Interview

"Was Menschenrechte angeht, ist Afghanistan weltweit auf der untersten Stufe"

Im Interview mit dem hpd beschreiben Hourvash Pourkian und Jacqueline Ahmadi die humanitäre Situation in Afghanistan und im Iran. Menschrechtsaktivistin Pourkian wurde im Oktober für ihr Engagement mit dem Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland ausgezeichnet. Seit 20 Jahren leitet die aus dem Iran stammende Pourkian den Verein Kulturbrücke. Ahmadi ist eine Rechtsanwältin und Frauenrechtsaktivistin. Seit der Machtergreifung der Taliban setzt sie sich vehement gegen die Unterdrückung der afghanischen Frauen ein.

hpd: Frau Pourkian, Frau Ahmadi, Sie sind beide gut informiert über die aktuelle Lage in Afghanistan und im Iran. Wie ist denn die Situation der Menschenrechte in diesen Ländern?

Jacqueline Ahmadi: Schlecht, vor allem für Frauen. Im Moment fehlen den Frauen in Afghanistan die Grundrechte. Wir wissen, dass der Zugang zu Bildung verhindert wird. Es ist noch schlimmer: Sie sind aus dem öffentlichen Leben verbannt worden, sie können ihre Berufe nicht mehr ausüben, sie sind finanziell abhängig gemacht worden. Sie werden in den Familien als Last gesehen, weil sie nicht die Mittel haben, sich selbst zu ernähren, wie das früher der Fall war. Deshalb werden Mädchen früh verheiratet, damit die Familie weniger Personen zu versorgen hat. Diese zwangsverheirateten Frauen haben keinen Schutzraum, es gibt keine Polizei mehr, die sie rufen könnten, wenn ihr Ehemann ihnen gegenüber gewalttätig ist. Die Strukturen, in denen sich Frauen noch wehren konnten, sind systematisch zerstört worden. Die Taliban haben seit ihrer Machtübernahme über 80 Dekrete beschlossen, nur für die Entrechtung der Frauen. Den Frauen werden alle Mittel genommen, sich zur Wehr zu setzen. Wenn sie sich nicht an die Kleidervorschriften halten, werden nicht nur die Frauen bestraft, sondern auch die Männer, die Väter, die Brüder, die dafür sorgen sollen, dass diese Frauen sich an die Kleidervorschriften halten. Kurz gesagt: Was Menschenrechte angeht, ist Afghanistan weltweit auf der untersten Stufe.

Beispielbild

Die aktuelle MIZ behandelt das Thema Menschenrechte als Schwerpunkt.

Hourvash Pourkian: Die Frauen in Afghanistan sind entrechtet, sie haben überhaupt keine Rechte mehr. Im Iran werden die Menschenrechte auch mit Füßen getreten. Ich bin der Meinung, dass zu wenig über die Situation der Frauen in Afghanistan und dem Iran gesprochen wird. Ich arbeite seit Jahren an der Frage, wie können wir Frauen mobilisieren? Ich sehe keine andere Lösung, als dass sich Frauen auf der ganzen Welt zusammentun und weltweit auf die Straße gehen – ähnlich wie der "Women's March" als Donald Trump gewählt wurde. Ich wünschte mir, dass Frauen weltweit an einem Strang ziehen würden, dass sich Frauen auch hier in Deutschland solidarisieren würden mit den Frauen in diesen Ländern. Wenn wir uns verbünden, können wir eher etwas erreichen. Nicht nur im Iran und in Afghanistan, in allen islamischen Ländern, sogar in Indonesien, was bisher als tolerant galt, schleicht sich die Islamisierung ein.

Jacqueline Ahmadi: Mich ärgert es, wenn ich einen Vortrag auf einer Protestveranstaltung über die Rechte der Frauen in Afghanistan halte, dass dann immer wieder deutsche, privilegierte Frauen auf mich zukommen und sagen "das ist doch die Kultur in Afghanistan". Da kann ich nur sagen: Wir sprechen doch über Menschenrechte und Menschenrechte sind global einzuhalten. Das bedeutet, die Würde jedes Menschen ist unantastbar. Und Frauenrechte sind Menschenrechte. Deshalb ist es nicht tragbar, dass Frauen in Afghanistan aus kulturellen, gesellschaftlichen und religiösen Gründen Menschenrechtsverletzungen akzeptieren müssen. Deshalb braucht die Welt engagierte Frauen, die den Frauen in Afghanistan eine Stimme geben.

