Mit dem Fall "303 Creative LLC v. Elenis" hat der Supreme Court of the United States (SCOTUS) kurz vor der Sommerpause noch einmal für entsetztes Staunen gesorgt. Angehörige sogenannter "expressiver Berufe" – wen genau das umfasst ließ der SCOTUS unglücklicherweise unbezeichnet – dürfen künftig offen Menschen diskriminieren, deren Lebensweise ihren eigenen religiösen Überzeugungen widerspricht. Fehlgeleiteter hätte dieses Urteil kaum sein können: Ein Kommentar.
Die aktuelle Sitzungsperiode des US-amerikanischen Verfassungsgerichts ist, so viel ist sicher, ein Fall für die Geschichtsbücher. Nicht etwa, weil sie derart dröge war, dass wir sie in irgendeine staubige Ecke unseres kollektiven Gedächtnisses verbannen können, sondern weil die Entscheidungen des SCOTUS derart inkongruent mit einem Großteil der US-amerikanischen Rechtsgeschichte seit dem Zweiten Weltkrieg sind, dass die US-Bevölkerung ihre negativen Auswirkungen wohl noch in Jahrzehnten spüren wird.
Ende Juni entschied der SCOTUS einen dieser Fälle mit einer Tragweite, die kaum zu überschätzen ist. In "303 Creative LLC v. Elenis" urteilte das Gericht, dass Lorie Smith – eine christliche Webdesignerin, die präventiv dagegen klagte, Hochzeitswebsites für gleichgeschlechtliche Paare erstellen zu müssen – ihre Dienstleistungen homosexuellen Heiratswilligen offen verweigern darf. In den Worten der Verfasserin der Gegenposition, Richterin Sonia Sotomayor: "Das [klagende] Unternehmen argumentiert, und eine Mehrheit des Gerichts stimmt dem zu, dass die Redefreiheitsklausel des Ersten Verfassungszusatzes besagtes Unternehmen vor einem allgemein geltenden Gesetz schützt, das Diskriminierung beim Verkauf von öffentlich zugänglichen Waren und Dienstleistungen verbietet, weil das Unternehmen Dienstleistungen anbietet, die individuell und expressiv sind. Das ist falsch. Völlig falsch."
Man muss nun einen Schritt zurücktreten, um zu verstehen, was hier vor sich geht. Die meisten Menschen würden nämlich bereits jetzt intervenieren und einwerfen: "Diese Frau ist aber doch selbstständige Webdesignerin. Sie kann jeden Auftrag ohne Angabe von Gründen ablehnen. Warum sollte sie ein Recht einklagen, das sie längst hat?" Und diese Frage ist mehr als berechtigt – wir können sie nur verstehen, wenn wir das aktuelle politische Klima in den USA verstehen.
Selbstverständlich hat Frau Smith bereits jetzt das Recht, jeden Auftrag grund- und kommentarlos abzulehnen. Vertragsfreiheit wird gerade in den USA mit einem sehr, sehr großen V geschrieben. Was Frau Smith allerdings unter Colorados Antidiskriminierungsgesetz nicht hat, ist das Recht, ihre potentielle Kundschaft wissen zu lassen, dass sie sie abweist, weil sie homosexuell ist. Warum Frau Smith also diesen Rechtsstreit führt? Weil, in den Worten ihrer Klageschrift, "Gott mich ruft, für meinen Glauben einzutreten und seine wahre Botschaft über die Ehe zu verbreiten". Eben dieses Recht hat ihr der SCOTUS nun zugesprochen. Frau Smith, und alle anderen Angehörigen sogenannter "expressiver Berufe", dürfen künftig öffentlich sagen: "Dieses Haus bedient keine Homosexuellen."
Und als wäre es für eine offene, pluralistische Gesellschaft nicht schon Gift genug, Menschen das Recht zuzusprechen, andere aufgrund der eigenen Religion offen und ungeniert diskriminieren zu dürfen, ist die Entscheidung auch noch ein eklatanter Bruch mit der jüngeren Rechtsgeschichte.
