Zur Heiligsprechung an diesem Sonntag

Carlo Acutis – Mamas Heiliger und die kirchliche Mythosmaschine

Die Heiligenverehrung ist ein Markenzeichen der katholischen Kirche. Sie bietet den Gläubigen Identifikationsfiguren und moralische Vorbilder. Doch die Zahl der Heiligen ist längst so groß, dass selbst die Kurie kaum noch den Überblick behält – nicht zuletzt, weil die letzten Päpste die Heiligsprechung nahezu inflationär betrieben haben. Nun soll Carlo Acutis, der erste Heilige der Generation der Millennials, offiziell kanonisiert werden. Das freut vor allem seine Mutter – wirft aber auch kritische Fragen auf. Wo endet die Verehrung und beginnt die Leichenfledderei?

Die genaue Zahl aller Heiligen und Seligen kennt niemand. Das 2004 aktualisierte "Martyrologium Romanum" listet 6.650 Heilige und Selige sowie 7.400 weitere Märtyrer auf. Die Päpste in der jüngeren Geschichte sind dafür bekannt, in großer Zahl Heiligsprechungen durchgeführt zu haben: Johannes Paul II. brachte es auf 482 Ehrungen, Joseph Ratzinger nahm als Benedikt XVI. 44 Menschen in den Heiligenstand auf, dann wurde Franziskus mit mehr als 900 Heiligen zum absoluten Rekordhalter, weil er den Italiener Antonio Primaldo und seine 800 Gefährten, die 1480 in der apulischen Hafenstadt Otranto bei einem Überfall osmanischer Soldaten ermordet worden waren, entsprechend würdigte.

Fakt ist: In den letzten hundert Jahren hat die katholische Kirche mehr Heiligsprechungen durchgeführt als in der gesamten Kirchengeschichte zuvor. Für Gläubige sind sie ein Ausdruck von Verehrung, für die Kirche ein Instrument der Glaubensstärkung. Der katholische Markenkern muss gefüttert werden. Und der Bedarf an neuen Heiligen scheint groß zu sein.

Spiritualität oder PR-Strategie?

Offiziell gilt: Heilig gesprochen wird, wer nach seinem Tod im "Ruf der Heiligkeit" steht – etwa als Märtyrer oder bei Nachweis zweier vollbrachter Wunder. Papst Franziskus führte zusätzlich die "Hingabe des Lebens" als Kriterium ein. Doch die Auswahl folgt oft auch einem politischen und symbolischen Leitbild. Die Kirche wählt gezielt Persönlichkeiten aus, die ihr Image stärken und bestimmte Botschaften transportieren sollen. So hat Franziskus in den vergangenen Jahren vor allem Menschen aus dem globalen Süden und Märtyrer aus Konfliktregionen geehrt – als klares Bekenntnis zu Themen wie sozialer Gerechtigkeit und dem Einsatz für die Armen. Ist das reine Spiritualität? Oder eine geschickte Imagekampagne? Man könnte in Anlehnung an Roland Barthes die Kirche als "Mythosmaschine" bezeichnen: Heiligsprechungen verwandeln Individuen in universale Vorbilder, reißen sie aus ihrem historischen Kontext und verdecken, wie man Macht dadurch religiös legitimieren will.

Heiligenbild in der Abteikirche Neresheim, gemalt 1770-1775 von Martin Knoller
Es ist voll im Himmel: Dieses Fresko der Abteikirche Neresheim zeigt, wie Heilige den christlichen Gott anbeten (hier sind einige Erkennbare namentlich gekennzeichnet).
Foto mit Beschriftung: Canus2020 via Wikimedia Commons (Lizenz: CC BY-SA 4.0)

Diese Spannung zwischen Frömmigkeit und PR zeigt sich auch in den jüngsten Entscheidungen aus Rom. Robert Prevost startete ebenfalls mit acht zu Glaubensvorbildern ernannten Menschen in seine Amtszeit als Leo XIV., wobei er dabei letztlich nur die Vorgaben des Dikasteriums für die Seilig- und Heiligsprechungsprozesse umgesetzt hat. Am 7. September wird Leo XIV. weitere drei Frauen und sechs Männer in den Stand der Heiligen erheben, darunter auch den 1991 geborenen Carlo Acutis, der mit nur 15 Jahren an Leukämie starb.

Carlo als Instrument der Bekehrung

Warum Carlo Acutis? Weil er mit seinem Taschengeld Obdachlose unterstützt hat? Weil er postmortal per Reliquienkult angeblich in Brasilien ein Kind geheilt hat, ebenso eine Frau, die in Florenz auf den Kopf gefallen war? Oder weil der auf Fotos sanft lächelnde Jüngling mit den braunen Locken die größte mediale Aufmerksamkeit verspricht, während niemand die Namen der anderen acht Kandidaten kennt?

