(hpd) Gerade rechtzeitig zur Albert-Dulk-Feier in Esslingen lag das zu besprechende Buch vor. Es scheint dadurch hilfreich, da gerade bei solchen öffentlichen Veranstaltungen noch immer die sehr vielfältigen begrifflichen Selbstbestimmungen der diversen konfessionsfreien Gruppen verwirren.
Das Vorwort bemerkt deshalb sehr richtig: „‚Freidenker’, ein Begriff, der etwas aus der Mode gekommen zu sein scheint. Modernere Selbstbezeichnungen lauten deshalb oft: Humanisten, Konfessionsfreie, Freigeister, Neue Atheisten, Agnostiker, Evolutionäre, Monisten, Naturalisten, Dialektische Materialisten, Skeptiker, Säkulare, Laizisten, Brights usw. – Wie die Selbstbezeichnungen auch immer lauten mögen, allen gemeinsam jedenfalls ist der Wunsch, dass sie frei von Dogmen und in Selbstbestimmung leben und denken wollen; und sie sehen sich in der Tradition von Aufklärung und Humanismus. Ebenso vielgestaltig wie die Eigenbenennungen sind auch deren Organisationsgeschichten, die komplizierter und zersplitterter wohl kaum sein könnten.“ (S. 4)
Da steckt wohl auch eine selbstkritische Sicht des Autors als Mitglied dieser Bewegung drin, der hier Biographien und Aufsätze präsentiert, teilweise bereits verstreut publizierte Veröffentlichungen und neue Aufsätze zusammenfasst, aber für dieses Buch neu bearbeitet, illustriert, aktualisiert und stark erweitert hat.
Bei den porträtierten FreidenkerInnen handelt es sich um bekannte und weniger bekannte Namen. Es waren „überwiegend Einzelkämpferinnen und -kämpfer, die einen nicht zu unterschätzenden ideologischen und kulturellen Einfluss auf eine heterogene Bewegung und den Bewusstseinsstand der Zeitgenossen ausübten.“ Die meisten waren „wahrscheinlich noch nicht einmal Mitglied in einer freidenkerischen Organisation. … An der Heterogenität der Protagonisten ist zudem ersichtlich, dass Freies Denken nicht monolithisch oder dogmatisch sein kann. Freies Denken ist deshalb originär vielfältig, undogmatisch, phantasievoll und eine ständige Einladung zu Selbstbestimmung und vorurteilslosem Denken ohne Fremdbestimmung.“
Es wird also keine Organisationsgeschichte dargestellt – der Autor bemerkt wiederum selbstkritisch: „Die komplizierte Geschichte des organisierten Freidenkertums ist nur wenig ergiebig. Abgesehen von der Zeit der Weimarer Republik stand und steht sie in ihren Potenzialen und Einflussmöglichkeiten weit hinter ihren Ansprüchen zurück. Der bei ihnen vorzufindende ausgeprägte Individualismus hat wohl bisher verhindert, dass die Konstituierung einer gemeinsamen Organisation und Interessenvertretung bisher verwirklicht werden konnte. Die Schaffung einer Lobby oder wirkungsvollen Organisationsform steht als historische Aufgabe nach wie vor dringend an.“
Und tatsächlich scheint in der Gesellschaft der Wunsch nach einer öffentlich stärker wahrnehmbaren Aufklärung und Humanismus vertretenden Stimme wieder zuzunehmen. Wie es auch schon beispielsweise an der unter Natur- und Geisteswissenschaftlern schnell angenommenen Giordano-Bruno-Stiftung sichtbar geworden ist.
Nicht gespart wird auch mit harscher Kritik an Fehlentwicklungen und parteipolitischer Einflussnahme in der überwiegend linksorientierten Freidenkerbewegungen, etwa in den Beiträgen über Luxemburg, Thalheimer, Grünwald, Lehren aus der Geschichte der Freidenkerbewegung (S. 133) u.a. Dies erscheint aus Glaubwürdigkeitsgründen unerlässlich. Wer möchte schon begangene Fehler wiederholen müssen?
