Ob Sie es glauben oder nicht, das Jahr 2021 ist bald schon wieder vorbei. So sehr uns unser Zeitempfinden manchmal trügt, so präzise arbeitet es in anderen Fällen. Wer wäre nicht schon mal am Wochenende zeitig aufgewacht, obwohl wir doch hätten ausschlafen können? Für unser Zeitempfinden, die sogenannte innere Uhr, interessieren sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vieler Fächer, von Psychologie über Neurowissenschaften bis zur Philosophie. Zwölf von ihnen gewähren am kommenden Wochenende, 1. bis 3. Oktober, auf dem "Symposium Kortizes" einen Einblick in das, was wir heute über Neurowissenschaft und Zeiterleben wissen. Welche Anknüpfungspunkte für künftige Forschungen und welche Konsequenzen für unser Selbstverständnis bringen die neuen Erkenntnisse mit sich? Für solche Diskussionen mit dem Publikum bietet das Symposium auch diesmal viel Platz.
Nach der letztjährigen Verlagerung in den virtuellen Raum ist es das erste Mal, dass die Veranstaltung wieder vor Ort in Nürnberg stattfindet. Zum Auftakt führt am Freitagabend Gregor Eichele in die Funktionsweise der inneren Uhr ein und erläutert, wie sie unser Verhalten bestimmt. Moment, "unser Verhalten"? In Wahrheit verfügen neben uns Menschen auch andere Tiere, Pilze und sogar Blaualgen über derartige biochemische Zeitgeber, die wichtige Lebensrhythmen steuern. Diese 24-Stunden-Rhythmen hat Eichele als Professor für Entwicklungsbiologie in Göttingen erforscht.
Mit einer ergänzenden Betrachtung aus der Warte der Neurowissenschaften beginnt der zweite Symposiumstag, wenn Hans-Peter Thier der Frage nachgeht, wozu wir überhaupt ein Gehirn besitzen. Thier ist Professor für Kognitive Neurologie am Hertie Institut für Klinische Hirnforschung, das zum Zentrum für Neurologie in Tübingen gehört. Seine Antwort: Das Gehirn ermöglicht es, unsere Bewegungen zu koordinieren und die Folgen dieser Bewegungen abzuschätzen. Weitere Beiträge an diesem Morgen widmen sich dem Denken und Sprechen über Zeit (Psychologe Prof. Dr. Rolf Ulrich, Uni Konstanz) und den Möglichkeiten moderner neurophysiologischer Messmethoden (Neurologin Dr. Barbara Schmid, Klinikum Nürnberg).
Doch wie tief ist in unserer Wahrnehmung das Erleben verwurzelt, die eigenen Bewegungen zu kontrollieren? Aufschluss darüber liefern Forschungen zum subjektiven Erleben im psychopathologischen Bereich, etwa bei Zwangserkrankungen. Doch auch bei Gesunden sind dem bewussten Erleben der eigenen Handlungen Grenzen gesetzt, erläutert anschließend der Neurologe Dr. Max-Philipp Stenner vom Leibniz-Institut für Neurobiologie und der Magdeburger Otto-von-Guericke-Universität.
Wie das Gedächtnis beim Planen künftiger Handlungen hilft, spiegelt sich in der Aktivität der entsprechenden Hirnareale wider. Diese Vorgänge hat ein weiterer Referent der Veranstaltung untersucht, Prof. Alexander Gail, der eine Forschungsgruppe am Deutschen Primatenzentrum (Leibniz-Institut für Primatenforschung) in Göttingen leitet. Gewonnen an nichtmenschlichen Primaten, dienen diese Erkenntnisse unter anderem zur Weiterentwicklung von Gehirn-Computer-Schnittstellen und Neuroprothesen, wie Gail schildern wird.
