Plädoyer für eine radikale Modernisierung des säkularen Humanismus

Mehr "Praktischer Humanismus" erforderlich

Frage nach dem Bekenntnis ernst nehmen

Dem entspricht in vielen Fällen eine Alters-, Sozial- und Geschlechterstruktur der Anhängerschaft, welche den älteren gebildeten “deutschen” Mann aus der Mittelschicht als “Normalmitglied” erscheinen lässt. Jüngere, weibliche, kulturell “nicht-deutsche” und auch nicht in der Mittelschicht verankerte Menschen finden immer noch eher ausnahmsweise den Weg zu einer Beteiligung am weltanschaulich orientierten, säkularen Humanismus. Genau dies muss sich grundlegend verändern.

Die Ausnahme der Angebote von ritualisierten weltanschaulichen Offerten für die große Mehrheit der Menschen, die keinen Bedarf an einer ausgearbeiteten weltanschaulichen Orientierung haben, aber so klar weltlich orientiert sind, dass sie entsprechende Angebote der Kirchen nicht in Anspruch nehmen wollen, gibt keinen besonderen Grund zur Beruhigung.

Die organisiert arbeitenden Humanistinnen und Humanisten gestellte Frage, ob und wozu denn überhaupt ein Bekenntnis unter Konfessionsfreien gebraucht wird, ist ernst zu nehmen – und nicht vorschnell affirmativ zu beantworten. In dem Maße, wie die effektive Säkularisierung in der gesellschaftlichen Kultur und Lebensweise sich ausbreitet, und Übergriffe von Kirchen und Religionsgemeinschaften ausbleiben, wird die Funktion dieser Humanistinnen und Humanisten als Interessenvertretung weniger wichtig; in dem Maße, wie sich die Alltagskultur individualisiert – und zugleich multikulturell “hybridisiert” – wird auch die Bedeutung standardisierter weltanschaulich geprägter Angebote verringert.

Schwerpunkte der Diskurspolitik verlagern

Was dagegen bleibt, ist die Funktion der exemplarischen Ausarbeitung einer Pluralität durchreflektierter humanistischer Lebensentwürfe und -modelle, wie sie zum einen durch Diskurspolitik und Publikationen kommuniziert werden können und zum anderen zum Gegenstand individualisierter humanistischer Beratungstätigkeit werden kann.

In einer Zeit, in der die diskursive Ausarbeitung von Geschichtsdeutungen, Erfahrungen und Handlungsmodellen zunehmend von arbeitsteilig institutionalisierten Bildungsgängen und Forschungsinstitutionen wahrgenommen wird, muss sich der Schwerpunkt einer Diskurspolitik des säkularen Humanismus von einem bekenntnisorientierten und selbstbezüglichen Zirkelwesen verlagern in Richtung auf Formen der anerkannten Präsenz in der akademischen Öffentlichkeit, sowie in der allgemeinen Öffentlichkeit, getragen von entsprechenden Netzwerken. Das kann grundsätzlich sowohl in eigenen Einrichtungen, als auch in entsprechend staatlich institutionalisierten Zusammenhängen (Hochschulen) erfolgen. Jedenfalls wird es auf Dauer nicht möglich sein, mit traditionellen Verfahren des Privatgelehrtentums oder des Konventikelwesens die Aufgaben humanistischer Selbstverständigung und Diskursentwicklung zu bewältigen.

Ohne eine Form der professionellen akademischen Elaboration, die sich gegenüber anderen Weltanschauungen behaupten kann, wird der moderne Humanismus sich nicht intellektuell behaupten können. Das muss allerdings keineswegs auf den schlichten akademischen Konformismus hinauslaufen – sowohl die bereits entwickelten Formen der akademischen Dissidenz als auch die damit kommunizierenden intellektuellen Praktiken von Studierenden und akademischen Nachwuchsnetzwerken können aktiviert und genutzt werden.

