Berührungspunkte
So groß die ideologischen Unterschiede zwischen beiden Diktatoren auch scheinen mögen, gab es dennoch viele Berührungspunkte. Sie führte zur Komplizenschaft in Osteuropa, genauso wie im Westen. Stalin war eben nicht nur der Herrscher über die Sowjetunion, sondern über alle Genossen weltweit. Seinen Kurs zwang er den kommunistischen Parteien im Ausland auf. Auch in Deutschland näherten sich linke und rechte Extremisten an. Die nationalistischen Positionen der KPD überraschen heutige Ohren, waren damals jedoch logisch.
Die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische Truppen 1923 wurde auf rechter Seite zum Kampf zweier Völker stilisiert. Auf linker Seite sah man hingegen die Ausbeutung deutscher Arbeiter durch die Großbourgeoisie Frankreichs. Hin zu einer Kooperation war es nur noch ein kurzer Weg. Leo Schlageter, der wegen seiner Widerstandshandlungen von einem französischen Militärgericht zum Tode verurteilt wurde, erfuhr von beiden Seiten des politischen Spektrums Würdigung. Den Rechten galt er als „Erster Soldat des Dritten Reichs“, genauso wurde er aber auch in Publikationen der KPD als nationaler Märtyrer gefeiert. Teils gerierten sich die Kommunisten aber auch als die „wahren“ Nationalisten und warfen Hitler vor, die deutsche Minderheit in Südtirol im Zuge seiner Kooperation mit Mussolini verraten zu haben.
Kommunistischer Antisemitismus
Auch Antisemitismus war in der KPD weit verbreitet. Zwar wurde nicht gegen die jüdische Rasse, wohl aber gegen das jüdische Kapital gehetzt. Kein Widerspruch zu Marx, denn dieser hatte (obwohl selbst Jude!) geschrieben: „Das Geld ist der eifrige Gott Israels, vor welchem kein andrer Gott bestehen darf. […] Die chimärische Nationalität des Juden ist die Nationalität des Kaufmanns, überhaupt des Geldmenschen.“
In der Diktion, dass „Hakennasen“ die Hakenkreuze finanzieren, warfen KPD-Funktionäre jüdischen Kapitalisten vor, hinter der NSDAP zu stehen, um ein Mittel zur Vernichtung der Arbeiterklasse in der Hand zu haben. Der Antisemitismus Hitlers war der beste Beweis für diese These, denn er sollte von den Sponsoren der Partei ablenken. Aus ihrer antizionistischen Position heraus äußerte die Rote Fahne 1929 Verständnis für Pogrome in Palästina, bei denen ca. 100 jüdische Siedler von Arabern getötet wurden.
KPD und NSDAP schwankten immer und waren sich nicht sicher, ob sie sich verbünden oder bekämpfen sollten. Gelegentlich kam es zur Kooperation. Demokratie im Allgemeinen, und Sozialdemokratie im Speziellen, waren beiden Parteien ein Dorn im Auge. Und so riefen beide Parteien 1931 zum Volksentscheid zur Auflösung des preußischen Landtags auf, der aber scheiterte. Vorerst konnte die dortige SPD-Regierung im Amt bleiben. Gemäß der Stalinschen Sozialfaschismustheorie war ein Zusammengehen der linken Kräfte auch gar nicht möglich. Die SPD galt als eine Tarnorganisation des Kapitals, die der KPD Wähler mit vorgeblich linken Positionen abspenstig machen sollte, um so indirekt den Faschismus zu ermöglichen. Angebote der Sozialdemokraten, zusammen mit allen linken Kräften eine parlamentarische Mehrheit gegen Hitler zu errichten, wurden abgelehnt.
Molotow-Ribbentrop-Pakt
Auch war der Molotow-Ribbentrop-Pakt nicht bloß Realpolitik zweier Staaten mit gleicher Expansionsrichtung. Genauso war er auch autoritäre Weisung an alle Kommunisten weltweit und damit zutiefst ideologisch. Die britischen Genossen organisierten Streiks in der Kriegsindustrie, um Churchills Angriffe auf Stalins Partner abzuschwächen. Die kommunistische Partei der USA verfuhr ähnlich. Sie wollte die ersten Informationen über den anlaufenden Völkermord nicht wahrhaben. Roosevelts Außenpolitik war Kriegstreiberei, die nur der amerikanischen Industrie diene. Logisch, dass Berichte über Gewalt gegen Juden nur die übliche Propaganda seien. Zudem sollten die USA, in denen ja selbst ein antisemitisch aufgeladenes Klima herrsche, nicht mit dem Finger auf andere zeigen. Als sei diese kommunistische Holocaustleugnung noch nicht seltsam genug, kommt hinzu, dass selbst viele jüdische Parteimitglieder diese Linie mittrugen und den Mord am eigenen Volk kleinredeten. Zu diesem Zeitpunkt hätte die kommunistische Partei eine Lockerung der Einwanderungsbestimmungen fordern können. Viele jüdische Flüchtlinge, die per Schiff die USA erreichten, wurden auf dem gleichen Weg zurück nach Europa geschickt.
