Ohne Gott ist alles erlaubt? – Realpolitik

Realpolitik nach 1945

Als nach Ende des 2. Weltkriegs die „Gefahr gebannt“ war und von den „Vaterlandsverrätern“ immer noch eine "Bedrohung für den Bestand der Sowjetunion" ausging, ließ Stalin von seiner Politik der Härte nicht ab. Beim Vormarsch der Wehrmacht hatten sich Millionen Rotarmisten ergeben und gerieten in Kriegsgefangenschaft. Von dort aus führte meist nur ein Weg zurück in die Freiheit - der Beitritt in die Wlassow-Armee, die an der Seite Hitlers für die Beseitigung des Kommunismus kämpfte. In anderen Fällen erfolgte der Beitritt zur Waffen-SS freiwillig. Viele Balten und Ukrainer hatten in der Sowjetunion ein schlimmes Schicksal erdulden müssen und erlagen so den Versprechungen des Nationalsozialismus. Ebenso wurden auch viele russische Zivilisten verschleppt und mussten in der deutschen Industrie oder Landwirtschaft Zwangsarbeit verrichten.

Im Laufe des 2. Weltkriegs drangen die Alliierten aus West und Ost in das Zentrum Europas vor. Die Sowjetbürger in den Diensten des Deutschen Reiches gerieten dabei einerseits in sowjetische, andererseits in britische und amerikanische Gefangenschaft. Stalin wollte jedoch nicht zwischen freiwilligen Kollaborateuren und Menschen, die alles taten, um ihr Leben zu retten, unterscheiden. Für ihn waren auch die Rotarmisten, die sich in den verlustreichen Kesselschlachten dem Feind ergaben, Verräter. Sie hätten schließlich erbittert weiterkämpfen und sich mit der letzten Patrone selbst richten können. Stalin war in seiner Sicht der Dinge konsequent. Auch sein eigener Sohn Jakow hatte sich der Wehrmacht ergeben und wurde im KZ Sachsenhausen interniert. Von deutscher Seite wurde das Angebot unterbreitet, den prominenten Kriegsgefangen gegen deutsche Offiziere, wie beispielsweise Generalfeldmarschall Paulus auszutauschen. Doch Stalin ließ gemäß den Bestimmungen, die er selbst erlassen hatte (und die er ebenso mühelos hätte umgehen können), seine Schwiegertochter inhaftieren und seine Enkelin in einem staatlichen Erziehungsheim unterbringen. Die übrigen Kriegsgefangen empfing er ab 1945 mit der gleichen Strenge.

Todesurteile gegen vermeintliche Kollaborateure

Die Kriegsgefangenen in westalliierter Gefangenschaft wähnten sich vor Stalins Rache in Sicherheit, doch die USA und Großbritannien hatten in der Konferenz von Jalta ihre Repatriierung, also die Überstellung an die sowjetischen Behörden beschlossen. Schon bald nach Kriegsende begannen die Deportationen, die 2,3 Millionen Sowjetbürger in ihr Vaterland zurückführen sollten.

Viele von ihnen wurden schnell im Gulag-Lagersystem inhaftiert. Wie viele von ihnen starben, bleibt ungewiss. Verbürgt sind ungefähr 160.000 Todesurteile gegen vermeintliche und tatsächliche Kollaborateure. Diese wurden zum Teil schon vor Kriegsende ausgesprochen. Aufgrund der chaotischen Zustände während des Krieges ist aber nicht klar ersichtlich, wie viele Verurteilte der Todesstrafe tatsächlich zum Opfer fielen. Einzelne Gefangene konnten sich in Westeuropa oder in der Sowjetunion selbst durch glückliche Umstände der Sowjetjustiz entziehen, einige waren bereits vor Kriegsende in deutschen Lagern gestorben und wenige Glückliche konnten eine Rehabilitierung erwirken. Dennoch muss immer berücksichtigt werden, dass der größte Teil von Stalins Opfern nicht etwa bewusst ermordet wurde, sondern stattdessen in den Arbeitslagern dahinsiechte. Wie viele der Gefangenen in den Gulags tatsächlich umkamen, ist ohne Weiteres nicht klar ersichtlich.

