GRAZ. (hpd) Im gesellschaftlichen Bewusstsein ist die Orgel weitgehend unhinterfragt als Instrument mit sakralem Charakter verankert, das vorwiegend in Gottesdiensten erklingt. Was sie ihrem Wesen nach ist, fällt dabei unter den Tisch: ein Musikinstrument, dessen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten es förmlich dazu prädestinieren, als künstlerisches Ausdrucksmedium umfassend und unzensiert genutzt zu werden.
Will man das Gefängnis, in dem sich die Orgel heute befindet, nachhaltig aufbrechen, ist der historische Blick auf den Sakralisierungsprozess unumgänglich. Die Ursprünge der langen Geschichte der Orgel sind nämlich nicht etwa im religiösen Kult zu suchen: Vermutlich vom Tüftler Ktesibios von Alexandria im 3. Jh. v. Chr. erfunden, entwickelte sich die Orgel bald zum Inbegriff der Weltlichkeit: Als Statussymbol und Ausdrucksmedium der Macht der antiken Kaiser erklang sie bei Hofzeremoniellen, Hochzeiten, königlichen Empfängen, im Hippodrom, im Theater, bei Gladiatorenkämpfen und Hinrichtungen.
Die Brisanz der Frage, wie gerade ein derart weltliches Instrument zu dem gottesdienstlichen Instrument schlechthin werden konnte, das die Orgel heute ist, liegt auf der Hand. Doppelt interessant wird es, vergegenwärtigt man sich die Haltung der Kirchenväter gegenüber der Musik im Allgemeinen: Augustinus und Konsorten stehen ihr durch die Bank skeptisch bis ablehnend gegenüber, rührt die Musik schließlich aufs Empfindlichste an die christliche Urangst vor allem Sinnlichen und Körperlich-Lustvollen. Dass die Kirche von Anfang an bestrebt war, weltliche Einflüsse auf die Musik in der Kirche durch Konzilsbeschlüsse, Dekrete, päpstliche Enzykliken und Verbote einzudämmen, ist vor diesem Hintergrund nicht weiter verwunderlich.
Welchen genauen Weg die Orgel in die Kirche genommen hat, lässt sich musikhistorisch derzeit nur vermuten. Fest steht jedoch, dass für den sakralen Stempel, unter dem das Instrument heute leidet, besonders das 19. Jahrhundert von maßgeblicher Bedeutung war. Indirekte Schützenhilfe erhielt die Kirche hier vonseiten der von der Romantik durchdrungenen Musikkultur des Bürgertums: Sie schreibt der Orgel zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz explizit sakralen Charakter in scharfer Abgrenzung zur sinnlichen weltlichen Musik zu. Die Orgel wird zum metaphysischen Instrument verklärt, das religiöse Gefühle wecke und sich durch Eigenschaften wie Gravität, Feierlichkeit, Ernst, Strenge, Würde und Erhabenheit auszeichne. Der Komponist Hector Berlioz bringt den Zeitgeist in seiner Instrumentationslehre auf den Punkt: “Beide - Orgel sowohl wie Orchester - sind Könige, oder vielmehr das Eine ist Kaiser und die andere Papst.” [1]
Eine vollständige Vereinnahmung
Rückblickend könnte man der Kirche nicht nur einiges Verdrängungspotenzial unterstellen, sondern auch gehöriges psychologisches Geschick: Man kann einer Bedrohung ganz gut den Stachel nehmen und nebenbei noch ihre repräsentativen Vorzüge für das eigene Marketing nutzen, indem man sie sich einverleibt und einer vollständigen Vereinnahmung unterzieht.
Diese ist heute mehr als nur gelungen: Kaum jemand trennt das Instrument von den ihm zugeschriebenen Eigenschaften – die Orgel ist ein weihevolles, erhabenes, gravitätisches Instrument, auf dem man nunmal nicht leicht, schnell, verspielt und leidenschaftlich spielen kann. Dass hier ein gravierender logischer Fehler unterläuft, kommt meist gar nicht erst zu Bewusstsein.
