(hpd) In dieser Interview-Serie geht es jeden Mittwoch um den Einfluss der Europawahl auf Menschenrechte und selbstbestimmtes Leben und Sterben.
Die Aktivistin Karin Heisecke befasst sich seit vielen Jahren mit sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung, insbesondere auf europäischer Ebene. Hier zeigt sie die Folgen kirchenfinanzierter Kampagnen in europäischen Gremien bei mangelhafter Gegen-Mobilisierung auf nationaler Ebene auf.
Hallo Karin Heisecke,
als gut vernetzte Aktivistin engagieren Sie sich in mehreren europäischen Ländern für Frauenrechte und sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung. Sie haben in den vergangenen Jahrzehnten in Brüssel gearbeitet, unter anderem beim europäischen Dachverband der Familienplanungs-Organisationen IPPF und beim Brüssel-Büro des Bevölkerungsfonds der Vereinten Nationen, dem UNFPA. Seit 2001 sind Sie aktiv bei V-Day, der internationalen Bewegung gegen Gewalt an Frauen und für sexuelle Selbstbestimmung.
Bei der reproduktiven Selbstbestimmung zeigt sich gerade sehr anschaulich, welche Rolle die Europapolitik bei Fort-, aber eben auch Rückschritten haben kann. Kürzlich war eine Anhörung im Europäischen Parlament (EP) zu der Europäischen Bürgerinitiative „One of Us“. Worum ging es da genau?
Karin Heisecke: Bei der Europäischen Bürgerinitiative „One of Us“ geht es kurz gesagt um die Forderung, dass die EU keine Mittel mehr bereitstellt für Forschung, bei der womöglich Embryonen zerstört werden, und für alle Gesundheitsprojekte in der Entwicklungszusammenarbeit, die Abtreibung nicht explizit ausschließen.
Wie konnte es der konservativen „One of Us“-Bewegung gelingen, eine Anhörung im Europäischen Parlament zur Einschränkung der Stammzellenforschung und für Einschränkungen der EU-Entwicklungshilfe für sexuelle und reproduktive Gesundheit zu initiieren?
Der Vertrag von Lissabon (2009) ermöglicht Europäische Bürgerinitiativen, genannt EBI, also eine Art Volksbegehren auf europäischer Ebene. Kommen über eine Million Unterschriften aus mindestens sieben der 28 Mitgliedsstaaten zusammen, müssen sich die Europäische Kommission und das Europäische Parlament (EP) mit dem Anliegen befassen. Die erste EBI wand sich Mitte 2013 erfolgreich gegen die Privatisierung von Wasser in der EU.
Die Anhörung im EP ist zustande gekommen, weil die Initiative „One of Us“ die Anzahl der notwendigen Unterschriften in 18 der 28 Mitgliedsstaaten erreicht hat und von der Europäischen Kommission als gültig anerkannt wurde. Es haben fast 500 Personen an der Anhörung am 10. April teilgenommen, die meisten waren UnterstützerInnen der Initiative, viele davon sind aus Italien und Spanien angereist. Die Debatte verlief recht hitzig, wie ein Video davon zeigt.
Die katholische Kirche hat kräftig geholfen bei der Mobilisierung für die Initiative. Die Adresse der „Bürgerinitiative“ ist übrigens eine Kirche in der Nähe des Europäischen Parlaments in Brüssel. Auch andere christliche Gruppen sind involviert, in Griechenland z.B. hat die Orthodoxe Kirche Unterschriften für „One of Us“ gesammelt.
Wenn man die UnterstützerInnen der Kampagne etwas genauer anschaut, zeigt sich eine Finanzierung zu 96 Prozent von zwei rechtskonservativen katholischen Organisationen in Italien und Spanien, die von zwei konservativen, Vatikan-nahen Europaabgeordneten gegründet wurden. Außerdem wird die Initiative durch radikale Evangelikale aus den USA unterstützt.
Die Europaabgeordnete Ana Gomes wurde in der Anhörung ausgebuht, als sie zu den finanziellen und personellen Hintergründen eine Frage stellte. Das lässt vermuten, dass es den „One of Us“- OrganisatorInnen in Europa nicht gelegen kommt, ihre Verbindungen in die USA transparent zu machen.