Dass wir uns bei aller Präzision dennoch nicht blindlings auf unsere Zeitwahrnehmung verlassen können, wird eindrucksvoll durch Forschungen belegt. So schätzen ProbandInnen Effekte in der Umwelt dann als zeitlich früher ein, wenn sie sie selbst erzeugt haben. Gleichzeitig auftretende Stimuli mit anderem Urheber werden dagegen als zeitlich später wahrgenommen. Weshalb diese Verzerrung beim Erlernen von Handlungen nützlich sein kann, erklärt die Psychologin Prof. Andrea Kiesel von der Uni Freiburg. Einer weiteren, wohlbekannten Verzerrung des Zeitempfindens widmet sich anschließend ihre Fachkollegin Dr. Isabell Winkler: Angenehme Situationen vergehen scheinbar schneller als unangenehme; mit zunehmendem Alter glauben wir, dass Monate und Jahre immer rascher verfliegen. Die Forscherin von der TU Chemnitz stellt Experimente vor und erläutert, mit welchen Modellen man diese Befunde erklärt. Zum Abschluss des samstäglichen Vortragsprogramms präsentiert der Neurowissenschaftler Prof. Martin Meyer (Uni Zürich; Alpen-Adria-Universität Klagenfurt) jüngste Forschungsergebnisse über die Zeitabläufe im Gehirn während der Sprachverarbeitung.
Der Samstagabend steht ganz im Zeichen von Ehrung und Gedankenaustausch: Nach der Preisverleihung an die Gewinner des Essay-Wettbewerbs "Was ist rational?" bietet das "Get together" allen Teilnehmenden Gelegenheit, den Tag mit inspirierenden Gesprächen ausklingen zu lassen.
Der Sonntag, der dritte und letzte Tag des Symposiums, widmet sich zunächst noch einmal den molekularen Grundlagen unserer inneren Uhr. So stellt Prof. Achim Kramer von der Berliner Charité sein Fach "Chronobiologie" vor. Es umfasst die Erforschung der verschiedenen Chronotypen (bekannt als "Eulen" und "Lerchen") ebenso wie die Auswirkungen von Schichtarbeit oder Jetlag nach Langstreckenflügen auf den Schlaf-Wach-Rhythmus. Einen Überblick über die Bedeutung von Blicken – langen und kürzeren, intensiven und flüchtigen – in sozialen Situationen vermittelt anschließend die Psychologin Prof. Dr. Anne Böckler-Raettig von der Leibniz Universität Hannover.
Mit einer Betrachtung aus der Perspektive der Theoretischen Philosophie schließt Prof. Norman Sieroka von der ETH Zürich die Reihe der Einzelvorträge ab. Wie die vorangegangenen Beiträge gezeigt haben, tritt Zeit in unterschiedlichen Erscheinungsformen auf, als physikalische Größe, individuell oder gesellschaftlich intersubjektiv erlebte Zeit und vieles mehr. Doch welche sind die Gemeinsamkeiten, Unterschiede und Verbindungen zwischen diesen Konzepten? Hier kann die Philosophie eine bedeutende Koordinationsaufgabe übernehmen, ist Sieroka überzeugt. Diese Position wird er auch in die unmittelbar nachfolgende Abschlussdiskussion hineintragen, die noch einmal den breiten Bogen spannt zwischen bewussten und unbewussten Determinanten unseres Zeiterlebens. Mit Sieroka sitzen vier weitere Referentinnen und Referenten auf dem Podium: Achim Kramer, Martin Meyer, Norman Sieroka und Isabell Winkler; Moderator ist Helmut Fink.
"Symposium Kortizes 2021 – Zeit · Geist · Gehirn – Neurowissenschaft und Zeiterleben"
Vom 1. bis 3. Oktober 2021 im Germanischen Nationalmuseum Nürnberg
Weitere Informationen
Die Online-Anmeldung zum Symposium ist nun nicht mehr möglich. Wenn Sie teilnehmen möchten, können Sie vor Ort noch Tickets erwerben. Es sind noch Plätze frei.