Interview

"Kultur ist mehr als Differenz"

Gruppen-Identitäten beherrschen derzeit viele politische Debatten. Der Ethnologe Christoph Antweiler lenkt in seinem Buch "Heimat Mensch" den Blick auf die zahlreichen fundamentalen Gemeinsamkeiten, die alle Menschen miteinander teilen. Der hpd sprach mit ihm über Vielfalt und Gleichheit, Identitätspolitik und Universalismus.

hpd: Als Ethnologe waren Sie oft und auch länger in Indonesien und beschreiben in Ihrem Buch ja auch die kulturellen Unterschiede. Welche Beobachtungen stützen denn Ihre These, dass in der Menschheit die Gemeinsamkeiten die Unterschiede aufwiegen?

Christoph Antweiler: Ja, es gibt tatsächlich viele Unterschiede zwischen und auch innerhalb der Kulturen. Aber es gibt eben auch viele empirisch nachweisbare Gemeinsamkeiten, etwa die hohe kulturelle Bedeutung des Essens für kollektive Identität, überall vorkommende Grußrituale, Ethnozentrismus und weltweit ähnliche Konzepte zur Behandlung von Gästen. Diese Gemeinsamkeiten stellen die vielen Unterschiede gar nicht in Frage: Universalien sind bildlich gesprochen Muster im Meer der Vielfalt.

Erstrecken sich die Gemeinsamkeiten auf alle Bereiche menschlichen Lebens oder gibt es Felder, in denen die Ähnlichkeiten stärker ausgeprägt sind als in anderen?

Wir können dazu Gemeinsamkeiten sämtlicher gesunder Personen und Gemeinsamkeiten aller menschlichen Kollektive unterscheiden. Da gibt es stärkere Fälle bei Ähnlichkeiten aller Menschen, zum Beispiel ähnliche körperliche Bedürfnisse, ähnliche Erfahrungen körperlichen Leidens (die Folterer nur zu gut kennen) und ein Bedürfnis nach Anerkennung durch andere Menschen. Dazu gebe ich in meinem Buch viele Beispiele.

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Nehmen wir mal ein aktuelles Thema: Gewalt und Krieg. Hier gehen die Positionen ja innerhalb einer Gesellschaft schon stark auseinander und Gewalt wird je nach kultureller Tradition durchaus unterschiedlich bewertet. Wo können wir hier das Gemeinsame finden?

Als vergleichende Ethnologen finden wir eine weltweit verbreitete Ächtung und Meidung von Gewalt. Ja, das mag Sie verwundern. Aber eine Ethnologin vom Mars wäre sicherlich erstaunt, wie friedlich die meisten Beziehungen zwischen den derzeit immerhin acht Milliarden Menschen und zwischen den über 200 Staaten insgesamt sind. Was allerdings selten ist, sind Gesellschaften, deren Politik und Erziehung voll auf Gewaltmeidung ausgerichtet ist, wie etwa bei den Semai im Regenwald Malaysias. Das sind zumeist ganz kleine Minderheitsgruppen und es sind allenfalls knapp 100 von den etwa 7.000 Kulturen. Dagegen gibt es einige wenige Kulturen, die im Kontext einer über Generationen erfahrenen Konfliktgeschichte Gewalt als positiven Wert etwa in der Erziehung von jungen Männern fördern.

Mit der Grundthese Ihres Buches liegen Sie ziemlich quer zu den Vorstellungen, aufgrund derer momentan Identitätspolitik betrieben wird...