Ob man in Washington und London ahnte, was genau den Repatriierten widerfahren sollte, ist völlig unerheblich - die Opfer wussten es mit ausreichender Präzision. Bei der Auslieferung der Kriegsgefangenen spielten sich teils erschütternde Szenen ab. Die Amerikaner mussten bald erkennen, dass die Russen nur widerwillig die Transporte in Richtung Heimat bestiegen. Einige begingen in den Gefangenenlagern Selbstmord, indem sie ihre Barracken entzündeten, andere verbarrikadierten sich und konnten erst unter dem Einsatz von Tränengas herausgetrieben werden. Mehrere Russen attackierten die amerikanischen Soldaten mit Knüppeln aus Bettgestellen, doch nicht in der Hoffnung, zu entkommen, sondern in der Hoffnung, möglichst schnell erschossen zu werden. Den zuständigen Behörden war nur wenig daran gelegen, dass derartige Schilderungen an die Öffentlichkeit drangen.

Viele verschiedene Erklärungsansätze

Natürlich stellt sich die Frage, wie die Politik der Westalliierten unter diesem Gesichtspunkt beurteilt werden muss. Stellt sie ein beispielloses Verbrechen dar, oder muss sie aus den Notwendigkeiten der damaligen politischen Lage erklärt werden? Wie so oft in der Geschichtsschreibung fällt es schwer, eine eindeutige Aussage zu treffen. Für die Diktatur Stalins ist es einfach, die Ereignisse zu beurteilen. Im Falle der Westalliierten stellt sich die Situation jedoch anders dar. Einerseits wurden Roosevelt und Churchill, die die Repatriierung in Jalta beschlossen hatten, von Truman und Atlee abgelöst, die sie durchführen sollten. Natürlich gingen damit weitgehende personelle Veränderungen in Ministerien und Diplomatie einher, während durch das Kriegsende mehrere Posten im Militär neu besetzt wurden. Noch dazu muss ein vollständig unterschiedliches Politikverständnis berücksichtigt werden. Hier die USA als typische Einwanderernation, dort das Britische Empire als typisches Kolonialreich.

Logischerweise finden sich viele verschiedene Erklärungsansätze, die fließend ineinander übergehen und das teils in nur einer Person. Der britische Außenminister Eden hielt dazu beispielsweise fest, dass man sich nicht allzu viel „Sentimentalität“ gegenüber faschistischen Mördern erlauben dürfe, warnte aber auch davor, dass englische und amerikanische Soldaten sich in sowjetischer Gefangenschaft befänden.

Tatsächlich waren beim Vormarsch der Roten Armee auch Angehörige der westalliierten Streitkräfte aus deutschen Gefangenenlagern befreit worden. Insgesamt warteten ca. 50.000 Briten und Amerikaner in Russland auf die Rückkehr nach Hause. Wie aufrichtig in Washington und London die Sorge um ihre Landsmänner gewesen sein mag, lässt sich nicht mehr nachvollziehen. Dass Stalin sie genauso hart behandelt hätte wie die zurückgekehrten Sowjetbürger gilt als weniger wahrscheinlich. Doch auch wenn, ergibt sich immer noch eine enorme Diskrepanz im Zahlenverhältnis der Internierten auf beiden Seiten. (Wobei die grundsätzlichen Probleme der Abwägung von Menschenleben hier nicht erläutert werden.) Aber auch als die Rückführung der Amerikaner und Briten aus der Sowjetunion abgeschlossen war, wurden noch ca. 300.000 Sowjetbürger in ihre Heimat zurückgeführt.

Eine einstige Weltmacht am Boden

Andererseits muss berücksichtigt werden, dass Großbritannien triumphaler aufzutreten vermochte, als es die tatsächlichen Zustände zuließen. Bei den wichtigen Konferenzen zur Nachkriegsgestaltung Europas nahm Churchill als gleichberechtigter Partner am Verhandlungstisch teil, doch tatsächlich lag die einstige Weltmacht am Boden. Der Zweite Weltkrieg wurde unter hohen menschlichen und finanziellen Verlusten durchstanden, so dass London kaum noch Macht hatte, die Kolonien an sich zu binden. Indien, einst der ganze Stolz der Krone, wurde bereits 1947 unabhängig.

In dieser Situation war der britischen Regierung nur wenig daran gelegen, Hunderttausende Sowjetbürger, die meist nicht einmal der englischen Sprache mächtig waren, zu integrieren und „durchzufüttern“. Auch Anthony Eden schloss sich dieser Sichtweise an und begründete seine Politik mit den finanziellen Interessen seines Heimatlandes.