Carlo Acutis stammte aus einer schwerreichen und tiefreligiösen Familie. Er wurde streng katholisch erzogen, was dazu führte, dass er bereits als Vierjähriger glaubte, er müsse täglich für seinen verstorbenen Großvater beten, da dieser im Fegefeuer schmore. "Von da an begann Carlo für alle armen Seelen im Fegefeuer zu beten. Immer, immer, immer betete er für diese Seelen und versuchte, Ablässe für sie zu gewinnen. Er sagte immer, dass wir für die armen Seelen im Fegefeuer beten müssen, dass wir sie nicht vergessen dürfen und dass sie uns sehr helfen werden", erzählt seine Mutter Antonia Salzano, die nicht müde wird, die Hagiografie ihres früh verstorbenen Sohnes fortzuschreiben.

Seine Grundschulzeit verbrachte Carlo an zwei katholischen Privatschulen in Mailand, dem Istituto San Carlo di Milano und dem Istituto Tommaseo delle suore Marcelline, anschließend wechselte er an das traditionsreiche Istituto Leone XIII, ein von Jesuiten geführtes Gymnasium. Er lebte in einer eigenen, von Frömmigkeit geprägten Welt. Seine Mutter hatte einen großen Einfluss auf ihn und betreibt seit dem Tod ihres Sohnes die Kampagne für seine Heiligsprechung: "Mein Carlo ist ein Instrument der Bekehrung. Er kann ein Vorbild für alle sein, besonders für junge Menschen."

Um Aufmerksamkeit bei der Jugend ringend, entdeckte auch die Kurie in Rom das "Potential" von Carlo Acutis. Vor allem Kardinal Angelo Comastri – er spielte übrigens eine unrühmliche Schlüsselrolle im ersten juristisch offenbar gewordenen Fall von Kindesmissbrauch durch Kleriker, der sich unmittelbar innerhalb des Vatikanstaates abgespielt haben soll – engagierte sich für die Selig- und Heiligsprechung von Acutis, die (für kirchliche Verhältnisse) in Windeseile erfolgte. Die Heiligsprechung sei "der Höhepunkt eines langen Weges", freute sich Antonia Salzano unlängst im Interview mit einem katholischen US-Online-Portal. Und längst hat Carlo auch eine eigene deutsche Homepage, die von seinen Fans und Groupies gepflegt wird.

Klerikale Leichenfledderei und perverser Fetischismus

Der seit 13 Jahren in einer Gruft ruhende Leichnam wurde exhumiert (in Deutschland wäre der Straftatbestand "Störung der Totenruhe" erfüllt) und mit Formaldehyd, Kosmetik und viel Silikon so gestaltet, dass er seither puppenhaft in einem gläsernen Sarkophag in der Kirche Santa Maria Maggiore in Assisi präsentiert werden kann. Auf Wunsch von Mama Antonia wurde Carlos Herz – oder das, was davon noch übrig war – entnommen und in eine Goldreliquie gefasst. Das Herz tourte schon durch Europa und war im Juli 2024 auch in der Münchner Heilig-Geist-Kirche zu Gast. Während der Bayerische Rundfunk völlig kritiklos über diese absonderliche Organshow berichtete, empörten sich sogar gläubige Katholiken über die "klerikale Leichenfledderei" und den "perversen Fetischismus".

Der "Cyberapostel" und der Hostienfrevel

Carlos Heiligenschein leuchtet digital bereits: Er wird als "Influencer Gottes" und "Cyberapostel" vermarktet, obwohl keine dokumentierten Spuren von seinem Wirken im Internet erhalten sind. Während sich seine Altersgenossen für Online-Spiele interessierten, soll Carlo damit beschäftigt gewesen sein, eine Liste über eucharistische Wunder in der Welt zusammenzutragen. Eine angeblich von Carlo angelegte Sammlung – sie wurde posthum online gestellt – verzeichnet zahlreiche Hostienwunder, darunter auch antisemitische mittelalterliche Hostienfrevel-Erzählungen, weshalb Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, im Juni 2025 die Heiligsprechung von Carlo Acutis kritisiert hat:

"Es ist dringend geboten, dass dieser Aspekt von den Verantwortlichen in der katholischen Kirche nicht erst auf Nachfrage besprochen und aufgearbeitet wird. Jetzt wäre die Chance, dazu Stellung zu nehmen. Und diese Chance sollte vor dem historischen Hintergrund ganz schrecklicher Gewalttaten gegen Juden nicht leichtfertig verspielt werden. 60 Jahre nach der Vatikan-Erklärung 'Nostra aetate' über das Verhältnis der Kirche zum Judentum in diesem Jahr scheint es wieder vermehrt blinde Flecken im Verhältnis zur eigenen antijüdischen Geschichte zu geben."

Carlo Acutis ist nicht nur ein Heiliger in spe, sondern ein modernes PR-Projekt. Die Kirche inszeniert ihn als Brücke zur digitalen Jugend – und blendet problematische Aspekte bewusst aus. Heiligsprechungen offenbaren ihren machtpolitischen Charakter als kulturelles Ritual, das Mythen erzeugt, um Autorität zu sichern. Letztlich ist der unwürdige Umgang mit dem toten Carlo Acutis ein trauriges Lehrstück über die Funktionsweise religiöser Symbolpolitik im 21. Jahrhundert und die bewusste Missachtung ethischer und moralischer Vorstellungen für einen vermeintlich höheren Zweck.

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