nicht verabschieden, so lange müssen sie sich auch derartige Positionen zurechnen lassen. Die darauf gemünzte ideologiekritische Auseinandersetzung bezieht sich auch nicht auf konkrete Personen, sondern kursierende Positionen.

Der Autor hat eine solche Erörterung vorgenommen, wobei es um die antiaufklärerische Dimension der Identitätslinken ging und zehn Thesen in Zuspitzung formuliert wurden.

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