So schreibt Richterin Sonia Sotomayor gleich zu Beginn ihrer Gegenposition: "Vor fünf Jahren erkannte dieses Gericht die 'allgemeine Regel' an, dass religiöse und philosophische Einwände gegen die gleichgeschlechtliche Ehe 'es Geschäftsinhaber*innen und anderen Akteur*innen in der Wirtschaft und der Gesellschaft nicht erlauben, geschützten Personen den gleichberechtigten Zugang zu Waren und Dienstleistungen im Rahmen eines neutralen und allgemein anwendbaren Gesetzes über öffentliche Unterkünfte zu verweigern'. […] Heute gewährt der Gerichtshof zum ersten Mal in seiner Geschichte einem für die Öffentlichkeit zugänglichen Unternehmen das verfassungsmäßige Recht, sich zu weigern, Mitglieder einer geschützten Gruppe zu bedienen. […] Das Gericht stellt außerdem fest, dass das Unternehmen das Recht hat, einen Hinweis anzubringen, der besagt, dass 'keine [Hochzeits-Websites] verkauft werden, wenn sie für gleichgeschlechtliche Ehen verwendet werden'."
Der essentielle Punkt von Antidiskriminierungsgesetzen, so Sotomayor weiter, sei die Verhinderung der durch die explizite Abweisung entstehenden Entwürdigung. Die Richterin illustriert dies mit dem Beispiel eines Bestattungsunternehmens: "Stellen Sie sich vor, ein Bestattungsunternehmen im ländlichen Mississippi erklärt sich bereit, die Leiche eines verstorbenen älteren Mannes zu überführen, einzuäschern und eine Gedenkfeier auszurichten. Als das Unternehmen erfährt, dass der überlebende Ehepartner des Mannes ebenfalls ein Mann ist, weigert es sich jedoch, weiter mit der Familie zu sprechen. Die trauernde, isolierte und gedemütigte Familie sucht verzweifelt nach einem anderen Bestattungsunternehmen, das den Leichnam aufnimmt. […] Diese Ausgrenzung, dieses Anderssein, ist eines der bedrückendsten Gefühle, das unsere soziale Spezies empfinden kann."
Abschließend ist anzumerken, dass dieses Urteil unweigerlich eine Flut an ähnlichen Fällen nach sich ziehen wird. Da es der SCOTUS nämlich versäumt hat, die Tragweite der Entscheidung entweder auf Webdesigner*innen zu begrenzen oder aber zu erklären, welche Berufe als "expressiv" gelten, werden sich die US-amerikanischen Gerichte in den kommenden Jahren damit befassen müssen, ob Konditoreien, Tattoostudios, Architekturbüros und Unternehmen, die Maßanzüge herstellen, nicht auch "expressiv" sind. Geschäftsbereiche, die dieses Label erringen, dürfen dann nach Herzenslust diskriminieren und dies sogar auf Schildern und Website-Bannern in die Welt hinausschreien. "Wenn 303 Creative diesen Fall gewinnt", warnte David Cole, juristischer Direktor der American Civil Liberties Union, "darf jedes Geschäft, das als 'expressiv' gilt, Schilder aufstellen, auf denen steht, dass keine jüdischen, christlichen oder Schwarzen Menschen bedient werden."
Und tatsächlich liegen bereits Berichte vor, denen zufolge eine Haarstylistin aus Michigan öffentlich ankündigte, ihre Dienstleistungen künftig trans und queeren Menschen zu verweigern. Diese sollten "zu einer Haustierstylistin gehen", zitiert das Nachrichtenmagazin HuffPost verschiedene Social Media-Beiträge der Unternehmerin. Da ein 1977 verabschiedetes und kürzlich ergänztes Antidiskriminierungsgesetz des Bundesstaats Michigan derartiges Geschäftsgebaren aber verbietet, scheint es mehr als denkbar, dass die Stylistin die hier diskutierte Entscheidung des SCOTUS und ihre eigenen religiösen Überzeugungen heranziehen wird, um die öffentliche, präventive Ablehnung einer bestimmten Gruppe von Menschen zu rechtfertigen.
Wie man es auch dreht und wendet: "303 Creative LLC v. Elenis" ist eine der letzten Jahrzehnte des sozialen Fortschritts unwürdige Entscheidung. "Immer wieder haben Unternehmen und andere kommerzielle Entitäten das verfassungsmäßige Recht beansprucht, diskriminieren zu dürfen und immer wieder hat sich dieses Gericht dem mutig entgegengestellt. Bis heute. Heute kneift dieses Gericht", schreibt Sotomayor.
