Am 17. Januar erschien für den Sender ProSieben ein Beitrag des reichweitenstarken Wissensmagazins "Galileo". Behandelt wurde in etwas mehr als 13 Minuten angeblich die Frage nach der Wirksamkeit von sogenannter Alternativmedizin, also ob es sich dabei um "Hokuspokus" handele. Jedoch wirkte der Versuchsaufbau nicht über den Clickbait-Effekt hinaus und könnte Spuren von Schleichwerbung enthalten.
Überhaupt erinnerte die Aufmachung in Skript, Interviews und Grafiken zusammen stark an das berühmte Milgram-Experiment. So lud schon der Video-Titel Rezipient*innen dazu ein, sich ganz nach besagtem Experiment zu testen, inwieweit sie den Worten der im Clip interviewten "Autoritäten" (gemeint sind die Alternativmediziner*innen) unkritisch glauben schenken wollten, bis sie gar bereit sind, sich selbst oder anderen aus Naivität Schaden zuzufügen. Zwar war man seitens der "Galileo"-Redaktion im Beitrag bemüht, etwaige Risiken zu umgehen, doch gelang es dem Reporter nicht immer, kritisch genug Fragen zu stellen. Die Einspieler und Kommentierung aus dem Off tragen zum Totalversagen im Endprodukt auch noch zusätzlich bei – Stichwort: Heilversprechen.
Gehen wir die fragwürdigen, undifferenzierten Passagen doch chronologisch einmal durch:
- Heilpraktiker*innen seien "wie Ärzte" – eher Doktorspiele als Beruf… mit viel Fantasie.
- Irisanalyse nach Jangerer solle evidenzbasierte Diagnostik ergänzen – NEIN.
- Heilpraktik sei "Säule des Gesundheitssystems" – *hust* Politisches Versagen. #Reformbedarf
- Kirlian-Diagnostik: Fotos von Füßen sollen die "Aura" (?!) von Menschen darstellen. #Fußfetisch
- Heilpraktiker*innen hätten ganz viel sogenannte selbsternannte "Erfahrungsmedizin" – Was soll das sein? Von klein auf Aderlass an Tieren vornehmen? So viel Autodidaktik und Talent ist selten.
- Osteopathie: Wenn Grabschen wirksamer als eine professionelle Massage sein soll. #Placebo
- Schröpfen: Hot-Stone-Massage auf Wish bestellt. Könnte funktionieren, nur nicht metaphysisch.
- Gua Sha & Moxibustion: Keine Studien, wirke trotzdem – (un-)gesundes Selbstvertrauen. Ohne Daten ist eine Wirkung unbewiesen, "Herr Doktor". Note 6! Setzen. Nochmal studieren.
- "Wollt ihr die totale Immunreaktion?" – "JAAAA!" ... Goebbels kichert im Grab, Milgram wütet.
- Nein, die WHO erkennt NUR jene chinesische Naturheilkunde an, die evident erforscht ist!!
- Meridiane und Qi: Hier wagt Galileo doch tatsächlich das unter Umständen sogar strafbare Heilversprechen.
- Blutegel: Wird nicht erklärt, nur angewendet mit dem Hinweis: Könnte vielleicht helfen. Vage.
- Evidenzbasierte Naturheilkunde sei gleichwertig zu experimentellen und esoterischen Therapien – NEIN! Ohne Daten liegen auch keine Ergebnisse vor. Keine Heilung ohne Beweis.
- Wenn "Schulmedizin" an Grenzen stoße wirke Esoterik ergänzend – sprecht lieber mit Ärzt*innen.
Auch wenn die Reportage aufklärend gemeint war und kritisch-bildend hinterfragen wollte: Spätestens das Fazit (14.) ist problematisch undifferenziert und mindestens wissenschaftsfeindlich.
Wenn Forschung noch nötig ist, so mag es sicherlich förderlich sein, dass an der ein oder anderen Stelle für die Erstellung von Studien geworben wird. Doch unternimmt Galileos Personal nicht weiter den Versuch, überhaupt wissenschaftlich, also auf Datengrundlage zu argumentieren, geschweige denn aufzuklären. Galileo fiel auch in der Vergangenheit schon mit fragwürdigen Beiträgen auf, doch das Maß an Naivität, Inkompetenz oder wenig subtiler Werblichkeit – was auch immer der Beweggrund gewesen sein mag –, das mit "Hokuspokus oder alternative Medizin? Wir checken Globuli & Selbstheilungskräfte" an den Tag gelegt wird, ist erschreckend. Mit derartiger journalistischer Sorgfalt bleibt wenig vom Anspruch als "Wissensmagazin" übrig. Beiträge dieser und vergleichbarer wissenschaftlicher beziehungsweise journalistischer Qualität SCHADEN sowohl dem Sender, dem Format, dem Personal, der Wissenschaft als solcher als auch den Zuschauer*innen – im schlimmsten Fall sogar im medizinischen Sinne. Wenn Menschen Galileo wirklich vertrauen und glauben schenken, dann kann die "Erkenntnis", Esoterik sei Ergänzung zu BEWIESENERMASSEN wirksamer Medizin, nur eine wirklich gefährliche Lose-Lose-Situation für alle sein, es sei denn, sie verkaufen Globuli, Handauflegen oder Fuß-Fotos.