Der juristische „focal point“ von „One of Us“, Grégor Puppinck, ist der Generaldirektor des sogenannten European Centre for Law and Justice (ECLJ). ECLJ wurde als europäischer Ableger des US-amerikanischen American Centre for Law and Justice (ACLJ) von dem für seine extremen, antifeministischen Ansichten bekannten US-amerikanischen Tele-Evangelisten Reverend Pat Robertson gegründet. Puppinck ist auch aktiv in der Bewegung „Manif pour tous“ (gegen gleichgeschlechtliche Ehe) in Frankreich. Es ist also recht offensichtlich, dass es hier viel umfassender um sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung geht. Auch das Statement von Sophia Kuby von „European Dignity Watch“ (Tochter der einschlägig bekannten Gabriele Kuby) bei der Anhörung machte deutlich, dass es nicht nur um Abtreibung geht, sondern um eine Unterminierung fortschrittlicher Positionen und das Recht auf sexuelle und reproduktive Gesundheit.
Es gab in den vergangenen Monaten im Europäischen Parlament mehrere Initiativen für Berichte zu sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung, die von den „One of Us“-UnterstützerInnen attackiert wurden. Der „Bericht über sexuelle und reproduktive Gesundheit und die damit verbundenen Rechte“ der portugiesischen Abgeordneten Edite Estrela wurde zu Fall gebracht. Ebenso der „Bericht über die Gleichstellung von Frauen und Männern in der Europäischen Union (2012)“ von der portugiesischen Abgeordneten Inês Cristina Zuber. Der „Bericht über den EU-Fahrplan zur Bekämpfung von Homophobie und Diskriminierung aus Gründen der sexuellen Orientierung und der Geschlechtsidentität“ der österreichischen Abgeordneten Ulrike Lunacek wurde auch attackiert, allerdings ohne Erfolg.
Europa Parlament Straßburg. Foto: © Evelin Frerk
Gab es nennenswerte Unterstützung aus Deutschland?
Nicht nur Bischöfe und Priester unterstützten das Sammeln von Unterschriften für „One of Us “ und die Mobilisierung gegen die oben genannten EP-Berichte, sondern auch rechtspopulistische Gruppen. In Deutschland beispielsweise die AfD-nahe Plattform „Zivile Koalition“, deren Blog und die Initiative Eurocheck.
Bei der EBI von „One of Us“ war es für die OrganisatorInnen von Vorteil, dass viele Menschen in Deutschland schlecht informiert waren. Die Art und Weise, wie die Initiative sich präsentierte, hat dazu geführt, dass auch Menschen, die generell eine fortschrittliche Haltung zu den betreffenden Themen haben, unterschrieben haben. In ihrer Kommunikation hat sich die Initiative auf ein europäisches Gerichtsurteil bezogen, das Greenpeace erstritten hat (“Brüstle V Greenpeace” von 2011). In diesem Urteil geht es um die Patentierbarkeit des menschlichen Embryos und die Auslegung des Embryonenbegriffs in Bezug auf Stammzellenforschung. Die Stellungnahme des Generalanwalts zu diesem Urteil machte deutlich, dass die Definition eines Embryos im Sinne des Patentrechts nicht gleichzusetzen sei mit der Definition eines menschlichen Embryos in anderen Bereichen, vor allem bei Schwangerschaftsabbrüchen, bei denen es um individuelle Konfliktsituationen gehe.
Dass die „One of Us“-AktivistInnen den Inhalt des Gerichtsurteils nicht akkurat wiedergegeben haben, und dass das, was sie fordern, letztlich nichts mit dem Greenpeace-Urteil zu tun hat, konnte man nur wissen, wenn man sich intensiv damit auseinandergesetzt hat.
Die GegnerInnen von „One of Us“ traten sehr gut vernetzt und bestens vernehmbar auf. Europaabgeordnete unterschiedlicher Parteien hatten sich mit NGOs wie European Parliamentary Forum on Population and Development (EPF), IPPF EN, European Women’s Lobby (EWL), Centre for Reproductive Rights (CRR), European Humanist’s Federation, DSW (Deutsche Stiftung Weltbevölkerung) zusammengetan.
Ist eine solche Vernetzung selbstverständlicher EU-Alltag oder wie erleben Sie als erfahrene Netzwerkerin die Entwicklungen?
In Brüssel sind die NGOs und die Europaabgeordneten, die sich für sexuelle und reproduktive Gesundheit und Rechte einsetzen, gut vernetzt und gut informiert. Auf der nationalen Ebene in den EU-Mitgliedsländern ist das leider noch nicht gleichermaßen der Fall.
