Mit einem Zelt kann man nicht reden

In einem Interview mit SAT 1 haben Sie in der letzten Woche ausgeführt, dass Sie ein gesetzliches Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit nicht für sinnvoll halten. Warum?

Verordnete Verbote haben meiner Meinung nach eine Berechtigung, wenn Leib und Leben in Gefahr sind. Durch das Tragen einer Burka ist niemand lebensbedrohlich betroffen. Ich halte von diesem gerichtlich erlassenen Verbot aber deshalb nichts, weil es die konkrete Auseinandersetzung auf wissenschaftlicher Ebene und in der Gesellschaft beeinträchtigt und dieses äußerst psychologische Phänomen der Politik überlässt.

Das Verbot ermuntert nicht zur Neugierde, mehr über diese Frauen zu erfahren, was uns weiter bringen würde. Wir müssen nämlich die Ursachen näher kennenlernen, um eine Änderung herbeizurufen.

Buchcover

Sie haben in Ihrem Buch “Erwachsen wird man nur im Diesseits” im Zusammenhang mit dem Kopftuch kritisiert, dass muslimische Mädchen, die familiär zum Kopftuchtragen gezwungen würden, in ihrer Identitätsentwicklung beschädigt würden. Sie haben sinngemäß ausgeführt, der Körper dieser jungen Mädchen gehöre nicht mehr ihnen selbst, sondern der Familie und den gesellschaftlichen Interessen. Ist das in Bezug auf eine Vollverschleierung nicht ein noch gravierender Eingriff, wenn Mädchen von ihren Familien zu einer Gesichtsverschleierung gezwungen werden sollten?

Ja, ich kritisiere mittlerweile auch das Tragen eines Kopftuches, das Teil der Religionspraxis geworden ist und die Zugehörigkeit zu einer religiösen Minderheit markiert. Heutzutage, inmitten von politisch motivierten “Religionskriegen” ist dieses Merkmal zunächst für die Sicherheit und das Wohlbefinden der Frauen sehr bedenklich geworden. Sie sind Zielscheiben und Projektionsflächen für feindlich gesinnte Schwachköpfe.

Mit dem Kopftuch wird aber auch eine Identität und Rolle festgelegt, die langfristig gesehen sehr einseitig ist und unsere Gesellschaft optisch aufteilt in verhüllte und nicht-verhüllte Frauen. Wenn jungen muslimischen Mädchen mit moralischem Druck das Kopftuch regelrecht übergestülpt wird, ohne das sie eine Chance bekommen, in diese neue Identität hineinzuwachsen, entfremden sie sich im schlimmsten Fall von sich selbst.

Ich kritisiere, dass ein moralischer Maßstab angelegt wird, der suggeriert, dass nur mit dieser Verhüllung ein gottgefälliger Glaube gelebt und der Anstand als Frau gewährleistet sei. Der Gipfel ist dann noch, mit göttlichen Belohnungsversprechen für das Jenseits hoffnungsvolle Erwartungen zu erzeugen.

 

Wie sehen Sie eine Vollverschleierung hinsichtlich Erzieherinnen, Lehrerinnen, Beschäftigten in kommunalen Bürgerämtern?

Die Vollverhüllung mit Burka und Niqab ist keine Bekleidung, sondern wie eine demonstrative Provokation, die eine Kommunikation ablehnt. Sie hat weder im Straßenbild unserer Gesellschaft noch auf einer Arbeitsstelle, bei der Bürger eine Dienstleistung bekommen bzw. bezahlen, etwas zu suchen. Besonders Erzieherinnen und Lehrerinnen müssen berufsbedingt kommunizieren. Wie sollte dann die Vollverhüllung zu deren Aufgabe passen?

 

Sie haben in dem Interview mit SAT 1 auch ausgeführt, dass es Sache der Islamverbände wäre, sich des Themas anzunehmen. Was sollen die Islamverbände Ihrer Meinung nach unternehmen? Und – warum tun sie das nicht schon?

Die Existenz der Islamverbände, ob türkischer oder arabischer Ausprägung, verfolgt andere Interessen: quantitativ in eine eigene Parallelwelt zu wachsen, in der ein selbst definierter Islam gelebt und als Minderheit politisch genutzt werden kann. Dazu gehört zum Beispiel die strenge Verbindung von Glauben und Religionspraxis. Die Gläubigkeit eines Muslim soll gemessen werden können an der Einhaltung von religiösen Pflichtritualen. Wer sich aber entscheidet, diese nicht zu praktizieren, gilt als ein Sünder mit schwachem Glauben und wird von der Gemeinde beurteilt und verurteilt. So kann Kontrolle auch über die Glaubensstärke von Frauen geübt werden, wenn es beispielsweise heißt, die Verhüllung sei eine religiöse Pflicht!

Als gäbe es keine wichtigeren Herausforderungen, als die gegenseitige Kontrolle und Verurteilung, wird durch diese politischen Motive viel Potential vergeudet. Der Islam hätte eine Menge an gruppenübergreifenden Lösungsstrategien anzubieten, aber die Islamverbände arbeiten vorwiegend für die eigene Gemeinschaft der Glaubensgeschwister, der sogenannten Ummah.

