Rüdiger Nehberg – pragmatischer Visionär

hpd: Sie sind 77 und voller Power. Viele Leute, die engagiert sind, sagen: ich bin ausgebrannt. Warum sind Sie nicht ausgebrannt?

Nehberg: Weil meine Frau Annette und ich beseelt sind von unserer Aufgabe. Sie ist für uns höchste Lebenserfüllung. Denn schließlich gilt es, den größten Bürgerkrieg aller Zeiten zu beenden – die Weibliche Genitalverstümmelung. Es ist ein Krieg der Gesellschaft gegen die Frauen, seit 5000 Jahren, mit immer noch 8000 Opfern pro Tag. Hinzu kommen unsere Wut der Augenzeugen und die Erfolge, die uns antreiben und vorm Ausbrennen schützen. 

hpd: Was hat Ihnen geholfen, so knackig zu leben und Probleme nicht als Probleme zu sehen, sondern als Herausforderung?

Nehberg: Ich bin Optimist, Analytiker, Pragmatiker, Visionär. Wenn andere mich einen Fantasten und Spinner schmähen, dann schmunzle ich innerlich und halte ich es lieber mit Albert Einstein, der gesagt haben soll „Wenn eine Idee am Anfang nicht absurd klingt, dann gibt es keine Hoffnung für sie.“ Oder ich zitiere den schönen Postkartenspruch: „Wer mit der Herde geht, kann nur den Ärschen folgen.“

hpd: Nie aufhören, egal wie alt man ist?

Nehberg: Ja, wer keine Pläne mehr hat, der stirbt. Man muss sie nur der körperlichen und geistigen Restsubstanz anpassen. Mein schlechtes Gehör gleiche ich mit Hörgeräten aus, und wegen meiner nachlassenden Kraft erlaube ich mir, einen Schritt langsamer zu gehen. Zum Glück habe ich Annette. Die gleicht diese Mankos aus mit ihrer unglaublichen Power und Kreativität. Sie ist längst besser als ich. Aber keinem verraten. Das schadet meinem Image.

hpd: Was bedeutet Altern für Sie?

Nehberg: Ein Naturprozess, dem ich mich unterzuordnen habe. Wie jedes Blatt, das im Herbst zu Boden fällt. Zum Trost geht es allen Lebewesen so. Ich habe keine Angst vorm Tod. Ich will natürlich nicht qualvoll sterben. Da habe ich vorgesorgt.

hpd: In Situationen, in denen andere vielleicht in ein Motivationsloch fallen oder die beängstigend sind, was hilft Ihnen da, ein Glaube, etwas Anderes?

Nehberg: Der Respekt vor der übergeordneten Schöpfungskraft, der Glaube an meine Kräfte und Schwächen, die bestmögliche Einschätzung meiner Möglichkeiten, körperlich und geistig. Ich verlasse mich nicht auf den lieben Gott. Ich versuche, ihn bestmöglich zu entlasten.

hpd: Aber nicht unbedingt das Projekt fallen lassen?

Nehberg: Nie! Das lasse ich erst fallen, wenn mir der letzte Löffel aus der Hand fällt.

hpd: Was ist Ihr größter Schatz aus Ihrer Lebenserfahrung?

Nehberg: Dass jeder mehr kann als er denkt. Jedenfalls habe ich erkannt, dass niemand zu gering ist, etwas zu verändern, weil alles Menschgemachte immer zunächst im Kopf einer einzigen Person entstanden ist. Warum also nicht in meinem oder in deinem? Weder Herkunft, Geschlecht noch Alter spielen da eine Rolle.

hpd: Also reicht einer, um ein Feuer zu entfachen?

Nehberg: Ja. Es bedarf nur eines Funkens. Aber der muss zunächst gut geschützt werden. Es kann ein Windstoß kommen, der ihn ausbläst. Es kann regnen, dann ertrinkt er. Es kann kalt sein, und man kriegt die Finger nicht mal mehr bewegt. Dann muss man wissen, wie es weitergeht. Probleme lösen ist wie Schach spielen. Die Vorbereitungen zu Vorhaben sind oft genauso spannend wie die Aktion selbst.

hpd: Ist es das Wissen oder ist es ganz einfach die Abenteuerlust, die man dahinter hat?

Nehberg: Für mich ist es der Mix aus Abenteuerlust, überbordender Fantasie, sozialer Verantwortung, Helfersyndrom und die Bereitschaft zum Risiko. 

hpd: Aber immer auch humanistisch bleiben, nie den Respekt verlieren vor den Menschen?

Nehberg: Respekt hat bei mir oberste Priorität. Noch nie habe ich mich für etwas Besseres gehalten, nur weil der andere bunt ist, schwarz, gelb, rot, gold, jung, alt, Frau, Kind. Allenfalls, wenn er, sie, es ein Arsch ist. Aber nicht, weil er schwarz ist.

hpd: Sie verdienen Ihr Geld mit den Vorträgen und Büchern, weil Sie TARGET nicht belasten wollen mit dem, was Sie fürs Leben brauchen. Haben Sie Ihr Geld immer entweder mit dem Bäckerhandwerk oder jetzt mit Vorträgen verdient?

Nehberg: Ja, das ist der Anspruch an mich selbst. Ich möchte nicht, dass Spender denken, ich mache mir einen schönen Tag mit ihren Spenden. Ich arbeite hart. 25 Stunden am Tag. Schon zu Zeiten der Bäckerei habe ich meine Reisen immer mit Geldern beglichen, die ich mit Vorträgen oder Büchern erworben hatte. Meine Mitarbeiter sollten nie das Gefühl haben, dass sie es sind, die mir meine Monate langen Reisen finanzierten. Sie hatten Einsicht in die Bilanzen.

hpd: Wenn jetzt einer nur ein einziges Buch von Ihnen kaufen wollte, welches wäre das wichtigste?

Nehberg: Wenn er sich für Survival interessiert: ‚Überleben ums Verrecken’. Ansonsten meine Biografie, um Lesern zu zeigen, wie viel mehr jeder aus seinem Leben machen kann. Und wer sich für den Kampf gegen Weibliche Genitalverstümmelung interessiert, der wählt die „Karawane der Hoffnung“.

hpd: Gibt es einen Satz, einen Rat, einen Gedanken, einen Wunsch oder was auch immer, etwas, was Sie allen Menschen sagen würden, wenn Ihnen alle zuhören würden?

Nehberg: Ich denke, was uns alle vereint, sind die Träume, die jeder hat. Wenn die alten Strategien, sie zu erfüllen, bisher keinen Erfolg gebracht haben, muss er sich neue ausdenken, aber nicht resignieren. Dann soll er ranklotzen. Nicht morgen, sondern sofort. Denn heute beginnt der Rest des Lebens.

 

hpd: Eine ganz andere Frage. Sind Sie Frühaufsteher?

Nehberg: Ja.

hpd: Wie früh?

Nehberg: Ich werde immer von alleine so um 6:00 Uhr wach, innerer Wecker. Das sind Veranlagung und ein Überbleibsel aus der Bäckerzeit. Immerhin war ich 40 Jahre in dem Beruf tätig.

hpd: Gibt es noch irgendetwas, was Sie gerne erzählen würden oder gerne in dem Interview hätten und wir nicht gefragt haben?

Nehberg: Nein. Ihr habt mich genug ausgequetscht. Jetzt brauche ich einen starken Kaffee. Denn schlafen kann ich noch genug, wenn ich tot bin.

Vielen Dank für das Interview!

Das Interview mit Rüdiger Nehberg führten Christian Voecks und Andrea Ballhause.