Verse auf der Suche nach den Grenzen des Lebens

Der Grottenolm im Nirvana

BERLIN. (hpd) Die Einsamkeit der Seegurke und das historisch verbürgte sprechende Automatentier des Erasmus Darwin, Großvater Charles Darwins, das nicht wie erwartet das Vaterunser, aber “Mama” sagen konnte, sind Sujets des Dichters Heinrich Detering in seinem Band “Wundertiere”, gerade im Wallenstein Verlag erschienen. Es sind kluge Gedichte, federleichte kleine Wortmaschinchen, die dem nachspüren, was Leben ist.

Erasmus Darwin beschrieb und erforschte auch Schmetterlinge. Dichtung und Forschung liegen mitunter nahe beieinander. Besonders für einen Dichter wie Detering, der auch Universitätsprofessor ist. Lebt ein Grottenolm, der nicht sehen und nicht hören kann, in seiner stets acht Grad kalten Meereshöhle im Nirvana? Was bedeutet ihm Leben? Worin liegt mehr Einsamkeit als in dem Ruf, der einzig bekundet, dass das rufende Wesen da ist – wie die Rohrdommel, auf Norddeutsch "Moorochse", mit ihrem nächtlichen Muhen! Oder schaffen Sprechen und Benennen erst die Einsamkeit? Isolierte sich der Mensch für immer, dadurch dass er den Tieren einen Namen gab?

Georg Wilhelm Richmann, der im 18. Jahrhundert mit dem Blitzableiter den Blitz einfangen wollte und so mit 24 Jahren in Petersburg umkam, wird zu einer mythischen Gestalt in Deterings Versen. Ikarus mit seinem Selbstversuch mutiert zum Künstler auf Ego-Trip im modernen Sinne. Maßstab ist das Alltägliche; auf Bruegels imaginierten Ikarus-Bild und in Heinrich Deterings Versen.

Deterings eingängige Zeilen fügen sich oft in klassische Formen, zum Beispiel dem Ghasel. Sie reimen sich mitunter, weisen auch manchmal wie ein perfektes Uhrwerk tickend mit didaktisch erhobenem Zeigefinger. Meist aber erkunden sie Räume, immer ein wenig auf der Flucht. Manchmal beinahe erschrocken, wenn da fremdes Leben Autor und Leser ins Auge sieht. Und bekümmert genauso über den möglichen Tod des Waschbären, der in eine Mülltüte verheddert über die Vorstadtstraße taumelt, wie über den Sperling, dem unachtsame Füße die Flügel brechen.

Aber in Deterings Reimen kommen auch der Mikrowellenherd, der Anrufbeantworter und der Computer vor. Das Poetische muss neben ihnen, ja, im Umgang mit ihnen bestehen. Und will doch gleichzeitig immer die Stille hörbar machen, in der Leben sich selbst und anderem Leben begegnet, und Erinnern ist an das, was vor uns war. Daraus erwächst den Zeilen eine eigene unbestimmte Offenheit, wie die der Nebellandschaften von Deterings schleswig-holsteinischer Heimat.

 


Heinrich Detering: "Wundertiere", Wallstein Verlag Göttingen 2015, 94 S. 18,90 Euro