Mehr als 100.000 Menschen kamen letzte Woche am Berg Meron im Norden Israels zusammen, um das Fest "Lag BaOmer" zu feiern – erlaubt waren eigentlich nur 10.000. Einige streng orthodoxe Gruppierungen hatten zuvor im Parlament für die Aufhebung sämtlicher Beschränkungen lobbyiert. Aus noch ungeklärten Gründen gerieten die vorderen Reihen ins Straucheln, die Menschen fielen übereinander und zerquetschten sich gegenseitig. 45 Menschen verloren ihr Leben und 150 wurden verletzt; nun hagelt es Kritik an der Polizei. Doch zahlreiche Stimmen haben bereits vor Jahren vor einer solchen Tragödie gewarnt.
Ein Sprecher der israelischen Rotkreuzorganisation Magen David Adom trat am Mittag des 30. April vor die Mikrofone und sprach von einer "unfassbaren Katastrophe". Am Abend zuvor waren etwa 100.000 Charedim (Anhänger:innen des ultraorthodoxen Judentums) am Berg Meron zusammengekommen, um tanzend, hüpfend und unter Missachtung aller Infektionsschutzprotokolle zu feiern. Die israelische Zeitung Haaretz berichtet unter Berufung auf Polizeikreise, dass die vorderen Reihen auf einer abschüssigen Metallrampe ins Stolpern geraten seien.
"Alles passierte in einem Sekundenbruchteil, die Menschen fielen und trampelten übereinander", rekapituliert eine beteiligte Person. Bereits am Tag nach der Katastrophe wurde Kritik an den Polizeikräften laut. Einigen Beteiligten zufolge seien keine weiteren Ausgänge geöffnet worden, sodass die Menschen die schmale Metallrampe hinuntergezwungen wurden. "Wir haben sie angefleht, die Absperrungen zu öffnen, aber aus irgendeinem Grund hat uns die Polizei nicht herausgelassen. Die Menschen wurden geschubst und zu Tode getreten. Ich habe gar nicht verstanden, was passiert und wurde ohnmächtig", beschreibt einer der Verletzten das Geschehen. Auf Videoaufnahmen ist zu sehen, wie sich die Menschenmassen durch den engen Ausgangskorridor zu drängen versuchen. Nun hat Israels "Staatskontrolleur" eine unabhängige Untersuchung angekündigt. Die Untersuchung werde auch "Aspekte persönlicher Verantwortlichkeiten" aufklären.
Im Vorfeld des Festes hatte Innenminister und Rabbi Aryeh Deri, der der streng orthodoxen Partei Shas angehört, sämtliche Auflagen inklusive der Limitierung auf 10.000 Personen zu torpedieren versucht. Shas ist Juniorpartner der regierenden Paretei Likud. "Wie ein Löwe" soll Deri in der Knesset, dem israelischen Parlament, für ein restriktionsfreies Lag Baomer gekämpft haben.
Dass die Regierung unter Ministerpräsident Benjamin Netanyahu nicht rigoroser gegen den charedischen Lobbyismus, dem nun 45 Menschen zum Opfer gefallen sind, vorgegangen ist, ist ein Skandal, allerdings kein überraschender. Geplagt von Korruptionsvorwürfen und zivilen Protesten, die derart Fahrt aufgenommen haben, dass sie mittlerweile sogar über einen englischsprachigen Wikipedia-Eintrag verfügen, ist Netanyahu vollständig auf die Unterstütztung der streng orthodoxen Gemeinschaften angewiesen, um überhaupt noch an der Macht zu bleiben. Die politische Führung Israels ist krank im Kern, resümiert das Magazin Tachles: "Es ist die Auflösung des Staates. Nicht mehr, nicht weniger. Mithilfe des Premiers. Und der Rabbiner."
Das Problem war bekannt
Besonders deutlich wird diese Dysfunktionalität, die sich in völliger Apathie gegenüber Menschenleben ausdrückt, am Tauziehen um die Wallfahrtsstätte am Berg Meron: Bereits 2008 und 2011 hatte Micha Lindenstraus, damaliger Staatskontrolleur, darauf hingewiesen, dass die Feierstätte am Berg Meron nicht für große Menschenansammlungen geeignet sei. Im Report von 2008 heißt es wörtlich: "Die Zugangswege sind zu eng, um hunderttausende Besucher:innen zu verkraften."
An der Feierstätte am Berg Meron liegt der Rabbi Schimon ben Jochai begraben, der nach charedischer Überzeugung den Sohar, das heilige Buich der Kabbala, geschrieben hat. Die israelische Regierung wollte die Stätte bereits vor zehn Jahren verstaatlichen. Dagegen wurde jedoch 2016 vor Israels oberstem Gericht geklagt, welches Anfang letzten Jahres – alle Maßnahmen lagen inzwischen auf Eis – dann ein finales dreijähriges Moratorium verkündete.