Im Falle Jugoslawiens lässt sich ein Dilemma, dass sich Kriegsgefangene beider Staaten wechselseitig auf dem Territorium der jeweils anderen Macht befanden, nicht erkennen. Nach der Zerschlagung durch die Wehrmacht hatten die Ustaschen unter der Leitung ihres Führers Ante Pavelic einen faschistischen Satellitenstaat in Kroatien errichtet. Sie begannen bald darauf eine Politik der ethnischen Säuberung, der Hunderttausende Serben zum Opfer fallen sollten. Nach Ende des Zweiten Weltkriegs sannen die jugoslawischen Kommunisten auf Rache. Mehrfach entlud sich der Hass an den Kroaten in Massakern. Mehrere Truppen der Ustaschen, aber auch viele Zivilisten flüchteten vor den Kommunisten in das benachbarte Österreich, das gegen Kriegsende von den Briten besetzt wurde. Zehntausende Flüchtlinge schlugen ihre Lager in der Nähe der kleinen Stadt Bleiburg auf. Sie erbaten den Schutz der britischen Armee und berichteten von den Verbrechen der Kommunisten. Doch die Besatzungsmacht schenkte den Beteuerungen der jugoslawischen Behörden, die die Einhaltung humanitärer Prinzipien versprachen, Glauben und verweigerte den Kroaten das Asyl. In den darauf folgenden Tagen wurden bis zu 40.000 Ustaschen und Zivilisten ermordet.

Es erscheint kaum glaubwürdig, die Briten hätten sich nicht den Forderungen Titos widersetzen können. Sie hatten ihn, genau wie Stalin während des 2. Weltkriegs logistisch und organisatorisch unterstützt. Während Stalin aber 1943 in die Offensive gehen konnte und kaum noch auf die Hilfe des Auslands angewiesen war, konnten die Briten Tito erst ab diesem Zeitpunkt mit aller Kraft unterstützen, da sie erst jetzt die Luft- und Seehoheit im Mittelmeerraum innehatten. Doch auch nach Kriegsende war der jugoslawische Staatschef auf gute diplomatische Beziehungen angewiesen. Er widersetzte sich als einziger Kommunist in Europa Stalin und wollte Jugoslawien nicht dem sowjetischen Machtblock unterordnen. Es erscheint kaum denkbar, dass Tito, der mit dem Rücken zur Wand stand, den Briten seine Bedingungen aufdiktieren konnte.

Japans koreanische Zwangsarbeiter

Vergleichbare Repatriierungen gab es auch in Fernost. Während des 2. Weltkriegs hatten die Japaner Hunderttausende Koreaner als Zwangsarbeiter in japanische Fabriken verschleppt. Nach Kriegsende war es jedoch nicht mehr möglich, sie wie Sklaven zu behandeln, sondern man sah in ihnen nur eine Belastung der Sozialkassen. Bald darauf verständigten sich die japanische und nordkoreanische Regierung unter Beaufsichtigung des Roten Kreuzes auf eine Rückführung der Koreaner. Die japanische Seite war froh, die unnützen Esser los zu sein, während die kommunistische Staatsführung auf neue Arbeitskräfte angewiesen war. Die Koreaner hatten im nationalistischen Japan alltägliche Diskriminierungen erlebt und waren froh, in ihr Heimatland zurückzukehren. In den folgenden Jahren reisten knapp 100.000 Menschen in die koreanische Volksrepublik. Zwar war die Ausreise faktisch freiwillig, doch die japanische Regierung gab die kommunistische Propaganda unverändert weiter und viele Koreaner sahen keinen anderen Weg, als das unfreundliche Japan zu verlassen.

Doch Kim Il-Sung änderte bald seine Meinung und sah in den Heimkehrern, die in Japan noch als kommunistische Spione galten, nun kapitalistische Agenten. Die Repatriierten waren fortan härteren Repressionen als die übrige Bevölkerung ausgesetzt. Die USA hatten nichts an dieser Politik auszusetzen. Ihr japanischer Botschafter Douglas McArthur schloss sich der populären Meinung an, unter den Koreanern befänden sich Kommunisten und Kriminelle.

