Kommentar

Humanistische "Seelsorge"? Nein Danke.

Religionsgemeinschaften bieten Seelsorge in verschiedenen gesellschaftlichen Bereichen an. Humanistische Organisationen diskutieren darüber, inwieweit analog zur religiösen Seelsorge in diesen Bereichen auch eine nicht-religiöse, humanistische Lebensberatung angeboten werden sollte – und wie man diese nennen soll. Thomas Heinrichs plädiert dafür, eine solche humanistische Lebensberatung keinesfalls "Seelsorge" zu nennen.

Eine soziale, von einem humanistischen Ethos getragene Tätigkeit ist ein wesentlicher Schwerpunkt des zivilgesellschaftlichen Engagements der humanistischen Verbände. Diese Tätigkeit entfalten die Verbände unter anderem im Bereich der Kindererziehung, der Jugendarbeit, der Alten- und Armenhilfe, der Konfliktberatung oder der Begleitung Kranker, Sterbender und Trauernder, um nur die wichtigsten Felder zu nennen. Die Verbände nutzen dabei zumeist ihre Stellung als den Religionen gleichgestellte profane Weltanschauungsgemeinschaften, um für diese sozialen Tätigkeiten, die auch von den Religionen ausgeübt werden, staatliche Fördergelder zu erhalten. Das ist sinnvoll.

Zu den Bereichen, in denen der Staat die Religionen fördert, gehört auch die sogenannte "Anstaltsseelsorge". Dabei handelt es sich um einen in Artikel 141 der Weimarer Reichsverfassung geregelten Bereich aufsuchender Seelsorge, der durch Artikel 140 GG ins Grundgesetz übernommen wurde. Inzwischen werden neben den christlichen Kirchen auch die Juden und Muslime hierbei berücksichtigt und finanziell gefördert.

Für die humanistischen Verbände stellt sich die Frage, ob sie auch hier tätig sein wollen und wenn man dies bejaht, wie man die eigene Tätigkeit in diesem Bereich benennt. Können humanistische Weltanschauungsverbände "Seelsorge" betreiben?

Artikel 141 WRV benennt die Seelsorge im Heer, in Krankenanstalten, Strafanstalten und sonstigen öffentlichen Anstalten (z. B. kasernierte Polizei). Da die Insassen solcher Anstalten diese nicht einfach so verlassen können, garantiert Artikel 141 WRV, dass die Religionsgemeinschaften ein Zugangsrecht haben, um dort ihre Mitglieder betreuen zu können. Dieses Recht haben über den allgemeinen Gleichstellungsgrundsatz aus Artikel 137, Absatz 7 WRV auch die Weltanschauungsgemeinschaften.

Dass die humanistischen Verbände eine solche Betreuungsmöglichkeit für konfessionsfreie humanistisch orientierte Bürger anbieten sollten, ist für Krankenhäuser und Strafanstalten unstrittig. Hinsichtlich der Betreuung von Soldaten ist strittig, in welcher Form dies geschehen sollte, ob man dazu wie im bestehenden System der Soldatenseelsorge angestellte Betreuer in der Bundeswehr möchte oder lieber eine externe Beratung durch eigene, nicht in die Bundeswehr integrierte Berater durchführt. Um diese Frage soll es hier jedoch nicht gehen (vgl. dazu den Artikel des Autors beim hpd: "Der HVD in der Bundeswehr?").

Im folgenden geht es um die Frage, wie man diese – einmal möglichst neutral formuliert – "humanistischen Lebensberater" und ihre Tätigkeit nennt. Hierzu wird von Einigen in den Verbänden die Position vertreten, diese humanistischen Lebensberater als "humanistische Seelsorger" zu bezeichnen und ihre Tätigkeit entsprechend als "humanistische Seelsorge".

Um beurteilen zu können, ob dies aus einer weltanschaulichen Perspektive ein sinnvoller Name für eine solche Tätigkeit sein kann, muss man klären, was der Begriff der "Seele" bedeutet, was heute die Tätigkeit der "Seelsorge" ist und generell muss man wissen, auf welchem sozialen Feld man sich mit einer solchen Tätigkeit heute bewegt.