8 Kommentare
Kommentare
wolfgang am Permanenter Link
Das amerikanische Justizwesen treibt sein Unwesen.
Roland Fakler am Permanenter Link
Hier haben wir den Beweis: Religion spaltet, diskriminiert, verböst und verdummt.
David Z am Permanenter Link
Hmm, sind bei uns die Schilder in Gaststätten mit dem Tenor "Wir bedienen keine AfD Wähler" nicht auch kritiklos hingenommen worden?
Davon abgesehen scheint es mir ziemlich kontraproduktiv zu sein, einen Friseur zu zwingen, mir die Haare zu schneiden, wenn er es nunmal nicht will. Das Arbeitsergebnis dürfte nicht den Erwartungen entsprechen...
Das amerikanische Konzept der "protected classes", sprich eine spezifische Bevölkerungsgruppe gegenüber der Mehrheit rechtlich zu bevorzugen, ist zudem ein sehr spezielles Thema - und generell nicht unproblematisch.
Diva D am Permanenter Link
ich bin schon bedient, wenn ich deine rechtes Gelaber lese
David Z am Permanenter Link
Warum hälst du Diffamierung für eine sinnvolle Herangehensweise?
Hälst du jede Position von "rechts" automatisch für falsch? Wenn ja, warum?
Diva D am Permanenter Link
@ David Z du musst mich nicht 2x bedienen – 1x ist schon zu viel
David Z am Permanenter Link
Nun, anscheinend lässt du dich sehr gerne bedienen. Allerdings macht das deinen doch etwas dünnen Beitrag nur noch mysteriöser...
Bernhard am Permanenter Link
Ich bin bisexuell. Somit bin ich einer der Menschen, den diejenigen vor Diskriminierung schützen möchten, die sich hier ein anderslautendes Urteil gewünscht hätten.
In diesem Rechtsstreit ging es ja, wie der Autor richtig anmerkt, gar nicht darum, die Webdesignerin möglicherweise zu zwingen, homosexuelle Paare zu bedienen. Ganz egal wie dieses Urteil ausgefallen wäre, es ist der Webdesignerin völlig freigestellt, ob sie homosexuelle Paare bedient oder nicht. Auch das ist meiner Ansicht nach völlig richtig, Vertragsfreiheit ist ein Grundpfeiler einer freien und offenen Gesellschaft und beruht letztendlich auf demselben fundamentalen Prinzip, auf dem auch u. a. mein Recht beruht, mit anderen Männern zu schlafen, genau wie sehr viele andere Rechte auch: alles ist ok, solange alle Beteiligten einverstanden sind. Oder in einem einzigen Wort: Freiwilligkeit. Es ist das gute Recht dieser christlich-fundamentalistischen Webdesignerin, keine schwule Pärchen zu bedienen, wenn sie das nicht möchte, selbst wenn ihre Rechtfertigung dafür schwachsinnig ist – genau wie es das gute Recht eines schwulen Webdesigners wäre, keine christlich-fundamentalistischen Pärchen zu bedienen. Vertragsfreiheit besteht für alle, nicht nur für fundamentalistisch-religiöse Trottel.
