Interview

Nietzsche gegen das Christentum

Was heißt hier: “so einfach”? Das klingt ja fast nach dem berühmten gallischen Dorf …

Durchaus, solange wir nicht vergessen, dass dieses Dorf dicht besiedelt war. “Sondervoten” bedeutet nicht, dass niemand sonst die jeweils üblichen Trampelpfade meidet. Nietzsche war ein Querkopf, zog und zieht Querköpfe geradezu magisch an. Darunter leider nicht wenige Spinner und Selbstinszenierer, die auch Nietzsche nur benutzen, um sich selbst in besseres Licht zu stellen. So findet man ein buntes Völkchen unter seinen Lesern und Interpreten. Was nicht nur Nachteile hat. Glücklicherweise gab und gibt es auch ausgezeichnete Interpreten, darunter solche, von denen ich viel zu lernen suchte; und weiterhin lernen kann. Doch leider haben sie andere Schwerpunkte, vor allem verzichten sie auf konsequent genetische Perspektiven. Genau diese jedoch sind bei Nietzsche unverzichtbar.

 

“Unverzichtbar” ist ein großes Wort, doch wie belegen Sie diese These? Vor allem: Was meinen Sie ganz generell mit “genetischer Perspektive”? Warum soll diese gerade bei Nietzsche so wichtig, ja “unverzichtbar” sein?

Gestatten Sie, dass ich, der Kürze wegen, sofort bei Nietzsche einsetze? Wir haben eine Flut an Literatur zu Nietzsche und über Nietzsches Themen, weit über zehntausend Titel, besitzen bereits im deutschen Sprachraum zwei umfangreiche Jahrbücher, haben hier jährlich meist mehrere Tagungen, zuweilen größere Kongresse… Und bei aller Betriebsamkeit noch immer kaum ein Hauch von Konsens in der Deutung größerer Zusammenhänge? Bereits die Vielheit unvereinbarer Deutungen belegt, dass sich wenigstens die meisten Autoren täuschen müssen. Ja, warum? Weil sie noch vor allen anderen Kompetenzdefiziten genetisch abstinent, wenn nicht sogar genetisch blind sind…

 

… nochmals: warum entscheidet das gerade bei Nietzsche?

Geduld, genau das erkläre ich ja gerade. Dass Nietzsches Schriften von der “Geburt der Tragödie”, 1872, an über “Menschliches, Allzumenschliches”, 1878, und “Also sprach Zarathustra”, 1883–1885, bis zu “Der Antichrist” und “Ecce homo”, Herbst 1888, den Eindruck einer so rasanten Entwicklung nahelegen, dass man sich, wüsste man’s nicht besser, schwer täte, anzunehmen, sie stammten von demselben Autor, verwundert kaum. Doch das impliziert, dass man den roten Lebensleid- und Lebensleitfaden Nietzsches durch Lektüre allein seiner Veröffentlichungen selbst in ihrer Gesamtheit offensichtlich nicht so eindeutig aufzuspüren vermag, dass auch unabhängigere Köpfe zustimmen.

Dennoch gibt es keinen Grund, zu resignieren. Von diesem so schwer deutbaren Autor, einem Meister zumal der kleinen Form, gibt es aus dessen Kinder- und Jugendjahren den wohl reichhaltigsten schriftlichen Nachlass, der bisher von einem vergleichbar renommierten Autor weiter zurückliegender Jahrhunderte bekannt geworden ist. Und nicht nur das: Diesen Nachlass kann man seit 1935 in großzügiger Auswahl im Druck und mittlerweile in einer sogar noch umfangreicheren Edition studieren.

Außerdem gibt es, beginnend schon beim Fünfjährigen, einige tausend ebenfalls längst veröffentlichte Briefe von und an Nietzsche usf. Sorgsame Lektüre bereits dieser frühen Texte hilft, im einzelnen zu erkennen, wie sich Nietzsches Denken entwickelte, wo seine Schwerpunkte sind, warum er, der Pastorensohn, schon früh religiöse Probleme hatte, wie er mit ihnen umging, dabei Techniken entwickelte, sein in seinen Texten belegtes problemaufarbeitendes Denken dennoch zu verbergen: Strategeme, die Nietzsche auch später strapazierte. Und: Nietzsches frühe Themen kehren ebenso wie seine frühen Perspektiven in einer ewigen Wiederkunft des nahezu Gleichen in vielfacher Verfremdung wieder, fast Jahr um Jahr um aufschlussreiche Details ergänzt. Ein Glücksfall für sorgsame Interpreten.