Dass es den Frauen unter der Terrorregierung der Taliban und den Frauen im Iran unter dem Mullah-Regime schlecht geht, sollte die Welt inzwischen erfahren haben. Aber wie geht es den Männern in diesen Ländern? In Afghanistan müssen sich die Männer ja auch an die Kleidervorschriften halten, sie müssen zum Beispiel einen Bart tragen…

Hourvash Pourkian: Die Männer leiden genauso wie die Frauen. Gut, sie haben einen besseren Zugang zu Behörden, zur Regierung. Aber die ganze Last des gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Lebens liegt auf den Schultern der Männer. Ich habe gerade gelesen, dass es eine hohe Suizidquote bei Männern im Iran gibt.

Frau Pourkian, Sie kommen gerade aus Berlin, wo Sie die iranische Frauenrechtlerin Masih Alinejad begleitet haben, Sie haben einen guten Draht zur deutschen Politik…

Hourvash Pourkian: Ich habe im vergangenen Jahr einen Brief an die Außenministerin Annalena Baerbock geschrieben, habe auch zwei Seiten Antwort bekommen. Ja, ich treffe viele Politikerinnen. Versprechungen werden viele gemacht, aber: Es passiert gar nichts. Wir müssen mehr Druck machen. Ich glaube an die Zivilgesellschaft, wir haben eine wahnsinnige Macht, Politiker sind nur unsere Vertreter.

Außenministerin Baerbock ist angetreten und hat eine feministische Außenpolitik angekündigt...

Hourvash Pourkian: Das ist doch keine feministische Außenpolitik. Wir haben letztes Jahr im Oktober eine große Demo vor dem Auswärtigen Amt gemacht. Daraufhin haben wir Briefe persönlich bei Annalena Baerbock abgegeben. Die Außenministerin hat zwar schon einige Sanktionen gegen den Iran beschlossen, aber das reicht nicht.

Jacqueline Ahmadi: Ich bin sehr enttäuscht von der "feministischen Außenpolitik". Die Rechte der Frauen in Afghanistan sind komplett aus dem Fokus geraten. Das Bundesaufnahmeprogramm, das Frau Baerbock beschlossen hatte, ist gescheitert. Ich habe als Anwältin mehrere Briefe an Abgeordnete geschrieben, mir wurde zugesagt: Ja, man könne sich gerne unterhalten, aber nicht über das Bundesaufnahmeprogramm. Dann macht ein Gespräch für mich keinen Sinn. Die Tatsache, dass der Westen gescheitert ist und Afghanistan den Taliban überlassen hat, hat alle Afghaninnen im Exil sehr enttäuscht. Schlimm ist es auch, dass mir Kolleg:innen und meine Familie raten, in der Öffentlichkeit vorsichtig zu sein – hier in Deutschland. Weil ich mich öffentlich gegen die Taliban ausspreche. Aber eigentlich sollten die Menschen, die sich hier in Deutschland für die Taliban aussprechen, Angst haben. Sie sollten strafrechtlich verfolgt werden.

Wenn wir über die politische Situation in den muslimischen Ländern sprechen – was hat das Ganze mit dem Islam zu tun?

Hourvash Pourkian (lacht): Der Islam ist ihre Ideologie, die sind ja die Vertreter Gottes…

Jacqueline Ahmadi: Der Islam wird politisch instrumentalisiert und als Waffe gegen Menschen, gegen Andersdenkende und im Besonderen zur Unterdrückung der Frauen eingesetzt. Religion wird gerade in muslimischen Ländern großgeschrieben. Wir Frauen dürfen uns von dem Deckmantel der Religion nicht beeinflussen lassen. Jeder soll seine Religion ausüben können. Wenn eine Frau aus Überzeugung ein Kopftuch trägt, dann Bitteschön, das kann sie gerne machen. Aber wir können nicht tolerieren, wenn Frauen gezwungenermaßen ein Kopftuch tragen müssen – so wie es im Iran und in Afghanistan der Fall ist.

Hourvash Pourkian: Es gibt so viele Zwänge in den islamischen Ländern: Zwangsverheiratung, Kopftuch… Für Deutschland habe ich mich der Kampagne von Terre des Femmes angeschlossen, dass Kopftücher für Mädchen bis zum 14. Lebensjahr verboten sein sollten. Mich hat eine Zahl sehr erstaunt. Mir wurde gesagt, dass 70 Prozent der Frauen in Teheran kein Kopftuch tragen. Diese Frauen gehen ganz bewusst das Risiko ein, ins Gefängnis gesteckt oder schlimmstenfalls getötet zu werden. Das ist eine große Herausforderung für das Regime. Die Frauen lassen sich diese Verbote nicht mehr gefallen. Sie haben ihre Angst verloren. Man muss sich mal vorstellen: Bis in die 1970er Jahre waren die Frauen in den islamischen Ländern frei.

Jacqueline Ahmadi: Wenn es um Frauenrechte, wenn es um Menschenrechte geht, dürfen wir keine Kompromisse eingehen – schon gar nicht mit Personen, die Religion als politische Propaganda-Waffe instrumentalisieren und missbrauchen.

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