Nach einer kurzen Pause treffe ich den Geschäftsführer. Ein Interview möchte er mir zwar nicht geben, doch ist er durchaus bereit, mir zu erklären, dass schließlich jeder selbst wissen müsse, was ihm gefällt und was er für falsch und für richtig hält. Für ihn stehen finanzielle Aspekte im Vordergrund, er sei Kaufmann. Von den aktuellen Todesfällen in Berlin-Hermsdorf habe er zwar gehört, doch das habe nichts mit seiner Messe zu tun. Natürlich nicht. Abgrenzen möchte er sich außerdem von Scientology, die auf mehreren seiner Veranstaltungen probiert haben, ihre Lehren zu verbreiten. Inzwischen erkenne er die vielen Unterorganisationen dieser Sekte auf den ersten Blick und verweigert ihnen den Zugang zur Messe. Die größte Sekte allerdings ist seiner Meinung nach die katholische Kirche.
Ich bedanke mich für das Gespräch und lande bei der „neuen Aurafotografie“, deren „Verkäuferin“ pseudowissenschaftlich erklärt, dass dies „ähnlich wie ein EKG funktioniere“ – nur eben anders. „Es ist uns hundertprozentig möglich, aus der Analyse der Chakren Schlüsse auf die Persönlichkeit eines Menschen zu ziehen.“ Gut, weiter geht’s. Angekommen bei VinaMassage®, die sich auf Erkenntnisse von Prof. Dr. Bùi Quôc Châu ("World Famous Doctor") stützt, lasse ich mir erklären, dass sich die Rückenschmerzen im Lendenwirbelbereich, von denen ich der netten Dame berichte, in Form des Pickels auf meiner Nase manifestieren.
„Alle Politiker haben ihre spirituellen Berater – das weiß bloß niemand“
In Sachen Politik beruhigt mich ein Mitarbeiter der „Akademie House of Shaman“: „Als Ursache für politische Entscheidungen sollten doch immer noch die irdischen Sachen gelten.“ Das sieht Gaja Merson-Lanskaja anders. Sie teilt die Meinung der Partei „Die Violetten – für spirituelle Politik“: „Wir tragen politische Konzepte auf spiritueller Basis in die Gesellschaft.“ Die Frage, ob beispielsweise über einen Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr mithilfe von Tarot-Karten entschieden werden sollte, will jedoch keiner der Aussteller so recht beantworten. Stattdessen höre ich das, was auch von Religionsführern bekannt ist: lange, verschachtelte Sätze, gefüllt mit großen Worten und Floskeln, die man als nichtgläubiger Mensch wohl nie verstehen wird. Das kann mir auch eine freie Journalistin bestätigen, die in der Esoterikszene recherchiert und mir in einer kleinen gemeinsamen Pause erzählt, dass sie inzwischen mehr als genervt ist von ihren Interviewpartnern und immer wenn sie „journalistisch“ wird, also nach Fakten fragt, auf Ablehnung und Empörung stößt. Für ihr sechzigminütiges Feature (der hpd wird berichten) ist sie seit einem Jahr unterwegs. Mir fällt es schon nach vier Stunden schwer, die traumfängerbehangenen Räume noch einmal zu betreten. Doch ein Mann fehlt mir noch.
9.000 Offenbarungen
Ingo Schneuing betreibt unter dem Motto „Gott“ einen der größten und zugleich schlichtesten Stände der Messe. Hier können interessierte Besucher, von denen es bei ihm nicht viele gibt, sich beliebig viele der 232 verschiedenen kostenlosen Broschüren mitnehmen. Die Inhalte wurden, so die mündliche Überlieferung, der Schneiderin Bertha Dudde in 9.000 Offenbarungen vom Herrgott mitgeteilt und werden von Herrn Schneuing nun in Eigenarbeit thematisch zusammengefasst, gedruckt und auf Messen verschenkt. Finanziert wird das Projekt laut Schneuing von Gott persönlich, der immer wieder dafür sorgt, dass die Gelder in Form von Spenden zu ihm zurückfließen. „Meist reicht es jedoch nur für die Spritkosten zur Messe.“ Deplatziert fühlt er sich mit Gott auf einer Esoterik-Messe nicht, habe er doch über die Suche nach „der einen Wahrheit“, die er inzwischen gefunden zu haben meint, zum Herrn gefunden. Eine schwere Krebskrankheit habe ihn auf die Knie gezwungen und in dieser Nacht habe der Herr Jesu seine Krankheit umgehend geheilt. Seine Krankheit war es auch, die ihm gezeigt hat, dass sein bisheriges Leben, bestimmt durch Alkohol und Hurerei, falsch war. Und so ist es seiner Meinung nach auch bei anderen Menschen: „Der Mensch muss erst in äußere weltliche Nöte kommen, damit er den letzten Strohhalm ergreift. Freiwillig ist bisher kaum jemand mit wehenden Fahnen zu ihm übergegangen.“ Diesen klugen Satz begreife ich als Schlusswort und verabschiede mich freundlich von ihm. Kopfschüttelnd entscheide ich mich, der Welt der Fantasie den Rücken zu kehren und verlasse die Messe.
Übrig bleibt an diesem Sonntag jedoch nicht nur die Mit-Freude über alle Besucher, die sich an Glasengeln und Klangschalen erfreuen. Übrig bleibt auch der Ärger über die Scharlatane, die die Naivität, Verzweiflung oder Einsamkeit ihrer Kunden offensichtlich schamlos ausnutzen. Bleibt es bei ein paar Euro, gern auch ein paar hundert, die die Kunden dort lassen, kann man immer noch mit „selbst schuld“ argumentieren. Zugute halten kann man den alternativen Heilmethoden außerdem den nachweislich erfolgreichen Behandlungsaspekt „Zuwendung zum Patienten“, der den Großteil der wenigen Erfolge ausmacht und zunehmend zum festen Bestandteil unseres Verständnisses von evidenzbasierter Medizin wird. Wenn sich aber Kleinkinder an den ungeimpften Kindern esoterischer Impfgegner mit hochgefährlichen Kinderkrankheiten anstecken, wenn Patienten an den „spirituellen Heilmethoden“ selbsternannter Wunderheiler sterben, dann ist dies schlicht ein Fall für den Staatsanwalt. Die Parallelen zur Religion sind schließlich nicht zu übersehen: im Angebot der Esoterik befinden sich beliebige, dreist aus der Luft gegriffene Heilversprechen, die den Verkäufern Geld einbringen und die „Seele“ der Kunden kurzfristig beruhigen. In diesem Sinne: Om und Amen – auf das der Klingelbeutel sich fülle!
Philipp Möller