Solidarprinzip: Deine Freiheit, meine Verantwortung?

Ungesund essen, Risikosport ausüben, rauchen: Wir dürfen vieles, und die gesundheitlichen Folgekosten trägt die Solidargemeinschaft. Darf man dann fürs Nichtimpfen bestraft werden? Unsere Kolumnistin Natalie Grams-Nobmann meint, hier wird zu viel miteinander vermengt.

Gegner der Covid-19-Impfung haben zuletzt eine durchaus lohnende Diskussion angefangen. Ihr Argument, kurz skizziert, geht so: Es ist unfair, dass man zur Corona-Impfung quasi gezwungen ist, bevor man zum Beispiel ein Café betreten darf. Denn schließlich lebten wir doch in einem System, in dem wir als Solidargemeinschaft Gesundheitsrisiken gemeinsam tragen – und damit explizit auch die höheren Risiken von Menschen, die sich chronisch ungesund ernähren, nicht aufhören zu rauchen oder unvernünftige Extremsportarten betreiben. In dieser unserer Gemeinschaft, so heißt es weiter, sind ungesunde Lebensmittel, Zigaretten und Paragliding nicht verboten. Warum hält man also Ungeimpfte vom Cafébesuch ab, wo doch sonst niemand Menschen mit Übergewicht stoppt, bei McDonald's einzuchecken? Wo Rauchenden keine Sanktionen drohen, wenn sie an Lungenkrebs erkranken?

Dazu zunächst ein Blick in das zentrale Gesetz für die gesetzliche Krankenversicherung, den Paragraphen 1 des Sozialgesetzbuchs V. Hier steht: "Die Krankenversicherung als Solidargemeinschaft hat die Aufgabe, die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern. Das umfasst auch die Förderung der gesundheitlichen Eigenkompetenz und Eigenverantwortung der Versicherten. Die Versicherten sind für ihre Gesundheit mitverantwortlich; sie sollen durch eine gesundheitsbewusste Lebensführung, durch frühzeitige Beteiligung an gesundheitlichen Vorsorgemaßnahmen sowie durch aktive Mitwirkung an Krankenbehandlung und Rehabilitation dazu beitragen, den Eintritt von Krankheit und Behinderung zu vermeiden oder ihre Folgen zu überwinden." Das ist eindeutig: Die Krankenkassen sollen auf Eigenverantwortung hinwirken, hinter dem Solidarprinzip versteckt sich aber kein Sanktionsregime – also kein "Du musst! Sonst …".

Demzufolge stehen die gesetzlichen Krankenkassen im Rahmen des Solidarprinzips verschuldensunabhängig für gesundheitliche Probleme in einem genau festgelegten Rahmen ein. Wir schließen Menschen, die selbst verschuldet oder unverschuldet krank werden, nicht von einer Behandlung aus. Egal, wie schwer man krank wird – und egal aus welchen Gründen! –, egal, wie viel man vorher über sein Einkommen in die gesetzliche Krankenkasse eingezahlt hat, man bekommt die bestmögliche Behandlung nach wissenschaftlichen Kriterien. Das gilt auch dann, wenn man sich unvernünftig verhält, bevor oder nachdem eine Krankheit diagnostiziert wird: Von der Behandlung ausgeschlossen wird man nicht. Nur in ganz wenigen Fällen (zum Beispiel nach Tätowierungen oder Piercings) können Versicherte an den anfallenden Kosten beteiligt werden.

Vernünftig sein bleibt auch erlaubt: Alle sind angehalten, sich so zu verhalten, dass die eigene Gesundheit nicht gefährdet wird und eine Krankheit nicht verschlimmert wird. Dies wird schon seit Langem unterstützt: Kampagnen klären über die gesundheitlichen Risiken durch Rauchen und Alkoholkonsum auf, zu Übergewicht oder Disease Management-Programmen (DMP) für Diabetes; höhere Alkohol- und Tabaksteuern können die Nachfrage bremsen. Klar, man könnte hier noch mehr für die betroffenen Personen und gegen die gesundheitlichen Risiken tun, als nur möglichst drastische Warnschilder auf Zigarettenpackungen vorzuschreiben. Am Ende aber bleibt es staatlicherseits jedem selbst überlassen, wie vernünftig er sein oder sie ihr Leben führt.

Das hat übrigens Folgen, wie ein Blick auf die Statistik der Todesursachen in Deutschland klarmacht. Ungefähr 121.000 Menschen sterben zum Beispiel jährlich durch Rauchen. Im Vergleich dazu: Bis zum 9. September 2021 stieg die Zahl der Todesfälle in Zusammenhang mit dem Coronavirus in der Bundesrepublik auf 92.498. Oder schauen wir auf den Diabetes: Innerhalb eines Jahres erkranken 12 von 1.000 Personen neu daran. Pro Jahr kommen so mehr als 600.000 Neuerkrankungen hinzu. Das entspricht etwa 1.600 Neuerkrankungen pro Tag – eine ziemlich krasse Inzidenz. Trotzdem hat der Gesetzgeber kein Sanktionssystem eingeführt.