Soweit zur Vertragsfreiheit, die ja gar nicht zentraler Gegenstand des Verfahrens war, am Rande aber auch in der Argumentation für und gegen das Urteil eine Rolle spielt. Verfahrensgegenstand war also lediglich die Frage, ob die Webdesignerin einem homosexuellen Paar, dessen Auftrag sie ablehnt, die Begründung mitteilen darf. Das Gericht hat entschieden, dass sie darf und ich frage mich jetzt, wieso dies vom Autor und vielen Anderen als so schlimm empfunden wird. Ich kann dafür in diesem Artikel eigentlich nur ein Argument finden, und zwar in dem Zitat von Richterin Sotomayor: "die Verhinderung der durch die explizite Abweisung entstehenden Entwürdigung". Was nobel und emanzipatorisch klingt, ist für mich auf den zweiten Blick eher anti-emanzipatorisch und kontraproduktiv. Man kann das ganze nämlich auch anders formulieren: "die Verhinderung von durch unbequeme Wahrheiten verletzten Gefühlen". Die Webdesignerin hält dumme, religiös-motivierte Vorbehalte und diese verschwänden auch nicht, wenn sie sie dem Interessenten gegenüber für sich behalten müsste. Ein homosexuelles Paar müsste (und sollte) sich sowieso einen anderen Webdesigner suchen, die Diskriminierung darf eh stattfinden. Was hier gefordert wird, ist, die Wahrheit (nämlich, dass es immernoch homophobe Trottel auf der Welt gibt) unter den Teppich zu zwängen, um Gefühle nicht zu verletzen. Der geneigte HPD-Leser wird bei dieser Formulierung hoffentlich sofort an die Fragwürdigkeit von Plasphemiegesetzen denken – spätestens wenn man das Adjektiv "religiöse" vor die "Gefühle" setzt – und in der Tat halte ich genau das für die andere Seite derselben Medaille. Es sollte nicht versucht werden, mit der Staatsgewalt Gefühle vor der Wahrheit zu beschützen, das ist paternalistisch und führt auf Dauer dazu, dass alle Menschen immer nur noch übersensibler werden. Wahrhaft emanzipatorisch ist der Ansatz, die Menschen zu ermächtigen, resilienter zu werden, für sich selbst zu denken und mit der Wahrheit umgehen zu lernen.
Bedeutet: wenn eine Webdesignerin meint, dass das, was mein Partner und ich im Schlafzimmer machen, ganz, ganz schlimm sei und mich deshalb nicht bedienen möchte, bitteschön. Ich möchte dann aber BITTE auch Klarheit darüber haben, mit wessen ("heiligen") Geistes Kinde ich es zu tun habe und nicht in paternalistischer Großkotzigkeit mittels eines Antidiskriminierungsgesetzes von Vater Staat vor der möglichen Verletzung meiner Gefühle beschützt werden. Genauso möchte ich dann auch umgekehrt, dass diese Frau ebenfalls nicht von Vater Staat mittels Blasphemiegesetzen davor geschützt wird, dass ich ihr an den Kopf werfe, dass diese Art von Profitminimierung ihrerseits aufgrund bronzezeitlicher Wahnvorstellungen ganz schön bekloppt ist.
Umso besser wäre es doch sogar für mich, wenn die gute Frau ganz oben auf ihrer eigenen Website ein großes Banner platzieren würde: "Ich bediene keine Homo-Pärchen.", dann würde mir doch sogar die Zeit und die Mühe erspart bleiben, mit so einer unangenehmen Person überhaupt geschäftlichen Kontakt aufzunehmen und ich könnte mir gleich einen der (selbst in den USA sicherlich zahlreich zu findenden) Webdesigner heranziehen, die kein Problem damit haben, Geld von schwulen Pärchen anzunehmen, anstatt estmal auf eine Abfuhr ohne ehrliche Begründung warten zu müssen.
Und das gilt ja auch nicht nur für Webdesigner, denn auch Konditoreien, Tattoostudios, Architekturbüros und Herrenausstatter sind höchstens nur äußerst selten sowohl in dem Maße bigott, dass sie dafür sogar auf Profit verzichten würden als auch zeitgleich noch Monopolisten, zu denen sich keine intelligentere Konkurrenz findet. Ein fundamentaler Unterschied zu Webdesignern besteht also nicht, insofern kann ich den Wunsch nach einem Extrawursturteil auch nicht nachvollziehen.
Die Forderung nach staatlicher Beschützung ist nett gemeint, aber hier wie da kurzfristig kaum wirksam (wie gesagt, die eigentliche Diskriminierung dürfte ja sowieso stattfinden, sie dürfte nur nicht offen kommuniziert werden) und langfristig erst recht kontraproduktiv. Die Gesellschaft muss sich von selbst in die richtige Richtung bewegen, anders geht es nicht – aber gerade in diesem spezifischen Szenario gibt es doch auch Anlass zur Hoffnung, schließlich fallen selbst in der hintersten US-amerikanischen Bible-Belt-Pampa immer schneller immer mehr Menschen vom Glauben ab und zumindest viele von diesen dadurch irgendwann auch von ihren religiös motivierten Vorurteilen, nicht nur in Bezug auf Homosexualität. Die Welt wird besser, man muss ihr nur Zeit geben.