Keil zwischen China und Sowjetunion

Weitere Brüche im kommunistischen Machtblock taten sich in den 1960er Jahren zwischen der Sowjetunion und China auf. Mao wollte nicht länger nur der Juniorpartner Moskaus sein und stieß sich an den außenpolitischen Vorstellungen Chruschtschows. In den 1960er Jahren traten die Differenzen zwischen den beiden kommunistischen Staaten umso deutlicher hervor. Das westliche Ausland verfolgte die Spannungen mit Interesse und versuchte, den Keil noch tiefer zwischen China und die Sowjetunion zu treiben. Zuvor hatten die kapitalistischen Staaten Peking die Anerkennung verweigert und stattdessen Taiwan als legitime Vertretung Chinas betrachtet. Doch nach einem Besuch Richard Nixons im Jahr 1972 veränderte sich das politische Klima. Mao erhielt die Anerkennung, für die er geworben hatte und erreichte die Aufnahme Chinas in die UNO. Auch strikt anti-kommunistische Politiker, wie Franz-Josef Strauß, bereisten das Land der Mitte. Dem Westen galt es, Mao zu stärken, um den Einfluss der Sowjetunion auf internationaler Ebene zu schmälern. Dass dieser zuvor Millionen Menschen ermordet hatte, trübte die Beziehungen nur wenig.

Am deutlichsten trat der Gegensatz zwischen dem Kommunismus sowjetischer und chinesischer Prägung jedoch in Indochina zu Tage. Nach Ende des Vietnamkriegs hatte Pol Pot in Kambodscha eine äußerst brutale Diktatur errichtet. In den 3,5 Jahren zwischen der Machtergreifung 1975 und dem Sturz 1979 starben 1,7 Millionen Menschen - bei der geringen Einwohnerzahl Kambodschas ca. 20-25 % der Bevölkerung, eine Zahl, die ihresgleichen sucht. Pol Pots Rote Khmer waren schlicht paranoid - hinter Brillenträgern vermuteten sie Intellektuelle und damit Agenten des Auslands. Im Ausland wurde die Entwicklung bestürzt verfolgt, manchen galt der Kommunist als „schlimmer als Hitler“. Doch Pol Pot witterte den Verrat auch von Seiten Vietnams. Er griff das Nachbarland an und musste eine verheerende Niederlage hinnehmen, die zur Einnahme der kambodschanischen Hauptstadt Pnom Penh und seinem Sturz führte. Die Roten Khmer zogen sich in den Dschungel und entlegene Bergregionen zurück, um für zehn weitere Jahre Krieg gegen Vietnam zu führen.

Die USA hatten ihre eigene Niederlage in der Region immer noch nicht verkraftet und überlegten, Pol Pot zu stützen. Vietnam war ein eher sowjet-kommunistisches Land gewesen und befand sich in einem dauerhaften Konflikt mit China. Dieser Konflikt entbrannte kurzzeitig in einem Krieg, den Peking führte, um Kräfte zu binden, die sonst im Kampf gegen Pol Pot bereitgestanden hätten. China war daher bereit, gemeinsame Sache mit den USA zu machen, um mit vereinten Kräften Vietnam zu schwächen. Koordinator der gemeinsamen Aktion war Zbigniew Brzezinski, als erster und einziger Pole überhaupt Nationaler Sicherheitsberater der Vereinigten Staaten. Er ermunterte China zu Hilfslieferungen an Pol Pot, die Kambodscha nur auf dem Umweg über den US-Verbündeten Thailand erreichen konnten. Außenpolitisch wurden die Roten Khmer weiterhin als legitime Exilregierung Kambodschas betrachtet und durften, dank des Einsatzes der USA, weiterhin ihren Sitz bei den Vereinten Nationen beibehalten. Zwar wurden ihnen zum Schein monarchistische und demokratische Kräfte zur Seite gestellt, an der realen Mächteverteilung blieben jedoch nur wenige Zweifel. Durch die Präsenz seiner Truppen in Kambodscha, war Pol Pot es, der die Fäden in der Hand hielt. Die enorme Waffenhilfe der USA hat bis heute Spuren in Kambodscha hinterlassen. In kaum einem anderen Land finden sich derart viele Landminenopfer.
 

Lukas Mihr

 

 

(1) Ohne Gott ist alles erlaubt? (29. Juni 2011)
(2) Ohne Gott ist alles erlaubt? - Atheistische "Helden" (5. August 2011)
(3) Wer behauptet, Atheisten = Mörder? (12. August 2011)
(4) Trug die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie bei? Teil 1 (19. August 2011)
(5) Trug die Evolutionstheorie zur NS-Ideologie bei? Teil 2 (26. August 2011)

(6) Ohne Gott ist alles erlaubt? – Zahlen (2. September 2011)
(7) Ohne Gott ist alles erlaubt? – Religionen (9. September 2011)