Gibt es christliche Werte & christliche Moral? (2)

(hpd) Auf der Habenseite der monotheistischen Religionen wird gerne verbucht, dass ohne sie keine Werte existieren würden oder zumindest kein Anreiz, sich an irgendwelchen Werten zu orientieren. Buchautor Alfred Binder setzt sich in einer vierteiligen Serie mit dieser Behauptung auseinander.

Im ersten Teil wurde ausgeführt, dass bei der Diskussion über Werte meist nicht zwischen Werten, Tugenden und Normen unterschieden wird. Es scheint keine spezifischen christlichen Werte zu geben, da Werte, Tugenden und Normen immer Ausdruck gesellschaftlicher Verhältnisse sind. Das Christentum ist aber nur eine Variante eines feudalen Weltbildes, deshalb ist anzunehmen, dass sich die christlichen Werte auch in anderen feudalen Gesellschaften finden. Bei den „Werten“ Demut, Gehorsam und Nächstenliebe ist das auch der Fall.

Familie

Wie steht es mit dem angeblich christlichen Wert der Familie, welche christlichen Politikern ja besonders am Herzen liegt.

Die Familie als einen christlichen Wert zu beanspruchen, ist nicht nur eine Herabwürdigung anderer Lebensformen, sondern auch anderer Religionen und Kulturen, denn die christliche Inanspruchnahme impliziert ja, dass sie anderen Religionen und Kulturen nicht so wertvoll ist. Die Familie ist jedoch eine Institution, die so gut wie kein Mensch in Frage stellt. Menschen wollen nur auch in anderen Gemeinschaften leben, als in solchen, die durch Verwandtschaftsverhältnisse definiert sind. Jesus wiederum, scheint, milde gesagt, von Familie rein gar nichts gehalten zu haben. Laut Lukas 14,26 stellte er folgende Bedingung an zukünftige Anhänger: "Wenn jemand zu mir kommt und nicht hasst Vater und Mutter, Frau und Kinder, Brüder und Schwestern […], kann er nicht mein Jünger sein." Und zu einem Mann, der, bevor er ihm folgte, seinen toten Vater begraben wollte, sagte er bekanntlich, "lasst die Toten ihre Toten begraben".

Dass man seine Familie verlassen muss, wenn man einem Wanderprediger folgen will, ist logisch, aber muss man seine Familie deswegen gleich hassen? Wir könnten nun mit jedem oben genannten, als christlich deklarierten Wert, so weitermachen, zeigen, dass er keineswegs spezifisch christlich ist und/oder belegen, dass es starke widersprüchliche Aussagen zu ihm in der Bibel gibt.

II. Moral

Werte sind materielle oder "immaterielle" Güter, die wir bewahren oder erreichen wollen. Normen sind Vorschriften, die wir befolgen müssen. Befolgen wir sie nicht, werden wir bestraft, zumindest wenn wir erwischt werden. Die Verkehrsregeln sind ein Beispiel für solche Normen. Moralische Normen sind ein anderes Beispiel. Wenn über christliche Werte gesprochen wird, sind meist die moralischen Normen, vor allem die Zehn Gebote, gemeint.

Für viele Menschen ist die Existenz moralischer Vorschriften, wie sie die 10 Gebote sind, ein Gottesbeweis. Diese Menschen können sie sich nur mit göttlichem Einwirken erklären und sie befürchten, ohne göttliche Strafandrohung würde sie niemand wirklich befolgen. Sie argumentieren ungefähr so: Ein schlechtes Gewissen kenne doch jeder, gleichgültig aus welcher der vielen unterschiedlichen Kulturen, mit ihren unterschiedlichen Werten, er stammt. Das zeigt, dass das schlechte Gewissen und mit ihm die Moral außermenschlichen Ursprungs sein müssen.

Die Zehn Gebote sind aber allein schon deshalb keine genuin christlichen Werte, weil sie sich bekanntlich in der jüdischen Thora finden, den fünf Büchern Mose. Dort sogar dreimal und jeweils verschieden. Die Zehn Gebote sind aber auch keine jüdische Erfindung, sie sind eine Variante der moralischen Gebote, die es in allen Gesellschaften und Religionen gibt.

Transkulturalität der moralischen Kerngebote

Die moralischen Kerngebote sind das Lügenverbot, das Diebstahlverbot, das Tötungsverbot, das Gebot, Versprechen zu halten und Menschen in Notsituationen zu helfen.