Dafür werden dann aber in diesem Buch Leben und Werk von Einzelpersonen in den Mittelpunkt gestellt: „Dargestellt werden Persönlichkeiten, die sehr unterschiedlich in ihrem Werdegang und in der Wahl ihrer Mittel waren. Sie alle waren mit ausgeprägter Individualität ausgestattet und waren auf ihre Art Pioniere. Sie repräsentieren verschiedene Generationen einer Bewegung - in ihrem Anfang, Aufstieg, Höhepunkt, in der vorläufigen Zerschlagung durch den Faschismus, bis in die weniger spektakuläre Gegenwart:
Albert Dulk (1819-1884), der Chemiker, Abenteurer und Dramatiker, 1848er-Revolutionär und Gründer der ersten deutschen Freidenker-Gemeinde; Jakob Stern (1843-1911), der schwäbische Reformrabbiner und Spinozaforscher, der mit der jüdischen Religion brach und zum Freidenker und Theoretiker der Sozialdemokratie wurde; Max Sievers (1887-1944), der kaufmännische Angestellte, der als äußerst fähiger Organisator den Deutschen Freidenker-Verband als eine Massenbewegung organisierte und 1944 als Antifaschist mit dem Fallbeil hingerichtet wurde. In weiteren Aufsätzen werden August Bebel (1840-1913), Josef Schiller (1846-1897), Adolph Hoffmann (1858-1930), Konrad Beißwanger (1869-1934), Rosa Luxemburg (1870/71-1919), August Thalheimer (1884-1948), Peter Maslowski (1893–1983), Susanne Leonhard (1895-1984), Leopold Grünwald (1901-1992), Lina Haag (*1907), Fritz Lamm (1911-1977) und Hellmut G. Haasis (*1942) vorgestellt. Bei fast allen wird mehr oder weniger das Verhältnis von Politik und Freidenkertum beleuchtet.“
Das Konzept dieses Buchs scheint aufgegangen zu sein und wurde gelungen umgesetzt. Es ist locker aufgemacht, reich illustriert und übersichtlich. In den Aufsätzen Dulk, Stern u.a. kommen die Porträtierten selbst umfangreich zu Wort. Zudem bietet es zahlreiche Literaturtipps zur Vertiefung des Dargestellten. Sympathisch ist, dass hier eine heterogene und undogmatische Tradition des Freidenkertums dargestellt wird, die vielfältige Anknüpfungspunkte bietet.
Und es macht Sinn, weiter für diese Inhalte zu kämpfen: „Freidenkerinnen und Freidenker [haben] vieles erreicht und erkämpft, was uns heute schon selbstverständlich erscheint: Zivilehe, Feuerbestattung, Jugendweihen, Fortschritte in Richtung Trennung von Kirche und Schule bzw. Trennung von Kirche und Staat, weniger Diskriminierungen gleichgeschlechtlicher Liebe, weniger rigide Sexualmoral und Frauenunterdrückung. Auch konnten teilweise Forderungen nach gleichen und demokratischen Bildungsmöglichkeiten verwirklicht werden. Freidenker traten und treten zudem ein für weltanschauliche Selbstbestimmung, fördern und verbreiten eine nichtreligiöse, rational begründete Weltsicht, die sich auf ein Denken frei von Vorurteilen, Dogmen und Tabus stützt und sich an wissenschaftlich begründeter Erkenntnis orientiert. Sie kämpfen für Toleranz und die volle Verwirklichung der Glaubens-, Gewissens- und Weltanschauungsfreiheit und wehren sich gegen Zwangsmissionierung und Fundamentalismus.“
Wer wollte bestreiten, dass das Eintreten für diese Ziele nicht weiterhin hoch aktuell ist.
Ralph Metzger
Heiner Jestrabek: FREIDENKERiNNEN. Lehren aus der Geschichte. Porträts & Aufsätze. Freiheitsbaum, edition Spinoza, Reutlingen 2012, 190 S. 14 €, ISBN 978-3-922589-52