In dem Maße, wie es humanistischen Verbindungen gelingt, über bloße Diskussionsprozesse hinaus auch relevante Formen gesellschaftlicher Praxis zu betreiben, haben sie dann auch die durchaus reale Chance, derartige Diskursentwicklungsprozesse auf sich zu beziehen: Anstatt in der Beliebigkeit des postmodernen Diskurswirrwarrs faktisch zu verschwinden – was auch nicht durch gelegentliche Aufmerksamkeitseffekte in der breiteren Öffentlichkeit nachhaltig verhindert wird – kann eine an konkrete Formen relevanter gesellschaftlicher Praxis gebundene Reflexion sich immerhin schrittweise weiterentwickeln und auf diese Weise eine neue Erkennbarkeit und Dauerhaftigkeit aufbauen. Das gilt zunächst für humanistische Praktiken in den entsprechenden fachlichen Bereichen – etwa Erziehung, Sozialarbeit, Feierkultur, Beratung –, kann aber dann auch zunehmend in umfassendere Grundmuster für humanistische Lebensentwürfe übersetzt werden.

Praktischer Humanismus: ein notwendiges Korrektiv

In dieser spezifischen Rückbindung an Orientierungsprozesse in bestimmten Praxisfeldern liegt eine besondere, anderen Angeboten überlegene Chance des Humanismus als Weltanschauung – er kann dadurch auf die spezialisierten Kompetenzen der Orientierungstätigkeit in relevanten gesellschaftlichen Feldern zurückgreifen und dadurch der Beliebigkeit der postmodernen Diskursvielfalt entgehen, ohne sich auf traditionelle Formen der bloß dogmatischen Reproduktion weltanschaulicher Positionen zurückzuziehen. Damit kann der organisierte Humanismus zu einem wichtigen Bündnispartner konkreter Reform-, Widerstands- oder Befreiungsbewegungen werden, welche ebenfalls ihre spezifischen Befreiungsanliegen nicht in dieser Beliebigkeit aufzulösen bereit sind.

Allerdings ist der moderne praktische Humanismus nicht dazu in der Lage, die tief sitzende Krise zu beheben, die innerhalb der gegenwärtigen Wissenschaften von Geschichte und Gesellschaft zwischen den herrschende Formen von ökonomischer Neoklassik, Soziologie und Psychologie und den sie hinterfragenden Formen etwa der Kritik der politischen Ökonomie oder der Psychoanalyse für umfassende und anhaltende Verwirrung sorgt.

Er muss sich daher darauf beschränken, gerade diejenigen Orientierungen zu erarbeiten und weitergehend zu praktizieren, welche sich aufgrund der gesellschaftlichen Praxis ebenso in ihren übergreifenden Strukturen wie in ihren spezifischen Feldern gewinnen lassen – ethische und politische Minima wie die Menschenwürde und weiterreichende Konzepte wie die unabschließbare “Dialektik von Menschen- und Bürgerrechten”.

Diese Begrenzung ist jedoch in einer historischen Lage, in der sich der Menschheit noch nicht wieder eine große Alternative stellt, erst einmal ein wirklicher Gewinn: Denn es hilft dabei, vorschnellen, dogmatischen, aus der Vergangenheit in die Gegenwart projizierten Vorstellungen über eine derartige historische Alternative nicht zu erliegen; und es schafft den nötigen Raum dafür, sorgfältiger und konkreter zu untersuchen, welche Alternativen zu den bestehenden gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnissen erarbeitet und letztlich auch durchgesetzt werden können.

Insofern ist die dezidiert ethisch-politische Haltung, die ein weltanschaulich orientierter praktischer Humanismus artikuliert, ein permanent notwendiges Korrektiv gegenüber allzu einfachen Vorstellungen der erforderlichen historischen Transformationen. Damit bietet der moderne praktische Humanismus eine reale Chance, der gesellschaftlichen und kulturellen Entwicklung immer wieder wichtige Momente der Humanisierung abzuringen.

Frieder Otto Wolf