Dass diese Gebote ursprünglich nur für die eigene Gruppe galten, erklärt, warum die Menschen nicht in moralische Konflikte gerieten, wenn sie gegenüber Menschen anderer Gruppen diese Gebote missachteten, sie zum Beispiel belogen, beraubten oder töteten.

Wir spüren den Gruppencharakter der archaischen Moral noch heute: Haben wir uns gegenüber einem Freund unmoralisch verhalten, ihn etwa belogen, oder übervorteilt, verursacht uns das mehr Gewissensbisse, als wenn wir uns gegenüber einen Fremden auf diese Weisen verhalten hätten. Heute gilt uns ein Gruppenverständnis der Moral für ein Zeichen fehlender moralischer Reife. Wer sich nur gegenüber den Mitgliedern der eigenen Gruppe moralisch verhält, verhält sich in unseren Augen überhaupt nicht moralisch. Die moralischen Gebote sollen für alle Menschen gelten, unabhängig von Gruppenzugehörigkeit, Nationalität, Hautfarbe oder sozialem Status. Im Alten und im Neuen Testament, wie auch im Koran, begegnet uns aber fast nur ein Gruppenverständnis der Moral. Wir haben schon ein Beispiel kennengelernt: Die Einschränkung der Nächstenliebe auf die eigenen Anhänger.

Der Ursprung der Moral

Eine natürliche Erklärung für die kulturunabhängige Existenz der moralischen Kerngebote liefern uns Evolutionsbiologie und -psychologie. Für sie liegt der Ursprung der Moral in dem Nutzen ihrer Gebote für das Überleben des Menschen. Deshalb findet man Ansätze von moralischen Verhalten auch schon bei manchen Tieren. Vermutlich sind die moralischen Gebote älter als die Religion, zumindest das instinktive Verhalten nach ihnen. Die Gebote funktionieren nach dem Motto: wie du mir, so ich dir. Wenn du mich nicht wegen jeder Kleinigkeit tötest, töte ich dich nicht wegen jeder Kleinigkeit. Wenn du mich nicht belügst, belüge ich dich nicht. Wenn du mir in der Not hilfst, helfe ich dir usw. Dass die Kerngebote der Moral in dieser Verhaltensstrategie wurzeln, dafür spricht auch, dass wir im Alltag Moral meist mit der sogenannten Goldenen Regel begründen: Was du nicht willst, das man dir tu’, das füg’ auch keinem anderen zu.

Fundamental für ein einigermaßen vertrauensvolles Miteinander ist ja der Schutz des eigenen Lebens durch das Tötungsverbot und, bei größeren Gemeinschaften, der Schutz des Eigentums durch das Diebstahlverbot. Dass die Überlebenschancen der Menschen, die sich diesen Regeln entsprechend verhielten, wesentlich größer waren, als die Chancen derjenigen, die Konflikte in erster Linie mit Gewalt austrugen, liegt auf der Hand.

Auch das schlechte Gewissen barg einen Überlebensvorteil: Es motivierte Gebotsverstöße selbst anzuzeigen, was das Strafmaß senkte. Die Erfahrung des schlechten Gewissens minderte zukünftige Übertretungen, was Strafen abwendete. Das schlechte Gewissen verringerte auch die Zahl der Trittbrettfahrer, Menschen, welche die Vorteile eines Systems der Zusammenarbeit nutzten, aber die Kosten nicht tragen wollten. Evolutionspsychologen konnten nachweisen, dass die menschliche Intelligenz vor allem eine soziale ist: Das heißt: Sie ist besonders dafür geeignet, soziale Einseitigkeiten, die ungerechte Verteilung von Gütern, zu erkennen. Das Gerechtigkeitsempfinden ist das Fundament des moralischen Empfindens.

Alfred Binder

Alfred Binder hat Bücher zum Zen-Buddhismus und zur Kritik der Religionen verfasst. Der vorliegende Essay fasst Ergebnisse seiner soeben erschienenen kurzen Kritik der monotheistischen Götter "Jahwe, Jesus und Allah" zusammen.

Alfred Binder: Jahwe, Jesus und Allah. Eine kurze Kritik der monotheistischen Götter. Reihe Kritikpunkt.e. Aschaffenburg 2013, Alibri; 165 Seiten, kartoniert, Euro 10.-, ISBN 978-3-86569-121-7

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