Blickt man heute kritisch in die Orgelszene, erkennt man, wie umfassend sich die sakrale Charakterzuschreibung der Orgel auswirkt.
Von vordergründiger Bedeutung ist dabei der Standort des Instruments: Zwar gibt es in vielen Konzertsälen Orgeln, weit mehr stehen allerdings in Kirchen und dort ist das Instrument auch am häufigsten zu hören. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Organistinnen und Organisten, die Orgelpädagogik und den Konzertbetrieb.
Erst einmal ist der Kirchenraum nicht gerade heimelig, hält man sich die teilweise im Sommer noch herrschende Eiseskälte so mancher Kirche vor Augen, die prekären Lichtverhältnisse oder die Hürden, die man mancherorts zu überwinden hat, will man den Schlüssel für die Orgelempore auch nur für eine ungestörte halbe Stunde erhalten. Doch was tut man nicht alles, um als Musikerin oder Musiker an sein Instrument zu kommen! Die Romantik findet allerdings spätestens dann ein jähes Ende, wenn sich der freien künstlerischen Entfaltung die von der Kirche eingeforderte ‘Würde’ des Kirchenraumes in den Weg stellt. Diese ominöse Wirkmacht bestimmt, was wie unterrichtet, geübt und im Konzert gespielt wird und was nicht. Ein befreundeter Organist und profunder Kenner der Szene fasste das Dogma, das für die Orgel zu herrschen scheint, einmal treffend als die “drei L der Orgel” zusammen: “langsam, laut und langweilig” – Sinnlichkeit hat nun einmal im Kirchenraum nichts zu suchen.
Auf das Publikum wirkt das verständlicherweise nicht unbedingt attraktiv: Für kirchenferne Menschen gibt es durchaus bequemere Orte, sich einen bereichernden musikalischen Abend zu gönnen, als den funktional zur Buße eingerichteten Kirchenraum. Und wer die “drei L” lieber mit “lebendig, leidenschaftlich, lustvoll” ausgefüllt sähe, wird Besseres zu tun haben, als ein durchschnittliches Orgelkonzert zu besuchen.
Orgelunterricht ist fast immer kirchlich
In der Orgelpädagogik wird das Standortproblem auf anderer Ebene noch deutlicher: Orgelunterricht wird in erster Linie von kirchlichen Institutionen und nur vereinzelt auch an Musikschulen angeboten. Wenn doch, dann mischt auch da die Kirche meist kräftig mit: Der Lehrplan für Orgel an den deutschen und österreichischen Musikschulen enthält ganz klar das Liturgische Orgelspiel als vorgeschriebenen Unterrichtsinhalt. [2] Mehr noch: Die niederösterreichischen Musikschulen antworten beispielsweise auf die Frage “Worauf sollte man achten, wenn man sich für die Orgel entscheidet?” folgendermaßen: “Die Bereitschaft, […] für die Kirche (Gottesdienste) zu spielen, ist Voraussetzung für den Orgelunterricht.” [3] Hier liegt ganz eindeutig religiöse Diskriminierung vor – traut man sich allerdings, das in der Orgel- und generell in der Musikszene zu äußern, stößt man meist auf verstörte Gesichter.
Orgelliteratur ebenfalls
Als wäre der Standort nicht schon Problem genug, wirkt der sakrale Stempel der Orgel auf anderen Ebenen weiter. Wirft man einen Blick auf die Orgelliteratur, stellt man fest, dass Kompositionen für die Orgel zu einem großen Teil vor einem religiösen Background und um eines religiösen Statements willen entstanden und entstehen. Um gerecht zu sein: Es gibt durchaus Orgelliteratur, die keine religiösen Motive verfolgt, nicht mit religiösen Texten unterlegt oder mit religiösen Titeln versehen ist – trotzdem findet man Eigenschaften wie gravitätische Schwere, Ernsthaftigkeit und langsame Tempi hier viel häufiger als in der Literatur für andere Instrumente.