In Jugoslawien hatten die Kommunisten am Einmarsch der Wehrmacht zuerst wenig auszusetzen. Warum auch? Die Besetzung des Balkanstaats ließ die Demarkationslinie des Molotow-Ribbentrop-Paktes unangetastet. Zudem war die jugoslawische Monarchie den Kommunisten des Landes schon immer ein Dorn im Auge gewesen. Erst mit dem Überfall auf die Sowjetunion entwickelte sich langsam eine Partisanenbewegung. Immerhin zwei Monate, die ungenutzt verstrichen. Mit dem Balkanfeldzug zu Beginn April 1941 mussten die Planungen für das Unternehmen Barbarossa weiter nach hinten verschoben werden. Gerade eine Invasion in diesen wenigen Wochen im Frühling und Sommer hätte verhindern können, dass die Wehrmacht im herbstlichen Schlamm oder winterlichen Frost vor Moskau steckenblieb. Eine früher begründete Partisanenbewegung hätte den Vorstoß an der Ostfront noch zäher gestalten können.
Stalins Antisemitismus
In der Wahrnehmung Stalins spielt der Holocaust keine besondere Rolle. Jede Würdigung der Juden als Opfer des Faschismus hätte das Sowjetvolk als eigentliches Opfer in den Hintergrund rücken lassen. Die Arbeiterbewegung wurde glorifiziert. Jeder Kommunist der unter Hitler starb, hatte sein Schicksal selbst gewählt und war damit ein Märtyrer. Ein Jude der unter Hitler starb, geriet qua Geburt ins Visier des Nationalsozialismus, nicht durch „eigene Leistung“. Eine besondere Hervorhebung des Holocaust war in der marxistischen Geschichtsschreibung nicht vorgesehen. Diese fokussierte sich auf das Abgleiten (einiger, nicht aller!) der kapitalistischen Staaten in den Faschismus und den Krieg gegen den Kommunismus, nicht aber auf den gezielten Mord an einem ganzen Volk.
Abgesehen von diesen eher theoretischen Motiven hegte Stalin tatsächlich einen tiefen Antisemitismus. Den jüdischen Geliebten seiner Tochter Swetlana ließ er inhaftieren. Nach 1945 radikalisierte sich das antisemitische Klima in der Sowjetunion. Während des 2. Weltkriegs wurde das Jüdische Antifaschistische Komitee gegründet, das vor allem der Propaganda gegen Hitler diente. Nach dem Sieg über Deutschland war es überflüssig geworden. Ab 1948 ließ Stalin mehrere seiner Mitglieder hinrichten.
Kurzzeitig stand Stalin Israel freundlich gegenüber, da er auf einen kommunistischen Satellitenstaat am Mittelmeer hoffte. Als sich diese Hoffnungen zerschlugen, wandelte sich seine Position. In der Sowjetunion selbst wurden Juden der Sympathie für Israel oder die USA verdächtigt. Zur gleichen Zeit begann auch eine Kampagne gegen „Zionisten“ und „Wurzellose Kosmopoliten“. Zwar zielten diese eher auf die Vernichtung der jüdischen Kultur, als auf das Volk als solches ab, doch wurden sie immer wieder von gezielten Mordaktionen begleitet. In der „Nacht der toten Dichter“ wurden mehrere jiddische Schriftsteller erschossen. Kurz vor seinem Tod fürchtete sich Stalin vor jüdischen Ärzten, die Funktionäre der kommunistischen Partei mit falschen Medikamenten vergiften könnten. Die ersten von ihnen wurden bereits inhaftiert, als der Tyrann starb. Ob er die antisemitische Kampagne noch intensivieren wollte und nur sein Tod schlimmeres verhinderte, bleibt weiterhin unklar.
Im Verbrechen einig
Auch wenn sich Hitler und Stalin verfluchten — In ihren Verbrechen waren sich beide Tyrannen oft genug einig und bewunderten sich gegenseitig. In der Führungsetage des Dritten Reichs wurde mit Freude beobachtet, wie während des Großen Terrors die Zahl der Juden im Sicherheitsapparat der Sowjetunion immer weiter abnahm. Auf dem Höhepunkt des 2. Weltkriegs konnte sich Hitler mit dem Gedanken anfreunden, die Russen hinter den Ural zu treiben und Stalin über den Rest der Sowjetunion herrschen zu lassen. Dessen Politik der harten Hand gegenüber seinem eigenen Volk war kompatibel mit den Vorstellungen der slawischen Untermenschen, die nur unter der Knute parierten. Noch im Bunker der Reichskanzlei tobte der Führer, dass der Zusammenbruch an der Ostfront zu vermeiden gewesen wäre, hätte er nur genauso konsequent seine Generale an die Wand gestellt, wie Stalin. (Immerhin: einen 20. Juli gab es in Moskau nie.)
Stalin zeigte sich 1934 beeindruckt von Hitler, der sich in der ‚Nacht der langen Messer‘ der SA-Führung um Röhm, sowie konservativer Monarchisten entledigte. Nicht viel anders ging er selber wenige Jahre später mit seinem Henker Jeschow um. Und auf der Konferenz von Jalta, auf der sich das gesamte Ausmaß der nationalsozialistischen Schreckensherrschaft schon erahnen ließ, stellte er Churchill und Roosevelt Beria mit den Worten: „Das ist unser Himmler!“, vor.
Hitler und Stalin waren keine Feinde, sondern Rivalen.
Lukas Mihr