Rainer Maria Woelki, seit einem Jahr amtierender Erzbischof in Berlin, warnte vor einer „Gesellschaft der perfekten Menschen“, die sich allzu schnell als „Gesellschaft ohne menschliches Antlitz“ offenbaren könne. Es verwundere den Bischof, dass „unsere freie und demokratische Gesellschaft nach all den Erfahrungen mit den totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts (…) wieder mit der gleichen Infragestellung des Lebensschutzes“ konfrontiert sei. Hans-Jürgen Abromeit, evangelischer Bischof in Mecklenburg-Vorpommern mit Sitz in Greifswald, behauptete, dass neu entwickelte Bluttests zur Überprüfung auf Trisomie-21 das Lebensrecht der Menschen mit Down-Syndrom in Frage stellen würde.
Auch die großen Medien spielen mit, wie WELT ONLINE wenige Tage vor dem Marsch mit der Veröffentlichung eines Aufsatzes von Manfred Spieker, Professor für Christliche Sozialwissenschaften an der Universität Osnabrück, zeigte. Spieker wollte anhand statistischer Daten zeigen, dass der Schutz ungeborener Kinder gescheitert sei und plädierte ebenfalls für Strafrechtsreformen zur Verringerung von Schwangerschaftsabbrüchen.
Die Bewegung der selbsternannten Lebensschützer ist somit vorläufig endgültig auch in Deutschland angekommen, und die Initiatoren werden sich auf ihrem diesjährigen Erfolg kaum ausruhen. Die schärfere Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen und Suizidhilfe soll unbedingt kommen, die Verfolgung von Ärztinnen und Ärzten, die das Selbstbestimmungsrecht von Menschen – ob der Schwangeren oder Sterbenskranken – erst nehmen, ist bereits heute weltweit Realität.
Zu welchen Erfahrungen mit fanatischen Gläubigen die Entwicklungen führen, berichtete vor kurzem in der taz die Mitarbeiterin eines Berliner Familienplanungszentrums. Über die Lage der reproduktiven Rechte von Frauen sprach die Kulturwissenschaftlerin, Publizistin und Vertreterin der internationalen „Pro Choice“-Bewegung, Sarah Diehl, im Interview mit der Filmemacherin und säkularen Aktivistin Ricarda Hinz. Die Rechte von Frauen und Mädchen und ihre Gesundheit seien nicht nur weltweit, sondern ebenfalls in Deutschland bis heute eine Verhandlungsmasse konservativer Politikern, so Diehl im Interview. Und dass die sexuelle Selbstbestimmung ein internationales Thema ist, zeigte auch der diesjährige Marsch für das Leben in Berlin. Dort war unter anderem eine Gruppe von 130 Teilnehmern aus Polen anzutreffen, die eigens für diesen Marsch in die deutsche Hauptstadt gereist waren.
Und gerade etwa einmal genau so viele Menschen zeigten den insgesamt rund 3.000 durch Berlin marschierenden religiösen Fundamentalisten, dass sie mit deren reaktionären Plänen nicht einverstanden sind. Das linksautonome Netzwerk „What the Fuck – gegen christlichen Fundamentalismus und Abtreibungsverbot“ hatte rund 100 Aktivisten mobilisiert und begleitete den „Marsch für das Leben“ mit Transparenten, Sprechchören und Slogans wie „Deutschland stirbt aus, da klatschen wir Applaus“.
Arik Platzek