Damit ist die Problematik, die sich mit Blick auf die Orgelszene auftut, in ihren Grundzügen umrissen. Doch wo ist anzusetzen, um eine nachhaltige Veränderung der Situation herbeizuführen? Zu allererst ist die Schulung des öffentlichen Bewusstseins gefordert: Ein ‘phänomenologischer’ Blick auf die Orgel zeigt, dass das Instrument an sich kein sakrales ist, sondern dass dieses Sujet ihm nur zugeschrieben und daher grundsätzlich aufweichbar ist.
Es wäre daher schön, entdeckten Komponistinnen und Komponisten die Orgel für sich – nicht als Medium, sich auf bequemem Wege religiös zu äußern, sondern als Mittel, prinzipiell alles kompositorisch zu verarbeiten, was bewegt. Wünschenswert für die Loslösung der Orgel aus dem sakralen Kontext wäre sicher die Vertonung gerade dezidiert weltlicher Stoffe (bis hin zu wirklichen ‘Anti’-Themen zur sinnesfeindlichen Kultur der Kirche) und eine bewusste Auseinandersetzung mit dem sakralen Sujet des Instruments – schließlich hat Kunst auch die Aufgabe, Kritik zu üben und Fragen anzustoßen. Wenn dann noch der Mut unter den Interpretinnen und Interpreten wächst, sich den “drei L” und den auf ihrem Instrument besonders starren Interpretationsschemata bewusst nicht mehr unterzuordnen, ist viel an Attraktivität gewonnen.
Die Befreiung der Orgel
Das größte Befreiungspotenzial geht aber ohne Frage von der Digitalisierung der Pfeifenorgel aus, denn sie ermöglicht den entscheidenden Standortwechsel: Selbst große digitale Orgeln sind mobil und können an jeden erdenklichen Konzertort gebracht werden. Darüber hinaus bieten sie ungeheure spieltechnische, klangliche und didaktische Möglichkeiten für Üben und Unterricht, wo die mechanische Bauweise der Pfeifenorgel Grenzen setzt. Nicht zuletzt spricht aber eines für die digitale Orgel: die Aussicht, als Organistin oder Organist plötzlich ein ‘eigenes’ Instrument zu haben, so wie es für alle anderen Musikerinnen und Musiker selbstverständlich ist.
Nicht selten gleicht ein Orgelkonzert nämlich einer Zitterpartie, weil sich eine alles entscheidende Frage in den Vordergrund drängt: Macht das Instrument, das man im günstigsten Fall drei Tage zuvor kennen und nicht immer auch lieben gelernt hat, auch mit bei dem, was man musikalisch ausdrücken will?
Einige wenige Künstler, die ihr Instrument vom kirchlichen Standort lösen wollen, haben die Vorzüge der Digitalisierung bereits erkannt: Zu erwähnen ist hier allen voran der amerikanische Orgelvirtuose Cameron Carpenter, der mit seinem Konzept der “Touring Organ” [4] alle Vorteile, die eine digitale Orgel bietet, bewusst ausschöpft und aufgrund seiner klar antireligiösen Ideen und den künstlerischen Freiheiten, die er sich herausnimmt, mittlerweile als “bad boy of the organ” gilt.
