Rezension

Anarchistische Staatsverständnisse – ein Sammelband

BONN. (hpd) Der Politikwissenschaftler Peter Seyferth hat mit "Den Staat zerschlagen! Anarchistische Staatsverständnisse" einen Sammelband veröffentlicht, welcher Beiträge zum Thema meist bezogen auf Theoretiker von Bakunin über Kropotkin bis Landauer enthält. Die einzelnen Aufsätze zeichnen sich durch hohe Sachkenntnis mit einer aber meist apologetischen Dimension aus. Dabei sind sie insgesamt Bestandteil eines doch sehr fragmentarischen Projektes.

"Anarchismus" bringt man mit Chaos und Gewalt in Verbindung. Dabei beruht diese Gleichsetzung auf einer Fehlwahrnehmung: Der Begriff steht für eine Sammelbezeichnung, die Auffassungen und Handlungen zur Abschaffung der Institution des Staates und zur Errichtung einer herrschaftsfreien Gesellschaft erfassen will.

Der Anarchismus spielte in der Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle, verlor aber gegenüber der staatssozialistischen Konzeption des Marxismus an Relevanz. Im 20. Jahrhundert gab es insbesondere in Frankreich, Italien und Spanien bedeutende Strömungen. Heute kommt dem Anarchismus – zumindest als anspruchsvollem politischem Konzept – kaum noch eine politische Bedeutung zu. Gleichwohl verdient dessen Kritik an der Institution des Staates inhaltliche Aufmerksamkeit, denn für dessen Existenz bedarf es einer kontinuierlichen Legitimation. Diese bedingt die Auseinandersetzung mit anarchistischen Theorien, welche mit wenigen Ausnahmen (Höffe, Notzick) in der politischen Theorie nicht geführt wurde.

Cover

Eine Einladung dazu liefert der Sammelband "Den Staat zerschlagen! Anarchistische Staatsverständnis", der von dem Politikwissenschaftler Peter Seyferth in der bekannten Reihe "Staatsverständnisse" des Nomos-Verlags herausgegeben wurde. Bereits in der Einleitung macht er auf die Probleme aufmerksam, welche bei der Konzeption des Bandes bezüglich der Auswahl von Autoren und Themen bestanden. Ganz wenige Wissenschaftler beschäftigen sich noch näher mit anarchistischer Theorie. Meist handelt es sich dabei auch um Personen, die damit einhergehenden Auffassungen politisch nahe stehen, was mitunter die Distanz zum Forschungsgegenstand verschwimmen lässt. Dies ist auch in dem Sammelband der Fall. Seyferth betont außerdem in der Einleitung, wie schwer eine genaue Begriffsbestimmung von "Anarchismus" ist und welche Widersprüche in dem gemeinten politischen Lager bestehen. Letztendlich kann er denn auch keine trennscharfe Definition vornehmen und präsentiert einen eher fragmentarischen, aber nicht uninteressanten Sammelband.

Die einzelnen Beiträge widmen sich ganz unterschiedlichen Themen. Es geht um die Deutung des Staates als Folge von Entfremdung (Philippe Kellermann) und Gewaltgeschichte (David Strohmaier). Dem schließen sich Beiträge zum klassischen Anarchismus an, wobei nach Ausführungen zum Individualanarchismus wie von Max Stirner und Benjamin Tucker (Maurice Schumann) Klassiker wie Pierre-Joseph Proudhon (Shawn P. Wilbur), Michail Bakunin (Wolfgang Eckhardt) und Pjotr Kropotkin (Peter Seyferth) nähere Aufmerksamkeit finden. Ein ganzer Block widmet sich danach Gustav Landauer bezogen auf seine Auffassung von den Bünden der Freiwilligkeit (Carolin Kosuch), die Lust zum Ohnestaat (Siegbert Wolf) oder die Unmöglichkeit einer Staatszerschlagung (Jürgen Mümcken). Jüdische Russland-Exilantinnen (Birgit Schmidt) und der Anarcho-Syndikalismus (Helga Döhring) stehen dem folgend im Mittelpunkt. Und schließlich geht es noch um den Anarcho-Primitivismus (Markus Huber) und den modernen Anarchismus (Uri Gordon).

Alle Beiträge sind von guten Kenner der Materie mit hohem Informationsgehalt geschrieben. Die affirmative Dimension gegenüber dem Gegenstand wurde bereits als kritikwürdig erwähnt. Einige beachtenswerten, aber naheliegenden Themen fehlen indessen. So kommt etwa die anarchistische Marxismuskritik nur am Rande vor. Warum etwa der Anarchismus praktisch und theoretisch in Spanien eine besondere Rolle spielte, wird nicht erörtert. Wie es um das Phänomen des "Anarcho-Kapitalismus" steht, hätte in einer vergleichenden Betrachtung thematisiert werden können. Und was die Autonomen der Gegenwart als gewaltgeneigter Subkultur mit dem Anarchismus zu tun haben, wäre auch eine interessante Fragestellung gewesen. Seyfarth hat zwar die Probleme bei der Auswahl an Themen und Suche nach den Verfassern benannt. Es hätte hierzu aber sicherlich auch kompetente Mitautoren gegeben. Gleichwohl handelt es sich auch so um einen zwar fragmentarischen, aber durchaus interessanten Sammelband zu einem etwas "exotischen" Thema.

Peter Seyferth (Hrsg.), Den Staat zerschlagen! Anarchistische Staatsverständnisse, Baden-Baden 2015 (Nomos-Verlag), 306 S.