Thesen zur geistigen Situation der Zeit und zur Krise des säkularen Humanismus
Die geistige Situation der Zeit ist von einem Sturm bestimmt, der insbesondere einem wirklich zeitgenössischen humanistischen Denken ins Gesicht weht. Die historische Situation des beginnenden 21. Jahrhunderts lässt sich nicht mehr auf eine Formel in der Art der von Rosa Luxemburg in ihren Junius-Briefen aufgemachten Alternative von “Sozialismus oder Barbarei” bringen. Auch wenn wir das Wehen dieses Sturmes kaum noch wahrzunehmen scheinen: Er weht uns – und allen, die an der Humanisierung der menschlichen Verhältnisse interessiert sind, beständig und kraftvoll ins Gesicht. Unsere Gegenwart steht zumindest erst einmal und immer noch unter dem Zeichen jener schrecklichen Formel, mit der Margaret Thatcher die geschichtstheoretische Lehre Friedrich A. von Hayeks popularisiert hat: “There is no alternative!” (TINA).
Statt “x oder Barbarei?” müssen wir also heute offenbar immer noch fragen: “Barbarei und was dann?” Und wir müssen erst einmal daran arbeiten, dass wir längerfristig wieder von einer triftigen historischen Alternative sprechen können. Das muss damit beginnen, ein paar Punkte zur Kenntnis zu nehmen, welche die ältere Tradition humanistischen Denkens sich wohl derart niemals hat vorstellen können, welche aber heute die historische Lage bestimmen.
Martin Heideggers finstere Diagnose (1938!) vom Ende der “Zeit der Weltbilder” hat sich offenbar letztlich bewahrheitet: Die Schrecken des kurzen 20. Jahrhunderts haben den meisten Menschen das Bestreben ausgetrieben, sich das “wahre Ganze” diskursiv zu rekonstruieren. Stattdessen haben Ethik (staatlicher Offizialdiskurs) und narrative Orientierungsmuster (Postmoderne) historisch Konjunktur. Beides stellt humanistisches Denken vor neue Herausforderungen, die weder mit den traditionellen Mitteln kollektiver doktrinärer Elaboration, noch mit denen eines individuellen ideologischen Do-it-yourself zu bewältigen sind.
Ein zeitgenössisches humanistisches Denken muss die keineswegs triviale Frage beantworten, wie heute rationale Orientierungen auf dem Stand wissenschaftlicher Erkenntnis und historischer Erfahrungen ausgearbeitet, überprüft und weiterentwickelt werden können – und was dadurch für eine befreite menschliche Praxis zu gewinnen ist. Mit anderen Worten geht es darum, eine erneuerte Praxis der Aufklärung zu entfalten, welche mit der unbestreitbar gewordenen “Dialektik der Aufklärung” bewusst umzugehen vermag.
Säkularer Humanismus steht nicht allein
Seit in der Nacht des 20. Jahrhunderts Christen und andere religiöse Menschen auch zu Trägern von Kritik und Widerstand angesichts der sich ausbreitenden Barbarei geworden sind, hat es eine paradoxale Rückkehr der Religionen gegeben. Diese haben in zwei gegensätzlichen Gestalten wieder die historische Bühne betreten: Anstatt sich im Zeichen des wissenschaftlichen Fortschrittes aus dem großen Palaver der Menschheit über ihre Wünsche und Ziele zu verabschieden, sind religiöse Kräfte sowohl als Fundamentalismen bei allen reaktionären Vorstößen beteiligt, als auch als selbstkritisch reflektierte Strömungen bei praktisch allen emanzipatorischen Initiativen in vorderster Front dabei – etwa das “religionslose Christentum” im Protestantismus und die “Theologie der Befreiung” im Katholizismus – oder auch diejenigen islamischen Intellektuellen, welche längst damit begonnen haben, die im 11. Jahrhundert durchgesetzte These vom “Ende der Untersuchung” zu hinterfragen und innerhalb des Islam die offene Grundlagenreflektion vorantreiben.
Ein wirklich zeitgenössisches humanistisches Denken muss sich daher nicht nur dessen bewusst sein, dass der weltanschaulich orientierte, säkulare Humanismus keineswegs selbstverständlich alleine da steht, sondern der durchaus legitimen Konkurrenz durch christliche, mosaische oder islamische Humanismen ausgesetzt ist. Ebenso wenig ist zu vergessen, mit welchen reaktionären Projekten des 19. und 20. Jahrhunderts, insbesondere mit Rassismus und Kolonialismus, sich auch atheistische oder agnostische Positionen verbunden haben, zum Teil sogar unter expliziter Berufung auf einen Humanismus.
