Die Lyrikanthologie "Endlichkeit und Vergänglichkeit" lädt bezüglich dieser Aspekte unserer menschlichen Existenz zu einem gelassenen Umgang ohne jede christliche Botschaft ein. Es handelt sich nicht um ein Büchlein zum "Vertrösten" bei schweren Schicksalsschlägen, sondern um einen Kunstgenuss speziell für ein humanistisches Publikum, der ein Grundgefühl von in sich ruhender Lebensfreude oder von Innehalten begünstigt. Darüber hinaus erweist sich die ausdrücklich areligiös bestimmte Gedichtauswahl als Fundgrube für weltlich-humanistische Arbeitsfelder.
Sei es bei Bestattungszeremonien, Gedenktagen, Trauerhilfe oder der Herausforderung des seelischen Beistands bei Krankheit, Alter und Verlust, oft stehen wir als Humanisten und Atheisten vor der Frage: Was können wir denn über unser Menschsein und Mitgefühl hinaus an "Geistig-Kulturellem" dazu anbieten, was sich nicht auf einen Herrgott, Jenseitiges oder sonst Religiöses bezieht? Der vor kurzem erschienene Gedichtband bietet dazu eine Fülle von Anregungen, für jede gebotene Tonalität, Stilrichtung, individuelle Fallgeschichte – meines Erachtens ein Muss für die entsprechenden humanistischen Arbeitsfelder. Das schön gebundene Büchlein lädt wohl nicht nur mich dazu ein – sondern jeden mit einem Bedürfnis nach hochrangiger "Wortkunst" –, es in die Hand zu nehmen und die dicken Papierseiten umzuschlagen.
Meine etwas gewagte Gedichtauswahl für einen unheilbar Krebskranken
Glücklicherweise habe ich die Gedichtsammlung "Endlichkeit und Vergänglichkeit" zur Verfügung. Denn was tun, als mich nach längerer Zeit wieder die E-Mail eines schwerstkranken 73-jährigen Krebspatienten erreicht, der bisher schon förmlich alles therapeutisch Mögliche zu seiner Besserung in Erfahrung gebracht und auch in Anspruch genommen hat. Nach kurzfristig im Spätsommer erhofftem Rückgang von Metastasen sei er nun in einem stark abgemagerten Gebrechlichkeitszustand mit einer noch schlimmeren Ausbreitung des Krebses. Nur noch eine sehr kurze Überlebensaussicht sei gegeben, wie üblich gibt er detailliert alle relevanten medizinischen Messwerte an, mit deren Grenzbereichen er sich inzwischen profimäßig auskennt.
Doch noch einmal sei ihm von seinem behandelnden Professor glücklicherweise die Chance einer weiteren Chemotherapie eingeräumt worden – erst müsse für diese Strapaze aber noch eine Stabilisierung seiner Werte erfolgen, vor allem mit Bluttransfusionen. Er bittet nun alle E-Mail-Adressaten nur um eins: sein ungebrochenes Durchhaltevermögen zu unterstützen. Besuche wären – nicht nur wegen Corona – nicht mehr möglich und auch nicht mehr erwünscht. Die bisherigen – meiner Einschätzung seiner Lebensqualität entsprechenden – Überzeugungsversuche, sich zumindest für einen Platz auf der Warteliste eines Hospizes anzumelden ("Dieser muss dann doch nicht unbedingt auch angenommen werden") blieben unerhört: Die Antwort lautete stets Nein, denn er wolle ja nicht sterben ("Davon will ich nichts hören, sondern bis zuletzt um mein Leben kämpfen").
Was also tun? Ich greife zum Gedichtband und weiß nicht, ob meine Auswahl darin für ihn angemessen ist, aber ich wage es und sende ihm mit nur ein paar Begleitworten das folgende Gedicht von Robert Gernhardt, der für seinen lyrischen Balanceakt zwischen Leichtem und Schwerem, zwischen der Komik und dem bitteren Ernst des Lebens bekannt ist:
Diagnose Krebs
Erst kommt der berühmte Schuss vor den Bug. Zuvor war ich dumm, hernach war ich klug.
Dann folgte der klassische Schlag ins Kontor. Darauf war ich klüger als jemals zuvor.
Undenkbar, dass solch einem blitzklugen Mann, noch irgendein Tod etwas anhaben kann.
Ermunterndes Hoffnungspenden angesichts unvermeidbarer Tragik ist sowieso unmöglich oder wäre jedenfalls unaufrichtig. So sehen es auch die beiden Herausgeber Mathias Groll und Christian Walther, der eine von Hause aus Psychiater, der andere Biophysiker, beide selbst Autoren mit ausgeprägten außerberuflichen Interessensgebieten wie Kunst, Literatur, säkulare Lebensphilosophie und Humane Sterbehilfe. Sie betonen, dass ihre bewusst weltliche Anthologie (griechisch: anthología = "Sammlung von Blüten") nichts mit falschen religiösen Versprechungen gemein hat. Auch könnten Gedichte eine menschliche Zuwendung bei denjenigen, denen ein Schicksalsschlag oder das Alter Schlimmes bringt, nicht ersetzen – wohl aber tröstlich ergänzen.
Erzeugung von leichter wie schwerer Stimmung und von Schönheit
Im Buch bleibt uns die moralische Mahnung eines christlich geprägten Memento mori ("auch du wirst sterben müssen!") erspart. In elf Kapiteln wird ein großer Bogen geschlagen von Abend- und Herbststimmung, Abschied und Gedenken, Alter, Nacht und Schlaf, Sterben und Vergänglichkeit, Tod und Zeit, bis hin zu Zweifel und Gelassenheit. Es handelt von Beschwerlichem, entspanntem Innehalten, Nachdenklichem sowie auch humoristisch Leichtem und ist jedenfalls postreligiös konzipiert. Als Beispiel Bert Brecht:
Der Radwechsel
Ich sitze am Straßenrand, der Fahrer wechselt das Rad.