In Europa hat in Hinblick auf die Digitalisierung der Orgel Gunther Rost, Professor für Orgel an der Kunstuniversität Graz, Bemerkenswertes geleistet und, wie Carpenter in Amerika, die Idee der Orgel als ‘Ein-Personen-Orchester’ konsequent weitergedacht: Unter Rosts Ägide kam es an der Grazer Kunstuniversität zur Anschaffung eines großen digitalen Instruments, an dem nun geübt, konzertiert und künstlerisch und akustisch geforscht wird. [5]
Damit hat sich Rost durchaus nicht viele Freunde und Freundinnen gemacht, denn die Digitalisierung ist in der Orgelszene ein rotes Tuch. Diskutiert wird darüber meist mit fadenscheinigen Argumenten [6], die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar erweisen. Klar wird vielmehr: Wer der Digitalisierung der Orgel von vornherein ablehnend gegenübersteht, so wie es die Mehrheit der Orgelszene tut, hat entweder noch nicht begriffen, welche Perspektiven das Instrument eröffnet – oder man ist sich sehr wohl darüber im Klaren, fühlt sich davon aber in seiner Existenz bedroht.
Es scheint, als beschwöre die Digitalisierung der Orgel diverse Ängste herauf: Angst vor zu vielen gestalterischen Möglichkeiten, die, wenn man sie nicht auszuschöpfen vermag, die eigenen Unzulänglichkeiten spürbar machen; Angst aber nicht zuletzt und vielleicht vor allem vor einem drohenden und in Kirchenkreisen gefürchteten Standortwechsel. Gerade diese große Ablehnung innerhalb der Orgelszene verdeutlicht aber das gewaltige Innovationspotenzial, das von der Digitalisierung des Instruments ausgeht.
Was gefragt ist, um die Orgel aus ihrem sakralen Gefängnis zu befreien, ist also Mut zur Innovation auf allen Ebenen: Orgelbauerinnen und Orgelbauer, Komponistinnen und Komponisten, Interpretinnen und Interpreten, Orgelpädagoginnen und Orgelpädagogen und Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler müssen die jahrhundertelang gewachsene sakrale Konnotation der Orgel hinterfragen, um das Instrument als das zu etablieren, was es fernab von jeder Vereinnahmung ist: ein Musikinstrument, dessen Facettenreichtum und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten es schier dazu prädestinieren, die unpassende Nonnentracht endlich abzustreifen und sie gegen uneingeschränkte künstlerische Freiheit einzutauschen.
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Hector Berlioz, Instrumentationslehre. Ein vollständiges Lehrbuch zur Erlangung der Kenntniß aller Instrumente und deren Anwendung, nebst einer Anleitung zur Behandlung und Direction des Orchesters, autorisierte deutsche Ausgabe von Alfred Dörffel, Leipzig 1864, S. 117. ↩
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Vgl. Lehrplan für Musikschulen. Fachspezifischer Teil Orgel, hg. v. Konferenz der österreichischen Musikschulwerke, Wien 2007, online verfügbar: http://www.komu.at/lehrplan/KOMU_Lehrplan_Orgel.pdf (Stand: 30.11.2014) und Lehrplan Orgel, hg. v. Verband deutscher Musikschulen, Regensburg 1992. ↩
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http://www.musikschulmanagement.at/ de/default.asp?id=87401&medium=MUSIK&sstr=Orgel, Stand: 29.11.2014. ↩
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Vgl. beispielsweise http://www.cameroncarpenter.com/touring-organ/ (Stand: 08.12.2014). ↩
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Vgl. verschiedene Dokumente auf http://orgel-kirchenmusik.kug.ac.at/ (Stand: 08.12.2014). ↩
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Vgl. beispielsweise Lehrplan für Musikschulen. Fachspezifischer Teil Orgel, hg. v. Konferenz der österreichischen Musikschulwerke, Wien 2007, S. 12, online verfügbar: http://www.komu.at/lehrplan/KOMU_Lehrplan_Orgel.pdf (Stand: 08.12.2014). ↩
12 Kommentare
Kommentare
Wolfgang Graff am Permanenter Link
Kompliment für diesen Beitrag! Eine ungewöhnliche, aber dennoch überzeugende Idee, ein vermeintlich sakrales Musikinstrument zu
re-säkularisieren. Jedenfalls hat der wunderbare Klang der Orgel mehr Popularität verdient als nur von einer Handvoll Kirchenbesucher gehört zu werden. Ich finde, man kann auch Kirchenkompositionen durchaus mit säkularen Ohren hören und ihren musikalischen Wert goutieren. Wenn das künftig öfter in säkularem Ambiente möglich wäre - umso besser.