Spätestens seit der weltweiten Jugendrevolte der 1960er Jahre ist die deutsche “Nationalkultur” (die im heute aufzuarbeitenden “Kulturerbe” der DDR z.T. wie in einer Zeitblase aufbewahrt ist) zu Ende gekommen – und zwar nicht in einer amerikanisierten “McDisney-World”, sondern im Patchwork einer weltweit “mestizisierten” kulturellen Diversität (vgl. die “World Music”), in der “bad english” zur Weltsprache geworden ist, in die hinein alle ihre eigenen Traditionslinien übersetzen und in der alle darum ringen, die Zukunft der Menschheit in Worte, Bilder und Erzählungen zu fassen.
Dies gilt gerade auch für ein EU-Europa, das sich immerhin im gescheiterten Versuch seiner Verfassungsgebung – trotz aller neoliberalen Vorgaben für dessen Inhalte – zum ersten Mal einen gemeinsamen institutionellen Bezugsrahmen für einen gemeinsamen politischen Raum der europäischen Völker zu erarbeiten versucht hatte.
Neue Initiativen sind erforderlich
Ein zeitgenössisches humanistisches Denken kann in diesen Prozessen nicht provinziell beiseite stehen, sondern muss sich aktiv und initiativ einbringen. Auch die deutschen Traditionslinien, sowohl der Linie der Weimarer Klassik, als auch die Linie des klassischen deutschen Idealismus und seiner Fortsetzungen im historischen Marxismus, stehen unter dem Imperativ, sich in diese neue globale theoretische Weltkultur einzubringen und sich daher zunächst einmal selbst in deren Sprache zu übertragen.
Die Vorstellung von einem “Subjekt der Geschichte”, von einer handelnden Instanz, deren bewusstes Handeln den historischen Prozess direkt und ohne Umwege gestalten kann, ist aus guten Gründen in die Krise geraten. Auch wenn es gegen Foucaults zugespitzte These vom “Tod des Menschen” durchaus begründete Einwände gibt, ist doch immerhin ganz klar zu sehen, dass die immer noch verbreitete Vorstellung, vorab und “wissenschaftlich” ein “Wesen des Menschen” bestimmen zu können, welches dann aller wissenschaftlichen Erforschung von Geschichte und Gesellschaft zugrunde zu legen wäre, auf eine nicht mehr rückholbare Weise unter der praktischen (Selbst-)Kritik des späten 20. Jahrhunderts zerfallen ist.
Ein humanistisches Denken, das nach diesem “Tod des Menschen” seine Triftigkeit beweist, muss sich daher von allen spekulativen Kurzschlüssen befreien, wie sie sich im 19. und 20. Jahrhundert in vielen sehr unterschiedlichen Humanismen an die idealisierte Figur des weißen Mannes und seiner Vernunft gebunden haben, denen die in der westeuropäischen Neuzeit entwickelten Formen von Wissenschaft und Politik zu Gebote standen.
Der säkulare Humanismus steckt angesichts dieser historischen Lage in einer strukturellen Krise, die durchaus noch zu einer Existenzkrise werden wird, wenn nicht über die ersten Ansätze zu einer praktischen Erneuerung des Humanismus weiterhin neue Initiativen ergriffen werden. Während die religiösen Kräfte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts relativ erfolgreich die kulturellen Formen ihrer Orientierungsangebote modernisiert haben, hält der säkulare Humanismus immer noch allein an den traditionellen kulturellen Formen der diskursiven Selbstverständigung fest, die Ende des 19. Jahrhunderts den Höhepunkt ihrer Entwicklung erlebten, wie den populärwissenschaftlichen Vortrag, die weltanschauliche Bildungsveranstaltung und die Veröffentlichung einschlägiger Schriften. Über allererste, durchaus vielversprechende Ansätze zu einer weltanschaulichen Kommunikation in der und durch die gesellschaftliche Praxis und eine gewisse Neubelebung der Feierkultur hinaus macht der moderne praktische Humanismus bisher allenfalls erste Gehversuche in den neuen elektronischen Medien und Online-Netzwerken.
1 Kommentar
Kommentare
Horst Groschopp am Permanenter Link
Das Hauptproblem des organisierten Humanismus besteht sicher in seiner praktischen Schwäche.