Eine kurze Geschichte des Seelenbegriffs

"Seele" ist ein sehr alter Begriff. In unserem Kulturraum kommt er aus dem Griechischen. "Psychein" ist der Hauch. Die Seele ist der Hauch, der den Körper im Moment des Todes durch den Mund oder Wunden verlässt. Seele ist damit ein Begriff, der eine Wissenslücke füllt. Vor Entstehung der modernen Naturwissenschaften wussten die Menschen nicht, wie das Leben funktioniert. Offensichtlich besteht aber ein grundlegender Unterschied zwischen belebter und unbelebter Materie. Diesen Unterschied füllte man mit dem Konzept der Seele. Die Seele ist daher so etwas wie das Lebensprinzip, das, was aus unbelebter Materie belebte Materie macht und das, was verloren geht, wenn aus belebter Materie wieder unbelebte Materie wird. Leben ist beseelt. In dieser Bedeutung finden wir den Seelenbegriff in der Philosophie und in der christlichen Theologie bis in die Neuzeit. Schon im alten Testament steht: "Da machte Gott der HERR den Menschen aus Staub von der Erde und blies ihm den Odem des Lebens in seine Nase. Und so ward der Mensch ein lebendiges Wesen" (Genesis 2,7, Übersetzung Lutherbibel 2017).

Ob die Seele dabei materiell oder immateriell sei, ob sie sterblich oder unsterblich sei, an die Person gebunden oder nicht, darüber wurde in der Geschichte der Philosophie und Theologie vielfach gestritten. Selbst in der christlichen Theologie gab es Positionen, die von einer körperlichen und sterblichen Seele ausgingen. Darauf kommt es aber nicht an. Der Begriff der Seele war ein Platzhalter für das mangelnde Wissen über das Leben.

Damit hatte der Seelenbegriff die gleiche Funktion wie etwa die Begriffe des "Phlogiston" und des "Äthers". Auch diese Begriffe füllten eine Wissenslücke, die vor der Entstehung der Naturwissenschaften bestand. Das "Phlogiston" war der "Brennstoff", der nach damaliger Annahme bei jedem Verbrennungsvorgang den Substanzen hinzugefügt wurde, um den Verbrennungsprozess zu bewirken. Mit der Entwicklung der Chemie und der Kenntnisse der Oxidation gab es für diese Hilfskonstruktion keinen Bedarf mehr. Als die Kenntnisse über das Sonnensystem und den Weltraum zunahmen, konnte man sich nicht vorstellen, dass es einen leeren Raum geben könnte. Also nahm man an, zwischen den Sternen und Planeten befinde sich der "Äther", der den interstellaren Raum fülle. Auch diese Hilfsthese wurde mit der Weiterentwicklung der modernen Physik überflüssig.

Genau so ist es auch mit der Seele. Mit der Entwicklung der Biologie begann man ab Mitte des 19. Jahrhunderts zu verstehen, wie Leben funktioniert. Für den Begriff der Seele gab es daher keinen Bedarf mehr. Er wurde daher auch in der Philosophie und den Wissenschaften aufgegeben. Seine Bedeutung begann sich zunächst hin zum "Ich", "Ich-Bewusstsein", "Willen" zu verschieben. Letztlich ersetzten diese Begriffe dann den Begriff der Seele.

An die Stelle der metaphysischen Seelenvorstellung trat ab der Mitte des 19. Jahrhunderts die wissenschaftliche Psychologie. Albert Friedrich Lange forderte in seiner "Geschichte des Materialismus" (1866), in der er die philosophischen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen der letzten Zeit darstellt, eine "Psychologie ohne Seele" (Kapitel: "Die naturwissenschaftliche Psychologie").

Seit Mitte des 19. Jahrhunderts ist Seele damit nur noch ein religiöser Begriff. An die Stelle des Seelenbegriffes trat in der modernen Philosophie und Psychologie der Begriff des Ichs – auch der Person, des Selbst, des Bewusstseins, des Subjekts. Die "Psychologie wurde die Wissenschaft vom Erleben und Verhalten des Menschen" (Werner Stangl, 2022, Seele. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik; Abruf 03.07.22). In vielen psychologischen Lexika findet sich der Begriff Seele nicht.

Natürlich geht ein solcher Vorgang nicht geradlinig von statten. Neben modernen Begriffen und wissenschaftlichen Ansätzen findet man lange immer noch Reste vorwissenschaftlicher und religiöser Vorstellungen, insbesondere auch bei Freud. Mit ihm entsteht zum ersten Mal eine wissenschaftlich geprägte Praxis des therapeutischen Umgangs mit psychischen Problemen. Für seine theoretische Begrifflichkeit greift Freud aber teilweise noch auf das alte theologisch geprägte Seelenkonzept zurück: "An seinen Briefpartner Graddeck schrieb Freud: 'Es scheint mir ebenso mutwillig, die Natur durchwegs zu beseelen, wie sie radikal zu entgeistern. Lassen wir ihr jedoch ihre großartige Mannigfaltigkeit, die vom Unbelebten zum organischen Belebten, vom Körperlichlebenden zum Seelischen aufsteigt.'" – "In Freuds 'Modell der Seele' fließen spätromantische Traditionen ein, es finden sich Gedanken der 'romantischen Medizin', die er mit größter Selbstverständlichkeit mit naturwissenschaftlichen Erkenntnissen verbindet" (Hartmann Hinterhuber, Freud und sein Seelenapparat, in: Die Seele. Springer, Wien, 2001, S. 141–145, hier S. 142; Abruf 03.07.22).