(Übrigens bin ich der Meinung, dass der hpd mit mehr Beiträgen zum Thema Kunst wesentlich farbiger würde.)
Margareth Tumler am Permanenter Link
Vielen Dank für Ihren Beitrag und den Hinweis, dass auch religiöse Musik bzw. Kirchenmusik durchaus 'mit säkularen Ohren' gehört werden kann und soll.
Georg am Permanenter Link
Also ich bin auch ein großer Fan von Orgelmusik. Überzeugter Atheist aber wohl durch frühere Pflicht-Kichenbesuche als Kind und Jugendlicher mit der Orgel in Berührung gekommen.
Und ok, es gibt zwar Orgelkonzerte in Kirchen, aber die sind ja meistens auch eher sehr von kirchlicher Musik geprägt. Wobei die wiederum ja auch wertgeschätzt werden kann, da sie prinzipiell rein instrumentell ja nicht unbedingt religiös sein muss, sondern alles mögliche sein kann.
Und ich habe auch nichts dagegen, wenn mit der Orgel laute und langsame Stücke gespielt werden. Das muss doch erst mal nichts mit Lustfeindlichkeit zu tun haben. Auch erhabene, ernste Musik kann gefallen und schön sein, auch für Atheisten, die darin nicht Gott suchen. Also nur nicht gleich so negativ.
Ob so mobile, digitale Orgeln etwas sind!? Keine Ahnung, ich kenne die nicht. Bedenken hätte ich allein schon aus dem Grund, da Orgel und Gebäude (also die alte Kirche aus massivem Stein) ja oftmals eine Einheit bilden. Klanglich aufeinander abgestimmt. Und zum Glück gibt es ja auch immer mehr säkularisierte Kirchen, warum lässt man da dann nicht einfach die Orgel drin stehen und nutzt so ein Gebäude für weltliche Orgelmusik? Fände ich eine gute Idee...
Margareth Tumler am Permanenter Link
Ja, auch erhabene, ernste, laute und langsame Stücke können und sollen gefallen - problematisch wird es dann, wenn ein Instrument darauf eingeengt wird, diese und nur diese Gefühle ausdrücken zu können.
Zum Thema digitale Orgeln: Auch sie müssen selbstverständlich auf den Raum, in den sie gebracht werden, klanglich abgestimmt werden. Das funktioniert leider noch nicht immer zufriedenstellend - diesesProblem ist aber durch Experimentieren und systematische Forschung (wie sie z. B. gerade an der Kunstuniversität Graz betrieben wird) mit hoher Wahrscheinlichkeit in den nächsten Jahren in den Griff zu bekommen.
Bernhard Dingler am Permanenter Link
Die Orgel hat längst ihre Metamorphose in die Moderne erlebt. Ihre Transformation in die Popmusik war natürlich auch einer ´Elektronisierung´ verbunden, das Schicksal auch z. B. der Guitarre.
Margareth Tumler am Permanenter Link
Da haben Sie Recht - von der Idee her funktioniert ein Synthesizer wie eine Orgel.
Melissa Dermastia am Permanenter Link
Es soll durchaus ins Bewusstsein der Menschen dringen, dass die Orgel nicht nur "erhaben" und "gravitätisch" klingen kann, sondern auch verspielt und schnell, doch muss hier doch nicht eine Verteuf
Und ist es auch hier nicht völlig gleichsam, ob der Interpret ein Katholik, Muslim oder Atheist ist? Was macht einen religiösen Menschen automatisch zu einer langweiligeren Person? Wo bleibt hier die gegenseitige Toleranz?