Ich bin nicht gern, wo ich herkomme,
Und ich bin nicht gern, wo ich hinfahre,
Warum sehe ich den Radwechsel
Mit Ungeduld?
Auf Gedichte mit religiösen Einlassungen oder gebetsähnliche Inhalte haben die Herausgeber radikal verzichtet, wenige, eindeutig poetische Bildfiguren wie die bei Paul Klee ausgenommen: "Einst werd ich liegen im Nirgend bei einem Engel irgend". Die lyrische Wortkunst zeichnet sich dadurch aus, dass eine Stimmung erzeugt oder ein Bedürfnis nach Schönheit in uns angesprochen wird, oft ohne dass es eine eindeutig erfassbare Aussage enthält. Dabei habe man versucht, so die Herausgeber im Nachwort, eine – zwar teils fließende – "Grenze zum Kryptischen", das heißt zum Unverständlichen, Obskuren, einzuhalten. Diese sei, so die Autoren, für sie zum Beispiel erreicht, wenn Hilde Domin uns im Gedicht Blütensprache nahelegt: "Du musst mit dem Obstbaum reden. Erfinde eine neue Sprache, die Kirschblütensprache, Apfelblütenworte, rosa und weiße Worte …". Warum die Dichtkunst dieser zu Recht so bedeutenden Lyrikerin – zumal weibliche Dichter*innen völlig unterrepräsentiert sind – es dann gleich gar nicht in die Auswahl geschafft hat, bleibt mir allerdings unverständlich. Thematisch ausgeblendet ist im Übrigen die Verschlingung von Eros und Thanatos, von Liebe und Tod.
Repertoire mit viel neu zu Entdeckendem bei Verzicht auf allzu Geläufiges
Positiv ist zu bewerten, dass zugunsten neu zu Entdeckendem auf die meist sehr bekannten, immer wieder zitierten Gedichte verzichtet wurde – mit einigen Ausnahmen wie Goethes "Über allen Gipfeln ist Ruh" oder Eichendorffs Mondnacht: "Es war, als hätt' der Himmel die Erde still geküsst …" oder das Memento von Mascha Kaléko "Vor meinem eigenen Tod ist mir nicht bang, nur vor dem Tod derer, die mir nah sind …".
Aufgeführt sind rund 200 Gedichte, etliche (auch außereuropäische) ins Deutsche übersetzt, als frühe bis gegenwärtige Zeugnisse menschlichen Sinnens und Dichtens. Darunter befindet sich meditativ Bildhaftes in Kurzform zur Hinwendung für den Augenblick und für den Moment zum Innehalten, wie im Sonderkapitel "Letzte Gedichte von Haiku-Meistern" oder in der letzten Strophe des Gedichtes "Bittersüß" von Cees Nooteboom, mit welchem der Band dann nach 202 Seiten ausklingt:
Bittersüß, unser Leben.
Es schwebt durch die Zeit ohne Halt
und dreht sich nicht um an der Tür.
Es ist einladend, immer wieder vor- und zurückzublättern und einiges wiederholt zu lesen, wie wir ja auch ein Musikstück oder Gemälde immer wieder genießen können. Der Band eignet sich unbedingt auch zur Auffrischung des Repertoires in der humanistischen Bestattungs- und Trauerkultur. Es ist nicht nur für jeden Geschmack etwas dabei, sondern bietet auch etwas für besondere Todesumstände, auch für den Tod eines Kindes oder eines Suizidenten. Für den Anlass, wenn etwa eine alte, sehr liebevolle Frau im Kreise der Familie gestorben ist, habe ich als ein mich besonders berührendes, bisher unbekanntes Gedicht dieses von Wilhelm Busch entdeckt:
Es war die letzte Nacht und nah das Ende; wir küssten dir die zarten weißen Hände;
Du sprachst, lebt wohl, in deiner stillen Weise, und Oh, die schönen Blumen! Riefst du leise.
Dann war's vorbei. Die großen Augensterne, weit, unbeweglich starrten in die Ferne,
indes um deine Lippen halbgeschlossen, ein kindlichernstes Lächeln ausgegossen.
So lagst du da, als hättest du entzückt und staunend eine neue Welt erblickt.
Die Herausgeber haben sich mit einem alphabetisches Verzeichnis der Autor*innen viel Mühe gemacht, denn es informiert nicht nur über deren Lebensdaten, sondern verweist auch auf die Quelle des Gedichtes und gegebenenfalls auf die Übersetzung. Mit einer Seitenzahl wird angegeben, wo im Buch das Gedicht oder die Gedichte der Autor*innen jeweils zu finden sind. Ein besonderer Such-Service besteht darin, dass ganz am Ende ebenfalls alphabetisch Anfangszeilen sowie in Großbuchstaben Überschriften aller Gedichte mit der jeweiligen Seitenzahl aufgeführt sind.
Mathias Groll und Christian Walther (Hrsg.): Endlichkeit und Vergänglichkeit. Tredition Verlag, Hamburg 2020, ISBN 978-3-34-700105-3, 236 Seiten, 18,99 Euro
2 Kommentare
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Hört sich interessant genug an, um Alternativen für meinen Standardspruch bei Trauerfällen zu entdecken.
Bestellt in der regionalen Buchhandlung meines Vertrauens.
Konrad Lappe am Permanenter Link
Die Buchbesprechung hat mich sehr neugierig gemacht.