Dafür gibt es viele gute Gründe, die ich hier nicht alle aufzählen kann. Vielleicht reicht es, sich auszumalen, was es rein praktisch bedeuten würde, vor jeder Kassenerstattung erst einmal prüfen zu lassen, ob eine Krankheit als "selbst verschuldet" und "nicht selbst verschuldet" zu bewerten ist. Ich möchte mir gar nicht erst vorstellen, welche kaum beantwortbaren Fragen das aufwerfen würde. Wer prüft dann überhaupt? Ist ein Suchtproblem etwas, an dem ein Betroffener "schuld" ist? Was wäre der nächste Schritt, würde man ein Bestrafungssystem einführen, etwa so, wie immer mal wieder angedacht für Raucher? Könnten dann nicht auch alle sich gesund Fühlenden ihre Beitragszahlungen einstellen, wann immer sie im Moment nichts dafür bekommen? Das Prinzip Solidarsystem, so viel ist sicher, wäre jedenfalls erledigt.

Im Solidarsystem bleibt notgedrungen ein Recht auf Unvernunft. Aber eines ist dabei ganz entscheidend: Dies betrifft stets nur das Recht auf eigene Unvernunft und den eigenen Schaden. Das Rauchen in Kneipen ist zum Beispiel verboten, weil auch Nichtrauchende dadurch gefährdet werden. Genauso gefährdet man mit der Infektionskrankheit Covid-19 andere: durch ein hochinfektiöses Virus, das vielfältige Krankheitssymptome verursacht und gerade bei älteren Personen oder Menschen mit Vorerkrankungen zu schweren Verläufen und mitunter dem Tod führen kann. Hier ist auch bei einer liberalen Einstellung eine Grenze überschritten; es kann nicht "jedermanns Recht" sein, unter Verzicht auf vernünftige Maßnahmen andere lebensbedrohlicher Gefahr auszusetzen.

Vernünftige Maßnahmen gegen Covid-19 kennen wir – vor allen anderen die Impfung: Wer geimpft ist, erkrankt nicht nur selbst deutlich seltener und weniger schwer, er reduziert zugleich drastisch das Risiko, andere mit dem Virus anzustecken. Die empfohlenen Hygienemaßnahmen reduzieren dieses Risiko noch weiter. Es ist logisch und nachvollziehbar, dass an Orten, an denen eine Weiterverbreitung des Virus besonders leicht möglich ist (im Club, Restaurant, Theater …) nur geimpften Personen mit einer reduzierten Übertragungswahrscheinlichkeit der Zutritt gewährt wird. Schutzregeln während der Pandemie sind keine Bestrafung, sie sind schlicht sinnvoll. Ebenso sinnvoll und begründet ist es, dabei Geimpfte und Ungeimpfte unterschiedlich zu behandeln, weil die beiden Gruppen Unbeteiligte unterschiedlich stark bedrohen.

Dies ist kein "Sanktionsregime", was die Analogie von Impfgegnern mit Rauchenden und Extremsportfans fälschlich zu suggerieren versucht. Sanktionen wären etwas anderes: Impfgegnern wäre nicht das Café verboten, man würde ihnen als Strafe eine Behandlung verwehren, wenn sie an Covid-19 erkranken. (Tatsächlich gibt es sogar konsequent Verblendete, die öffentlich erklären, auf jede Behandlung verzichten zu wollen. Sie sollten uns kein Maßstab sein). Ich finde aber: Das Schöne an unserem Solidarprinzip ist, dass auch Menschen, die eine Schutzimpfung aus den verschiedensten Gründen ablehnen, die beste medizinische Behandlung erfahren, sollten sie an Covid-19 erkranken. Und das wird ebenfalls von den gesetzlichen Krankenkassen getragen. Solidarischer wäre es natürlich, sich und andere zu schützen und nicht das volle Risiko – für sich selbst und die Solidargemeinschaft – einzugehen.

Oder, um es abschließend mit Stephen King zu sagen:


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Heißt übersetzt: "Lasst es uns simpel halten, ihr Impfgegner: Ihr habt das Recht, euch selbst umzubringen, sei es mit Alkohol, Zigaretten, Kautabak oder durch exzessiven Lebensstil. Ihr habt nicht das Recht, andere zu töten, indem ihr ein Virus verbreitet. Das ist nicht Freiheit, das ist Egoismus."

Übernahme des Artikels mit freundlicher Genehmigung von spektrum.de.

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