-"Wirft man einen Blick auf die Orgelliteratur, stellt man fest, dass Kompositionen für die Orgel zu einem großen Teil vor einem religiösen Background und um eines religiösen Statements willen entstanden und entstehen."
Stellt das nun ein Problem für die Interpretation dar? Muss man gläubig sein, um Werke von Bach, Messiaen etc spielen zu können? Oder umgekehrt, haben von gläubigen Menschen komponierte Werke einen geringeren Wert?
-"...trotzdem findet man Eigenschaften wie gravitätische Schwere, Ernsthaftigkeit und langsame Tempi hier viel häufiger als in der Literatur für andere Instrumente"
Dies liegt wohl an der Beschaffenheit der Räume, für die die Musik konzipiert wurde. Raumakustik ist ein wesentlicher Aspekt der Orgelmusik, der von allen guten Komponisten in die einzelnen Werke miteinbezogen wurde. Nun stehen wir vor der Tatsache, dass ein Großteil der Orgelmusik für den Kirchenraum komponiert wurde - ist es daher nicht ratsam, die Werke gemäß ihrer Bestimmung an jenen Orten aufzuführen, ohne jeglichen Hallimitator, sondern mit echtem Hall? Ist Gravität per se denn abzulehnen?
Nun erwähnen Sie im Bezug auf die Digitalorgel, dass die meisten Organisten "Angst vor zu vielen gestalterischen Möglichkeiten [hätten], die, wenn man sie nicht auszuschöpfen vermag, die eigenen Unzulänglichkeiten spürbar machen".
Sind es nicht die gestalterischen Möglichkeiten der verschiedenen Orgeln aus verschiedenen Jahrhunderten und in unterschiedlichen Ländern, die das Wesen der Orgel ausmachen? Mir ist durchaus bewusst, dass man auf einer Digitalorgel all jene Orgeln vereinen kann und per Knopfdruck von einer norddeutschen Barockorgel zu einer französisch-romantischen Orgel umschalten kann, doch warum muss man "echt" imitieren, wenn man "echt" so einfach haben kann? Aus Angst vor dem Kirchenraum? Gerade die Flexiblität, sich auf verschiedene, andersartige Instrumente einstellen zu können, macht doch eine Organistin oder einen Organisten aus. Schwere und Ernsthaftigkeit? Womöglich, doch dem mag eine Digitalorgel kaum entgegenwirken.
Belebung? Ja! Aber bitte auf dem Original und ohne Diskriminierung ob des religiösen Bekenntnisses.
Margareth Tumler am Permanenter Link
Die Pfeifenorgel zu verteufeln, liegt mir fern - ich finde im Gegenteil, dass die Idee, die ihr zugrunde liegt, so faszinierend ist, dass sie es wert ist, in der Gesellschaft anzukommen (daher das Plädoyer - sonst hät
Dass dafür die Digitalisierung entscheidend ist, dafür habe ich versucht zu argumentieren. Dass aber eben diese Digitalisierung die Pfeifenorgel als Grundlage hat, wird klar, hält man sich vor Augen, dass es sich bei der Klangerzeugung der digitalen Instrumente, von denen ich sprach, um Sampels von Pfeifenorgeln handelt.
Ja, es kommt auf die Spielerin und den Spieler an, das schreibe ich auch selbst (allerdings mit einer Einschränkung: Ich glaube, es kommt nicht nur, sondern auch auf die Interpretinnen und Interpreten an). Aber: Die mechanische Bauweise herkömmlicher Orgeln setzt Grenzen, wo digitale Instrumente noch nicht an ihre stoßen - ich denke hier z. B. an das Gewicht mechanischer Koppeln, die Starrheit der Manualverteilung, die unergonomische Bauweise (die z. B. den Unterricht von Kindern unmöglich macht), die starre Disposition usw. - und eben nicht zuletzt auch an die Gebundenheit an den Standort.