So bitte nicht
Experimente sind wichtig. Unter entsprechend angemessenen Sicherheitsmaßnahmen und geschulter Aufsicht nach wissenschaftlichen Standards. Auch ethischen Standards. Ohne stichhaltige Daten bleibt jede Aussage nur Behauptung, vage Vermutung oder rein subjektive Meinung. Es ist erschreckend, wie unreflektiert und unkritisch Aussagen von Heilpraktiker und studiertem Arzt oder Heilversprechen dubioser Gurus aufgenommen und unkommentiert ausgestrahlt werden. Leider endet der Versuch, die Alternativmedizin zu hinterfragen, selbst in Stichwortgeberei für die rhetorisch trainierten und medizinisch unfähigen Personen, die ihre Produkte und Prozesse dadurch bewerben dürfen.
Globuli selbst sind – wohl weise – aus dem Beitrag verschwunden. Zu riskant? – Ja, das ist eine VERMUTUNG. Steht trotzdem im Titel (#Clickbait). Ein Einspieler erwähnt in der Grafik dann doch die Homöopathie und erklärt juristisch sicher den Placebo-Effekt. Danke. Weitere Einordnungen beziehungsweise eine erneute Erwähnung des Placebo-Effekts fehlen später in der Video-Reportage wieder. So bitte nicht.
Es bleibt zu hoffen, dass Content für ProSieben, der sich positiv über Esoterik äußert, keine Anbiederung an das entsprechende Milieu darstellt und auch sonst keine strategisch vom Sender beabsichtige Positionierung in Hinsicht auf die politische Zielgruppe ist. So grün (im parteipolitischen Sinne) sich ProSieben auch gibt, um eine relevante Nische in der Programmlandschaft zu bedienen, so wenig kann eben diese Unternehmung wollen, dass ihr Wissensmagazin das Stigma der Unsachlichkeit erfährt oder gar die falschen gesellschaftlichen Strömungen bedient. Die Pandemie hat genug Menschen in die Hände rechtsextremistischer, post-christlich konservativer und verschwörungsideologischer Kräfte gelegt.
Das Letzte, was ProSieben wollen kann, ist also eine "Social Corporate Responsibility" im Sinne von QAnon, Reichsbürger und pro-russischer Putinverehrer oder gar eine Strafanzeige wegen Irreführung und falscher Heilversprechen. Dieser Artikel soll dementsprechend nur den Schwurbelnden Salz in die Wunde streuen und von der Geschäftsführung der Firma ProSiebenSat1 hoffentlich als Hinweis wahrgenommen werden, Pseudomedizin nicht zu sehr anzuhimmeln – in ihrem ganz eigenen (wirtschaftlichen) Interesse. Sollte Galileo die eigene Verantwortung, den Bildungsauftrag, würdigen, so wäre es sicherlich erfreulich, künftig Besserung signifikant feststellen zu können. Was den einzelnen Beitrag betrifft, wie auch die gesamte journalistische Sorgfalt in gesellschaftlichem Auftrag.
Falls es sich bei der Reportage um ein groß angelegtes Milgram-Experiment handelte: Chapau.
Wo bleibt die Auflösung?
Die Antwort zum Video-Titel bleibt Galileo den eigenen Zuschauer*innen jedenfalls schuldig.
So bleibt dem Beitrag nur der bittere Beigeschmack des billigen Clickbait.
3 Kommentare
Kommentare
G.B. am Permanenter Link
Scharlatane wohin man schaut, ob in "Praxen", in Kirchen, oder im Parlament.
Hohle Phrasen und Geldgier, ein Klüngel von faulen Scharlatanen.
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Die Crux: Galileo als sogenanntes "Wissenschaftsmagazin" verabschiedet sich hier en Detail und auch komplett systemisch vom Wissenschaftsbegriff.
Kein Wort dazu, was Wissenschaft ist, nicht ist und welche Übereinkünfte heutzutage dazu bestehen, was gültige Erkenntnis ist und welche Grundlagen sie hat. Statt dessen wird das Vertrauen in "Erfahrungsmedizin" (die es natürlich nach wie vor gibt, aber unter der Prämisse des absoluten Vorrangs der Evidenzbasierung), der fatalste Irrtum in der Allgemeinheit überhaupt, auch noch geschürt.
Wissensmagazin? Galileo hat schon manchen Beitrag hart an der Grenze gebracht, aber hier geht es um die Gesundheit von Menschen, um Gesundheitskompetenz und informierte Eigenverantwortung. In solcher Weise wie mit dieser Sendung dem entgegenzuarbeiten, ist in meinen Augen ein veritabler Skandal.
Sascha Larch am Permanenter Link
Galileo war meiner Meinung nach noch nie ein Wissenschaftsmagazin.
Im Sommer werden regelmäßig die neuesten Grill-Gadgets getestet und ähnliches...