Entsprechend bedeutsam ist die Grabstätte im charedischen Kosmos. Nun haben die streng Orthodoxen, die sich den Lebensschutz groß auf die Fahne gepinselt haben, wieder einmal bewiesen, dass ihnen Rituale und Symbolik in der Praxis mehr bedeuten als der Schutz ihrer Anhänger:innen. Auf die Kritik an seinen Vorstößen, die Beschränkungen aufzuweichen, antwortete Aryeh Deri lapidar, er habe lediglich die Limitierung der Personanzahl, nicht die Schutzmaßnahmen angreifen wollen. Dass Deri aber ernsthaft sagt, "jetzt" sei die "Zeit, die Probleme an der Wurzel anzugehen", ist angesichts der Tatsache, dass er trotz der bekannten Risiken für eine Streichung der Personenbegrenzung lobbyiert hat, schier unfassbar. Dieses Niveau an moralischer Flexibilität ist beinahe olympiareif. Außerdem bemerkenswert ist, dass es sich bei den diesjährigen Beschränkungen nur um Corona-Schutzmaßnahmen handelte, nicht um einen Schutz vor den anderen Gefahren, die von großen Menschenmassen auf engem Raum ausgehen können.
Lag BaOmer ist der 33. Tag zwischen dem Pessachfest (dem Auszug des jüdischen Volkes aus der ägyptischen Sklaverei) und "Shawuot", dem jüdischen Erntedankfest. Lag BaOmer ist deswegen so wichtig, weil es der einzige Tag in dieser 49-tägigen Periode ist, an dem geheiratet werden darf. Noch im letzten Jahr hatten die israelischen Behörden das Fest vollständig untersagt und über 300 Personen verhaftet.
Dass sich die israelischen Behörden in diesem Jahr weniger rigoros zeigten, mag daran liegen, dass sie von der schieren Größe der Menge überwältigt waren. Nur etwa 5.000 Polizeikräfte standen den 100.000 Charedim gegenüber. Der Versuch einer Durchsetzung zumindest einiger Infektionsschutzmaßnahmen war damit zum Scheitern verurteilt. Zu kontrollieren, ob die Menschen – wie eigentlich vorgeschrieben – gegen Covid-19 geimpft sind, ebenso.
Allein die Tatsache allerdings, dass zum ersten Mal seit über einem Jahr wieder eine sechsstellige Zahl an Menschen in Israel zusammengekommen ist, und dass sie es genau in dieser speziellen Anlage getan hat, mag ein entscheidender Grund für die Katastrophe gewesen sein. Auf den Videos ist zu sehen, wie ausgelassen sie sind – ein Moment der Freiheit für Menschen, die aufgrund ihrer sozioökonomischen Situation häufig seit langem mit sehr großen Familien auf sehr kleinem Raum leben müssen.
7 Kommentare
Kommentare
Ulli am Permanenter Link
Menschen? Nur Männer! Da merke ich wie viszeral intolerant ich auf orthodoxes Denken reagiere.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Es verwundert nicht wenn man sieht, wie sich Menschen zu Herdenvieh machen, daraus resultiert, Religion kann tödlich sein, dies war und ist sie schon immer.
SG aus E am Permanenter Link
„Religion kann tödlich sein“ – Party auch
https://de.wikipedia.org/wiki/Unglück_bei_der_Loveparade_2010
Unglücke geschehen. Sie treffen Religiöse wie Diesseitige.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Ist es dann auch ein Unglück wenn man auf dem Scheiterhaufen landet oder der Inquisition zum Opfer fällt, wie Millionen von Menschen in der Geschichte der Religionen und heute noch
durch den Islamismus.
Paul München am Permanenter Link
Manche Unglücke lassen sich vermeiden, wenn man sein Hirn einschaltet ...
Paul München am Permanenter Link
Beispiel, auf Baustellen wird regelmäßig gewarnt, sich nicht unter schwebender Last aufzuhalten.
Paul München am Permanenter Link
Zum "Hirn einschalten" gehört selbstverständlich auch, dass man für seine Mitmenschen mitdenkt, gerade auch für Kinder, unabhängig davon, ob man selbst Kinder hat oder nicht:
Deshalb z.B. NIEMALS Putzmittel und ähnliches in Getränkeflaschen umfüllen. Leider hat es schon Fälle von Verätzungen der Speiseröhre gegeben, wenn Kinder das vermeintliche Getränk beispielsweise in der Garage von Onkel/Tante entdeckt hatten. Die Betroffenen leiden ihr ganzes Leben lang!
Gott oder Schutzengel helfen in solchen Fällen nicht; letztere hatten diese Gefahr wohl nicht auf ihrem Ausbildungsplan.