Ja, genau. Aber ich bin keineswegs gegen jegliche Identitätspolitik. Identität ist sowohl für Individuen als auch für Gruppen wichtig. Für bislang benachteiligte Gruppen kann sie hilfreich sein, Anerkennung zu finden. Schädlich ist aber die gegenwärtige Fokussierung auf Identität. Diese Fixierung führt dazu, dass Menschen und Gruppen auf wenige Merkmale reduziert werden. Das beobachte ich mit Sorge in den Feldern der Cancel Culture, der sogenannten kulturellen Aneignung und Dekolonialisierung. Diese Reduktion auf kulturelle Besonderheit rückt politische Fragen wie etwa wirtschaftliche Ungleichheit in den Hintergrund. Extreme Identitätspolitik führt häufig zu einem neuen, nur softer erscheinenden Rassismus. Die "Identitäter" kommen zumeist nicht aus der normalen Bevölkerung und es sind auch nicht etwa nur Mitglieder anderer Gruppen. Die führenden Identitäter sind für gewöhnlich die eigenen Eliten und externe Unterstützer.

Lassen sich aus Ihren Ergebnissen direkte politische Forderungen ableiten?

Ja, aber ich selbst würde keine direkten Forderungen ableiten, denn altmodischerweise denke ich, dass Wissenschaftler als Wissenschaftler keine Politik machen sollten. Als Personen und Bürger selbstverständlich doch. Meine persönliche Folgerung wäre die: Lasst uns die Kulturalisierung und die zunehmende Versäulung quer durch die Gesellschaft runter dimmen. Kultur ist mehr als Differenz – und das sage ich als Ethnologe! Dafür sollten wir die Ebenen der Individuen darunter und die Ebene der Menschheit darüber viel stärker betonen. Das gilt auch makropolitisch: Angesichts des Anthropozäns ist die Menschheit – trotz aller Fraktionierung und Ungleichheit – eine Interessensgemeinschaft, weil es planetar gesehen kurz nach zwölf ist. Das, was Martin Luther King in seiner Antivietnamkriegsrede 1967 sagte, gilt jetzt für unsere Lebensbasis: Unsere Zukunft ist heute.

Verstärkt der Kapitalismus eigentlich eher identitäre Tendenzen oder universalistische? Oder kratzt der nur an der Oberfläche?

Zur langfristigen Entwicklung kann ich nur spekulieren. Heute ist die identitäre Tendenz selbst leider eine universale, wenn auch nicht inhaltlich. Derzeit verstärkt der Kapitalismus durch Technologie und Wirtschaft universalistische Tendenzen, wie etwa den weltweiten Konsumismus, die Plastifizierung und die allgegenwärtige Selfiemania. Aber er fördert auch etwa globale ethische Standards. Andererseits ermöglicht das Internet extrem vielfältige Möglichkeiten der Entwicklung von individuellen und kollektiven Besonderheiten. Dazu kommt, dass die kapitalistische Wirtschaft das Sehnen nach Besonderheit, Unterscheidung, Heimat, Nostalgie und "dem Anderen" geschickt nutzt. Beispiele sind Exotik-Tourismus, Ethnomarketing und Themenparks. In Deutschland etwa gilt: keine Sauna ohne Buddha.

Eine Sache ist mir bei der Lektüre noch aufgefallen: In Ihrem Buch findet sich auch eine Liste der "universellen" Wörter, also der Wörter, die in jeder Sprache vorkommen. Dafür, dass Menschen so viel gemeinsam haben, ist die erstaunlich kurz. Warum eigentlich?

Nur eine Vermutung: vielleicht deshalb, weil auch wichtige Dinge des Lebens oft in metaphorischen Wendungen ausgedrückt werden. Diese universellen Wörter zeigen aber weltweit für Menschen wichtige und quer durch die Kulturen für wichtig gehaltene Themen. Es ist das, was ich im Buch mit "Heimat Mensch" meine, nämlich, dass wir als Personen in den Gemeinsamkeiten der Menschheit quasi eine geteilte Heimat sehen können oder zumindest könnten.

Ich danke für das Gespräch.

Ganz meinerseits. Ihnen, Herr Bauer, danke ich für die anregenden Fragen!

Christoph Antweiler: Heimat Mensch. Eine populäre Ethnologie. Alibri, 2022. 315 Seiten, Abbildungen, kartoniert, 20 Euro, ISBN 978-3-86569-359-4

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