Supreme Court entscheidet: Wir wollen die Welt brennen sehen

Der Supreme Court of the United States (SCOTUS) hat in einer 6-3 Entscheidung festgelegt, dass die Environmental Protection Agency (EPA) nicht die Befugnis hat, Emissionsobergrenzen für Bundesstaaten durchzusetzen. Die Richter*innen geben damit einer Klage von 20 republikanischen Bundesstaaten statt, die sich partout weigern, nicht-fossile Quellen zur Stromerzeugung zu nutzen. Ein Kommentar.

Die Rennaissance der Kleinstaaterei

Was darf die US-Bundesregierung den einzelnen Staaten vorschreiben? Diese Frage ist das Kernelement der meisten Konflikte, die der Supreme Court schlichten soll. Zwischen Roe v. Wade und Moore v. Harper, einem Fall mit weitreichenden Konsequenzen für das Wahlrecht, hat sich der SCOTUS auch dem Fall West Virginia v. EPA angenommen. Vergangene Woche stellte sich der Oberste Gerichtshof hinter West Virginia: Die EPA hat nicht die Autorität, Staaten verpflichtende Emissionsbudgets aufzuerlegen.

Diese Positionierung wirkt nahezu skurril, setzt man sie in Relation zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts im vergangenen Jahr, der hpd berichtete. Während die ranghöchsten deutschen Richter*innen die Bundesregierung daran erinnerten, dass sie im Begriff ist, das Kapital unserer Kinder zu verspielen und das Parlament nicht durch Emissionsverordnungen ausbremsen kann, konstatiert der Supreme Court, dass die US-Regierung den Kongress nicht daran hindern kann, Klimaschutz durch legislative Untätigkeit auszubremsen.

Wie ist es zu erklären, dass der SCOTUS der EPA nun genau die Kompetenzen entzieht, die er der Behörde 2007 in der Entscheidung Massachusetts v. EPA nicht nur selbst zugebilligt, sondern regelrecht aufgezwungen hat? Ein solcher Anachronismus in der Rechtsprechung verdient eine skeptische Analyse.

Technisches K.O.

Grundlage für die Emissionsregulierung durch die EPA ist der Clean Air Act. Dieser wurde zuletzt im Jahr 1990 angepasst, doch dummerweise hat die Legislative darüber vergessen, die zwei vorliegenden Versionen des Gesetzes zu vereinheitlichen. Die des Senats beinhaltet eine explizite Klausel, in der der EPA die Kompetenz zur Festlegung von Emissionsobergrenzen übertragen wird; jene Klausel fehlt allerdings in der Version des Abgeordnetenhauses. Dieser Formfehler ist die alleinige Basis der aktuellen Entscheidung.

Um die potenziell gewaltigen Folgen dieses Urteils zu verstehen, müssen wir zunächst einen Blick ins Jahr 1984 werfen. Der Autohersteller Chevron klagte mit einer ganz ähnlichen Argumentation gegen strengere Abgaswerte, denn der Kongress habe in seinem Gesetz nicht genau aufgezählt, welche Abgase reguliert werden dürfen. SCOTUS stellte sich mit einer bemerkenswerten Begründung, die als "Chevron Deference" Rechtsgeschichte schreiben sollte, auf die Seite der EPA:

"Wenn das Gericht jedoch feststellt, dass die exakte Fragestellung nicht vom Gesetz beantwortet wird, nimmt das Gericht nicht einfach eine eigene Interpretation vor. Stattdessen stellt sich das Gericht die Frage, ob die Deutung der ausführenden Behörde auf einer adäquaten Interpretation und Anwendung des fraglichen Gesetzes beruht."

Die eigentliche Tragweite der Entscheidung im Fall West Virginia v. EPA liegt also nicht in der Positionierung, sondern in der Begründung eben dieser. Indem der Supreme Court das Fehlen einer explizit enumerierten Befugnis als Grund für die Einschränkung behördlicher Arbeit heranzieht, beginnt er nicht nur, das Prinzip der Chevron Deference zu beerdigen, sondern öffnet die administrative Büchse der Pandora.

Wenn eine Bundesbehörde ausschließlich Dinge tun darf, die ihr verbatim vom Kongress erlaubt wurden, bedeutet das in der Praxis, dass ein Gesetz jedes auch nur halbwegs realistische Szenario antizipieren muss. Das Prinzip der Netzneutralität beispielsweise ist nirgendwo enumeriert und basiert auf der Chevron Deference. Die Forderung, dass ein Gesetz jeden einzelnen Fall, in dem es angewandt werden darf und wie, aufzählen muss, ist schlicht nicht praktikabel, es sei denn, das Parlament kann hellsehen.

Jährliche Rendite des Clean Air Act: 3.200 Prozent

Dabei wäre eine politische Investition in den Clean Air Act auch ökonomisch eine hervorragende Idee. 3.200 Prozent jährliche Rendite attestiert eine Studie der EPA den Maßnahmen, jährlichen Kosten von 60 Milliarden US-Dollar stehen beeindruckende zwei Billionen US-Dollar in Benefits gegenüber. Zu einer beinahe identischen Quote kommt auch eine Studie im Auftrag des Natural Resources Defence Council. Jährlich würden durch den Clean Air Act außerdem 370.000 vorzeitige Tode und 189.000 Krankenhausaufenthalte verhindert.

Am Wissen, wie gut verzinst Umweltschutz ist, kann es also nicht mangeln. William Boyd von der Universität von Kalifornien in Los Angeles schreibt dazu: "Ich denke tatsächlich, dass der Fall um West Virginia als Teil eines größeren Prozesses verstanden werden kann, dessen Ziel es ist, der EPA und anderen Behörden die Fähigkeit zu nehmen, effektiven Gesundheits- und Umweltschutz durchzusetzen."

Der Hinweis des SCOTUS auf den Parlamentsvorbehalt ist also im besten Falle zynisch und im schlimmsten Falle politisch motiviert, muss doch die seit Jahren andauernde legislative Paralyse auch zu den höchsten US-amerikanischen Richter*innen durchgedrungen sein. Eines der wichtigsten Gerichte der Welt hat die Verantwortung für die weitreichendste Krise der menschlichen Geschichte gerade einem Gremium in die Hand gedrückt, das zur Hälfte aus Menschen besteht, die es nicht einmal fertig bringen, das Ergebnis einer fairen Wahl anzuerkennen.

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