Was die Orgelliteratur betrifft: Natürlich können auch nicht religiöse Menschen Werke von religiösen Komponistinnen und Komponisten interpretieren (siehe oben). Im Sinne größtmöglicher Freiheit wäre es aber wünschenswert, wenn die Orgel eben nicht nur dafür hergenommen wird, auf möglichst bequeme Art und Weise einen "accent religieux" (Berlioz) zu erzeugen, sondern auch, um andere Gefühle als Ernst, Feierlichkeit, Schwere usw. auszudrücken.
Ich glaube, dass man von dieser Erweiterung auch als Interpretin und Interpret unmittelbar profitiert - die von Ihnen beschriebene "Flexibilität, sich auf verschiedene, andersartige Instrumente einstellen zu können", bedeutet nämlich auch, sich mit den spieltechnischen Grenzen, die die Instrumente (manchmal schnell, manchmal weniger schnell) setzen, und mit den räumlichen Gegebenheiten zufrieden zu geben und seine Interpretation und die Auswahl der Musik diesem starren Rahmen unterzuordnen. Wer das gerne tut, dem steht es frei, es auch weiterhin zu tun - wer mehr Freiheit haben möchte, wird sie auf digitalen Instrumenten finden.
Noch ein letztes Wort zum Thema religiöse Diskriminierung: Genau dieses Phänomen kritisiere ich in meinem Artikel - hier bitte ich um genaue Lektüre und davon abzusehen, mir zu unterstellen, ich hielte religiöse Menschen automatisch für langweilig. Bei den "drei L" ging es explizit um die Art, wie das Instrument meist erklingt - auf die Charaktereigenschaften der Spielerin oder des Spielers, die oder der den Klang erzeugt, kann daraus logisch nicht geschlossen werden - nur darauf, dass sie oder er sich dem Gebot unterordnet.
Wolfgang Graff am Permanenter Link
Liebe Frau Tumler,
wie belebend Ihr Beitrag für die hpd-Leserschaft ist, das lässt sich schon an der für diese Website ungewöhnlich großen Zahl an Kommentaren erkennen.
Wann kann man Sie denn mal in Deutschland an der Orgel erleben? Ich nehme an, Sie sind eine Solistin und nicht "nur" eine Musikwissenschaftlerin. Ich bin sicher, der hpd wird Ihre Konzerttermine gern veröffentlichen.
Wie auch immer: Viel Erfolg für Sie!
Margareth Tumler am Permanenter Link
Lieber Herr Graff,
vielen lieben Dank für Ihren freundlichen und ermutigenden Beitrag! Ja, Sie haben richtig getippt - ich bin ausgebildete Konzertorganistin und Orgelpädagogin. In Deutschland ist bislang noch nichts geplant, ich hoffe aber, das wird sich ändern!
Herzlich, Margareth Tumler
Peter Planyavsky am Permanenter Link
(Alle Ausdrücke sind geschlechtsneutral zu verstehen.)
1 - Man muß keineswegs religiös bzw. gläubig sein, um professionell Orgel zu spielen. Aber man muß die Konzepte, die hinter einem Großteil der Orgelmusik stehen, verstehen. (Man muß auch nicht an Hexen glauben, um "Hänsel und Gretel“ zu dirigieren oder dabei Regie zu führen; man muß allerdings den kulturell/literarischen Topos „Hexe“ verstehen.) Ich kann Ihnen eine Menge aus dem katholischen Glauben bzw. aus der Kirchenmusik erklären (vielleicht sogar besser als so mancher fromme Kollege), aber ich bin nicht gläubig.
2 - Das liturgische Orgelspiel ist eine spezielle technische Fähigkeit im Gesamtprofil des Organisten und setzt Gläubigkeit keineswegs voraus.