Die fanatischen AbtreibungsgegnerInnen haben es geschafft, viele Menschen an der Basis zu mobilisieren, nicht nur für die EBI, sondern auch anschließend gegen die erwähnten EP-Berichte. Der Estrela-Bericht und der Zuber-Bericht wurden gekippt, nachdem sie mit konzertierten E-Mail-Kampagnen an Europaabgeordnete attackiert wurden. Beim Lunacek-Bericht waren diese Attacken nicht erfolgreich: ILGA Europe, der Dachverband der Lesben-und Schwulenverbände, hat seine Mitgliedsorganisationen mobilisiert und ein breites Bündnis zur Unterstützung des Lunacek-Berichts zusammengebracht, um Europaabgeordnete aufzufordern, für den Bericht zu stimmen. In Zukunft werden hoffentlich auch Frauenorganisationen es schaffen, ihre Mitglieder und BündnispartnerInnen gleichermaßen erfolgreich zu mobilisieren, wenn es um die Rechte und Selbstbestimmung von Frauen geht.
In der EU gibt es doch eine recht klar festgeschriebene und fortschrittliche Haltung zur reproduktiven und sexuellen Gesundheit, oder muss das jedes Mal neu diskutiert werden? Und um welche Gelder geht es eigentlich?
„One of Us“ geht es um die EU-Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe, derzeit der einzige Bereich der EU-Politik, wo konkret finanzielle Mittel für diese Bereiche zur Verfügung gestellt werden. Die EU hat hier schon lang eine klare Position, die sich an dem Aktionsprogramm der Internationalen Konferenz zu Bevölkerung und Entwicklung (ICPD) orientiert, ebenso wie an den Millenniumsentwicklungszielen, insbesondere Ziel 5 zur Müttergesundheit. Das Aktionsprogramm der ICPD ist ein weltweiter Konsens, der vor 20 Jahren von den UNO-Mitgliedsstaaten beschlossen wurde, und der die Gesundheit und die Menschenrechte von Frauen als zentral für Bevölkerungspolitik anerkennt.
Die EU ist weltweit eine wichtige Unterstützerin von Maßnahmen für Müttergesundheit im Globalen Süden, wo noch immer täglich 800 Frauen wegen mangelnder sexueller und reproduktiver Gesundheitsversorgung sterben. Eine Streichung der Mittel in diesem Bereich würde die Situation noch verschlechtern und weitere Menschenleben kosten.
Ist so eine EBI eine formale Angelegenheit, bei der sich die Europäische Kommission und das Parlament beschäftigen müssen oder sehen Sie reale Gefahren für Rückschritte?
Wir werden sehen, wie die Stellungnahme ausfällt, die die Europäische Kommission bis zum 28.5.2014 abgeben muss. Es ist schwer vorstellbar, dass die Kommission sich von dem internationalen Konsens des ICPD-Aktionsprogramms abwenden wird; insbesondere nachdem die Weltgemeinschaft erst kürzlich bestätigt hat, wie wichtig seine Umsetzung im Rahmen einer gerechten und nachhaltigen Entwicklung und Armutsbekämpfung ist.
Lässt sich das anhand der Anhörung erkennen? Wie wurde dort reagiert?
Grégor Puppinck hat in der Anhörung angekündigt, dass die EBI erst der Anfang einer Bewegung sei. Die Europäische Kommission und das Europäische Parlament sollten sich also auf weitere Initiativen gegen sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung, sowohl in Europa als auch im Rest der Welt, gefasst machen.
Die Argumentationslinien der radikalen Abtreibungsgegner lassen nicht immer gleich erkennen, was ihre wirkliche Agenda ist. Es ist wichtig, dass alle AdressatInnen ihrer Botschaften über die Hintergründe gut informiert sind. Ohne diese Aufklärungsarbeit besteht die Gefahr, dass rückschrittliche Positionen durch irreführende Argumentationen Mehrheiten finden können.
Sind die "One of Us"-Leute eine Ausnahme oder ist das eine neue, sich verbreitende Form der Agitation der Konservativen?
Sie sind eine Ausnahme in dem Sinn, dass sie nur eine kleine Minderheit der Gesellschaft repräsentieren. Sie sind eine neue Form der Agitation in dem Sinne, dass sie gut vernetzt und gut organisiert sind und damit, trotz ihrer geringen Anzahl, eine große Mobilisierungskraft haben und politischen Einfluss ausüben können.
Da sie europaweit gut vernetzt sind und auch von erfahrenen Gruppen aus den USA unterstützt werden, müssen wir mit weiteren Attacken und Instrumentalisierungen von konsensfähigen Themen rechnen.