Es geht den vielen Verbänden inhaltlich oft nicht um einen nützlichen Beitrag zu gesellschaftspolitischen Themen, die uns alle angehen, wie etwa die verbesserungswürdige Lage der Frauen, die steigende Jugendkriminalität oder der wachsende Alkohol- und Drogenkonsum. Dabei haben wir aber so viele Defizite in unserer Gesellschaft. Andere Organisationen, Vereine und Institutionen versuchen diese professionell anzugehen, ohne jedoch einen Unterschied zu machen in der Herkunft der Betroffenen: sie arbeiten am Gemeinwohl.

Ich erwarte von den Verbänden, zunächst die innerislamischen Konflikte und Feindseligkeiten zu lösen. Denn die islamische Welt ist in ihren verschiedenen Ausrichtungen extrem gespalten in Sunniten, Schiiten, Aleviten, Ahmadiyyas, Wahhabiten und Salafisten. Dadurch scheint im Bewusstsein der Gläubigen das verbindende Glaubensbekenntnis als Kernbotschaft verloren gegangen zu sein.

Stattdessen findet eine Politisierung der Vereinstätigkeit statt, die ich als eine modisch gewordene vom Islam besitzergreifende “Selbstinszenierung” kritisiere. Das erscheint mir aus meiner heutigen Perspektive sehr künstlich. Dabei ist Islam nicht etwas, was nur dem Muslim gehören würde, um sein Leben im Diesseits in Abgrenzung und Konkurrenz zu leben, seine politischen Rechte einzufordern, und sich mit Gottesdiensten im Jenseits einen Platz an der Sonne zu sichern. Wenn die Verantwortlichen dieser Islamverbände verstanden hätten, was Islam wirklich ist, nämlich eine Schatztruhe voller Weisheiten für jedes Geschöpf, das denken und fühlen kann, dann hätten wir jetzt vielleicht eine große und vorbildliche “Islamische Menschenrechtsorganisation”.

 

Auffällig ist, dass es bei Debatten um und über den Islam immer wieder nur um Äußerlichkeiten ginge. Burka, Niqab, Tschador aber auch das Kopftuch spielen eine nicht unwichtige Rolle in den Auseinandersetzungen. Ist der Islam eine Religion, in der es wesentlich um Äußerlichkeiten, um Kleidungsvorschriften und Rituale geht? Wo bleibt die spirituelle Dimension?

Islam ist eine Buchreligion wie das Judentum und Christentum, und zwar mit einer festgelegten Religionspraxis. Anders als im Judentum und Christentum kennt der Islam jedoch keine Symbolik als Kennzeichnung von Zugehörigkeit.

Die Verhüllungsempfehlung im Koran hat insofern auch keine “religiöse” Bedeutung, weil sie ursprünglich nur eine Art “praktische Maßnahme” war, um die Kommunikation zwischen Männern und Frauen zu entlasten. Und zwar wurden die gläubig gewordenen Frauen mit den zu der damaligen Gesellschaft gehörenden Sklavinnen verwechselt und belästigt. Außerdem war dies damals für die Männer auch eine effektive Disziplinierung ihrer Triebhaftigkeit.

Heute leben wir in wesentlich fortschrittlicheren Verhältnissen. Weder gibt es die Sklavinnen von damals, noch brauchen Männer derlei Hilfsmittel zur Selbstbeherrschung auf Kosten der Freiheit von Frauen. Der moderne Mann hat Lernprozesse durchlaufen, in theokratrischen Gesellschaften wiederum werden Männer an solchen Lernprozessen gehindert. Viele Frauen sind selbstbewusst und können sich wehren. Manchmal frage ich mich, ob Muslime blind sind, wenn sie das ganz normale Leben zwischen Männern und Frauen ohne diese Bekleidungsregeln erleben. Äußerlichkeiten wie diese Bekleidungsform und religiöse Rituale werden meiner Meinung nach deshalb unverhältnismäßig überbewertet, anstatt auf die Idee zu kommen, ihre Alltagsbrauchbarkeit überhaupt einmal zu überprüfen.

Bemerkenswert ist für mich auch, dass im ganzen Koran mit über 6600 Versen nur zwei medinensische Verse die Verhüllung der gläubigen Frauen erwähnen. In Medina, der Stadt, in die Muhammed von seiner Geburtsstadt Mekka ausgewandert war, befand sich der Islam schon in einer fortgeschrittenen Phase. Ich interpretiere daraus, dass es bei diesem neuen Glaubensbekenntnis, das Muhammed verkündet hatte, sehr viel mehr um die innere Haltung und das Verstehen seiner Botschaft ging.

Heute spielen in unseren pluralen Gesellschaften leider Äußerlichkeiten als Kennzeichen von Zugehörigkeit und das Festlegen von tendenziösen Schwerpunkten eine politisch gewordene Rolle, was ich unverhältnismäßig und für einen großen Fehler halte, denn das verzerrt das Bild des Islam als soziale Kraft für Fortschritt und Liebe zur gesamten Schöpfung.

 

Frau Zeynelabidin, vielen Dank für das Interview.

 

Das Interview führte Walter Otte für den hpd

 


Das Buch: Emel Zeynelabidin - Erwachsen wird man nur im Diesseits, Verlag 3.0 Zsolt Majsai ISBN: 3943138518, 12,95 Euro - Facebookseite zum Buch

Rezension dazu von Walter Otte im hpd vom 04.09.2013

Emel Zeynelabidin: “Welches Gottesbild bestimmt das Ritualverhalten” bei quantara.de