Fazit: Vielen Facetten und raschen Wechseln in seinen Veröffentlichungen liegt eine erstaunliche Problemkontinuität zumal des Kritikers Nietzsche zugrunde, die – und das ist der Punkt, auf den es jetzt ankommt – man wohl erst dann, jedenfalls jedoch besser, erkennt, wenn man diese frühen Texte nachdenklich und in Nietzsches frühen Interessen nicht unkundig liest. Doch genau daran hapert’s, denn diese Lektüre sowie die Erarbeitung der dafür nötigen Kompetenzen wird fast so, als ob ein Gelübde abgelegt worden wäre, konsequent verweigert. Das vermochte bisher niemand zu ändern; nicht einmal Nietzsche selbst, der sich deutlich genug zu seiner Entwicklung geäußert hatte.

Genetische Perspektive meint schlicht, dass man auch Themen, Thesen usf. späterer Texte Nietzsches in Kenntnis seiner gesamten, in seinen früheren Texten belegten Denkentwicklung liest; und entsprechend interpretiert. Dann lösen sich bereits viele Knoten. Unglücklicherweise erkennt das wohl nur jemand, der auch Nietzsches frühe Texte kennt; und sie nicht imperialistisch interpretiert.

 

“Imperialistisch interpretiert”? Was meinen Sie denn damit?

“Imperialistisch” zu interpretieren meint, ohne Rücksicht auf Wissen über die Person Nietzsche oder auf Regeln möglichst korrekter Deutung seiner Texte in ihn oder in diese hineinzuinterpretieren bzw. aus ihnen herauszulesen, was eigenen Vorannahmen entspricht; und dabei im Notfall kaum irgendeine Art interpretativer Gewaltsamkeit zu scheuen. Schließlich steht das Rechtgläubigkeit welcher Art auch immer bestätigende Ergebnis ja schon vorher fest. Konsequent imperialistische Interpretation lässt keinem Interpretationsobjekt die Chance, in seiner Eigenart erkannt zu werden.

 

“Pastorenhausatmosphäre” scheint eines Ihrer zentralen Stichworte zu sein. Trägt deshalb Nietzsches späteste Christentumskritik den Untertitel “Fluch auf das Christenthum”?

Nietzsche reflektierte noch in “Der Antichrist”, dabei aber fast wie barfuß auf eines Messers Schneide balancierend, wie prägend für ihn diese Atmosphäre gewesen war; prägend im Sinne bleibender Verhaftung ebenso wie systemdestruktiver Blicköffnung. So erkannte schon das Kind seine Herkunftsreligion als widersprüchlich, also unwahr; und empfand nächste Verwandte, die das nicht bemerken oder ernstnehmen wollten, sondern sich bemühten, weiterhin “gläubig” zu bleiben, als intellektuell kaum mehr respektabel.

Natürlich litt anfangs auch dieses Kind unter seinen unfreiwilligen Einsichten. Wer will sich so früh isolieren? So spricht Nietzsche noch wenige Wochen vor seinem Zusammenbruch davon, dass er sich zur “Verlogenheit von Jahrtausenden” im Gegensatz wisse, weil er die “Lüge als Lüge” empfunden habe. Sich im Gegensatz “wisse”, also nicht nur fühle! Das galt schon für das Kind. Von dessen Nöten und Einsamkeit spricht noch die Spätestschrift “Ecce homo”, wenn man sie auch aus genetischer Perspektive zu lesen sucht.

So wurde Nietzsche als Pastorenkind zum zuerst wohl an sich selbst zweifelnden, dann zum empörten, in “griechischen Phantasien” Schutz suchenden, später zum genialen, sensiblen, authentischen und treffsicheren Kritiker, der primär eigene Erfahrungen verallgemeinernd und sprachlich gekonnt umzusetzen vermag; immer auf der Suche nach einer Lösung seiner existentiellen Sinnfragen, pendelnd zwischen Kritik und Sinnsuche, später auch Sinnsetzung. Noch aus dem tollen Menschen der “Fröhlichen Wissenschaft”, 1872, der auf den Markt rennt, Gott sucht und die Folgen von dessen Tötung durch unsere Messer der Erkenntnis beschwört, spricht das entsetzte Kind, dessen Welt zusammenbrach, als es gemerkt hat, dass frommes Reden selbst nächster Familienmitglieder widersprüchlich blieb.

So macht seine schon frühe christentums- und später religionskritische Perspektive Nietzsches durchgängige Problemkontinutät aus: Schließlich galt es, noch Gottes Schatten, Auswirkungen christlicher Auffassungen in Philosophie, Wissenschaft, Literatur und Politik beispielsweise, zu besiegen. Daran arbeitete Nietzsche sich bis zu seinem Zusammenbruch zunehmend lautstark ab. Wenn wir die Präambel unserer Verfassung, Länderverfassungen, Konkordatsverträge berücksichtigen, lässt sich kaum verheimlichen, wie wenig weit wir auch noch gegenwärtig gekommen sind. Nietzsche ist und bleibt auch als Provokateur ein immens anregender, denkstimulierender Autor für kritischere Köpfe. Glücklicherweise waren bisher weder er noch andere Aufklärer interpretativ ‘totzukriegen’. Das beruhigt selbst in düsteren Momenten ungemein.