Die spanische Platform Citizengo, die ultrakonservative Petitionen in sieben Sprachen verbreitet, die deutsche „Freie Welt“ und Eucheck.org, die französische „Manif pour tous“-Bewegung und „One of Us“ haben mit 80.000 bis 200.000 Emails gegen die Berichte im Europaparlament mobilisiert. In den vergangenen zehn Jahren hat sich die Anzahl der Lobby-Büros von ultrakonservativen Gruppen in Brüssel verfünffacht.
Welche nächsten Etappen zu reproduktiver und sexueller Selbstbestimmung und zum Thema Gewalt gegen Frauen stehen auf Ihrer europäischen Tagesordnung?
Einiges wird davon abhängen, wie die Mehrheiten im Parlament und wie die Zusammensetzung der neuen Europäischen Kommission aussehen werden. Je nachdem werden Rückschritte verhindert werden müssen oder es wird möglich sein, Schritte nach vorn zu gehen.
Zum Thema Gewalt gegen Frauen steht nach wie vor aus, dass die Europäische Kommission eine schon lang angekündigte und von den Mitgliedsstaaten und dem Parlament geforderte Strategie und einen Aktionsplan erstellt. Die Ratifizierung der „Istanbul-Konvention“ des Europarates (Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt) durch alle EU-Mitgliedsstaaten und die EU als Institution haben hohe Priorität. Die Konvention wird am 1.8. 2014 in Kraft treten, aber bisher haben erst fünf EU-Mitgliedsländer ratifiziert und die Europäische Kommission hat sich noch nicht für eine Ratifizierung der EU ausgesprochen.
Warum ist es wichtig, am 25. Mai zur Europawahl zu gehen?
Weil wir so mitentscheiden können, wer uns bei Entscheidungen in der EU vertritt. Die deutschen Europaabgeordneten haben einen starken Einfluss auf die Mehrheitsverhältnisse im EP, da Deutschland das Land mit den meisten EinwohnerInnen ist und dadurch mit den meisten Abgeordneten. Bei der Abstimmung zum Estrela-Bericht zum Beispiel spielten die deutschen CDU-Abgeordneten eine wichtige Rolle. Hätten sie anders abgestimmt, wäre der Bericht nicht gekippt. Viele von ihnen sind sicher keine radikalen GegnerInnen von sexuellen und reproduktiven Rechten und hätten womöglich anders abgestimmt, wenn sie nicht so einseitig nur von den radikalen AbtreibungsgegnerInnen ge-lobbied worden wären.
Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass es hier nicht nur um sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung geht. Die ultrakonservativen Gruppen vertreten eine Weltsicht, die mit demokratischen Werten schwer vereinbar ist, z.B. in Bezug auf die Rolle der Frau in der Gesellschaft und in Bezug auf Religion.
Nach der Wahl wird es wichtig sein, das Europa-Parlament im Blick zu behalten, mit den deutschen Abgeordneten in Kontakt zu bleiben und sie daran zu erinnern, was wir als WählerInnen von ihnen erwarten - und dass es nicht akzeptabel ist, dass sie bei Abstimmungen die Position einer kleinen, aber gut organisierten Randgruppe der Gesellschaft vertreten.
Das Interview führte Corinna Gekeler
Am 28.04.2014 beschrieb der Guardian die verheerenden Folgen, die die Kampagne „One of Us“ weltweit für die ärmsten Frauen haben könnte.
Bislang in der Interview-Serie zur Europawahl erschienen:
Sophie in ´t Veld: Europa-Abgeordnete der niederländischen linksliberalen D66 und Vorsitzende der Europäischen Plattform für Säkularismus in der Politik (EPPSP)
Dr. Margret Steffen: Gewerkschaftssekretärin für Gesundheitspolitik in der ver.di-Bundesverwaltung und Expertin für gewerkschaftliche Europapolitik
Werner Hager: Sprecher der Säkularen Grünen NRW, der sich insbesondere mit Europapolitik befasst
Elfriede Harth: Katholische Feministin, die sich für sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung engagiert
Conny Reuter: Generalsekretär von SOLIDAR, Co-Präsident der Liasion-Gruppe der europäischen Netzwerke beim Europäischen Wirtschafts- und Sozialausschuss und bis 2013 Präsident der Europäischen Sozialplattform.
Rob Buitenweg: Vorstandsvorsitzender des Nederlands Humanistisch Verbond und im Vorstand der European Humanist Federation (EHF).