Heutige Verwendung nur noch im religiösen Bereich

In der Religion blieb der Seelenbegriff erhalten. Dies liegt daran, dass der Seelenbegriff in der Religion mit dem Gottesbegriff untrennbar verknüpft ist. Gott schuf nach dem religiösen Weltbild den Menschen und hauchte ihm seinen göttlichen Odem ein: die Seele. Zwar hat sich die christliche Religion im Prozess ihrer Säkularisierung vom göttlichen Schöpfungsmythos verabschiedet, weil auch diese Hilfskonstruktion nach der Entwicklung der Evolutionsbiologie nicht länger haltbar war, vom Seelenbegriff konnte und kann sich die christliche Theologie aber nicht verabschieden, da die Seele die Verknüpfung zwischen Gott und Mensch garantiert und damit das Unsterbliche am Menschen sein soll. "Die Unterscheidung v. Leib u. S." ist "theologisch unaufgebbar" (Gisbert Greshake, Stichwort Seele, VI Systematisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/Basel/Wien 2009, Bd. 9, Sp. 378f, hier Sp. 378). "Seele" ist daher seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts ein religiöser Begriff geworden: "Dabei bildet die Annahme, mentale Zustände könnten über den Tod hinaus Bestand haben, das Zentrum des Seelenbegriffs" (Werner Stangl, 2022, Seele. Online Lexikon für Psychologie und Pädagogik; Abruf 03.07.22).

Wie immer im Prozess der Säkularisierung greifen die Religionen ab dem 19. Jahrhundert nun die modernen Entwicklungen auf und versuchen diese in ihre theologischen Konzepte zu integrieren, um anschlussfähig zu bleiben. Dies trifft auch auf den religiösen Seelenbegriff zu. Die christliche Theologie entwickelt einen neuen Seelenbegriff, der im Gegensatz zu der Tradition vor dem 20. Jahrhundert nun erstmals in Aufnahme der modernen säkularen Entwicklungen auf die "Sinnbezogenheit, Innerlichkeit u. Intentionalität der menschlichen Person" abstellt. Dieser Seelenbegriff wird im Kontext des "therapeut. Paradigma einer heilenden Seelsorge entwickelt" (Laurtentius Koch, Stichwort Seele, VII Praktisch-theologisch, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/Basel/Wien 2009, Bd. 9, Sp. 379f, hier Sp. 379).

Der aktuelle theologische Seelenbegriff entwickelt sich im Kontext einer Reform des Seelsorgekonzepts, die ihren Ausgang in der Mitte des 20. Jahrhunderts hatte. Heute wird religiöse Seelsorge als "Gesprächsseelsorge" betrieben, bei der es um die zwischenmenschlichen Beziehungen geht, und als heilende, therapeutische Seelsorge, "die den einzelnen im Horizont der Liebe Gottes unter Einbeziehung psychol. Kompetenz zu vertiefter Selbstakzeptanz verhelfen u. seine Gemeinschaftsfähigkeit stärken möchte" (Phillip Müller, Stichwort Seelsorge, I Begriff und Formen, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/Basel/Wien 2009, Bd. 9, Sp. 383f, hier Sp. 383). Ganz bewusst werden moderne psychologische und soziologische Kenntnisse und Praktiken einbezogen. Aktuelle Seelsorge ist zu einem erheblichen Teil eine religiös angereicherte Gesprächs- beziehungsweise Psychotherapie.

Diese Anreicherung führt jedoch zu einem Qualitätsverlust. Moderne Gesprächs- und Psychotherapien lassen sich nicht einfach mit religiösen Elementen verbinden. Zu Konzepten, die von der Autonomie des Menschen ausgehen, lässt sich die Abhängigkeit von einer nicht diesseitigen Instanz nicht reibungslos hinzufügen. Entweder muss ich mit mir und meinen Mitmenschen selber klarkommen oder ich muss mich gegenüber einer göttlichen Instanz positionieren. Beides ist jeweils ein anderes Konzept vom Menschsein. Je nachdem, von welchem Konzept ich ausgehe, habe ich einen grundsätzlich anderen Ansatz im Umgang mit sozialen und psychischen Problemen.

Dieser Qualitätsverlust gegenüber professionellen Therapie- und Beratungskonzepten zeigt sich auch an der Art der praktizierten religiösen Seelsorgeausbildung. Sie ist "learning by doing" (Karl Frielingsdorf, Stichwort Seelsorgeausbildung, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Freiburg/Basel/Wien 2009, Bd. 9, Sp. 388f, hier Sp. 388).