3 - Es ist bekannt, daß es den "reinen Konzertorganisten" nur vereinzelt gibt; wer davon leben kann: gut. Und wer das von Anfang an zu wisssen glaubt, daß er nie, nie nie einen Kirchendienst brauchen wird - der braucht auch Liturgisches Orgelspiel nicht zu lernen. Aber siehe da - ein Flötist muß im Studium auch „Orchesterstellen“ lernen, auch wenn er meint, er wird eine glänzende Konzertkarriere machen! - Die anderen 99% der Organisten brauchen das pädagogische und/oder das Kirchendienst-Standbein, und dafür gibt es vorsorglich die von Ihnen gleichsam als ideologischen Ballast apostrophierten Komponenten der Ausbildung.
4 - Es ist, konträr zu Ihren Überlegungen zu Spieltraktur und Nachhall, überaus wünschenswert, daß Organisten ihr Spiel auf die Spieltraktur bzw. auf den großen Kirchenraum ausrichten. Bruhns und so manches von Franz Liszt ist völlig unverständlich in einem trockenen Raum.
5- Die ersten Orgeln in Konzertsälen wurden in der späten Mitte des 19. Jahrhunderts gebaut. Von daher leuchtet es ein, daß ein sehr großer Teil des Repertoires nicht nur für Kirchenräume komponiert worden ist.
5 - Es gibt nun einmal Instrumente, die für kleine Kinder nicht oder nur bedingt geeignet sind; ich hab einen 1ojährigen Neffen in Hörweite, der auf einer fast "erwachsenen" Posaune lernt. Mein Vater war ein (international bekannter) Kontrabass und konnte stundenlang darüber reden, daß es hier Untergrenzen für den Einstieg gibt. Aber andererseits ist es durchaus möglich, schon vor dem 8. Lebensjahr einigermaßen Orgel zu spielen (ich erinnere mich ziemlich genau daran, wie es war). Dazu braucht man keine Digitalorgel - besser gesagt: was es hier an Restproblemen durch die Kleinheit des Schülers gibt, hat mit der Erzeugung des Tones nichts zu tun.
6 - Volle Zustimmung dafür, daß es leichter möglich sein sollte, an zum Üben geeignete Imnstrumenten in kitchen oder Kapellen heranzukommen.
Margareth Tumler am Permanenter Link
1 Ich stimme Ihnen zu, dass man nicht gläubig sein muss, um professionell Orgel spielen und das Liturgische Orgelspiel erlernen zu können.
2 Sie sprechen vom Liturgischen Orgelspiel als technischer Fertigkeit, trotzdem steht und fällt diese Praxis mit ihrem religiösen Kontext. Aus diesem Grund kritisiere ich die Verankerung des Liturgischen Orgelspiels in den Lehrplänen an öffentlichen Musikschulen.
3 Solange das Liturgische Orgelspiel unhinterfragt, ja gar konstitutiv zum „Gesamtprofil des Organisten“ gehört, wird der Orgel ihr sakraler Stempel anhaften und sich an der Tatsache, dass es das Berufsbild der Konzertorganistin bzw. des Konzertorganisten nicht gibt, schwerlich etwas ändern. Da Sie auch das pädagogische Standbein erwähnen: Leider stellt sich die Frage, ob man das Unterrichten ODER das Spielen von Gottesdiensten als Nebenverdienst wählt, in den allermeisten Fällen nicht, da viele Stellen für Musikschullehrende in Verschwisterung mit der Kirche vergeben werden (ein weiterer Missstand).
Kurzum: Natürlich kann auch, wer nicht glaubt, sein berufliches Leben in den Dienst der Kirche stellen – in einer säkularen Gesellschaft sollte aber auch die Entscheidung dagegen möglich sein, ohne sich beruflich gänzlich von seinem Musikinstrument verabschieden zu müssen.
4 Ich erinnere mich nicht daran, Überlegungen zum Nachhall angestellt und für trockene Räume plädiert zu haben. Trotzdem will ich auf Ihre Bemerkungen eingehen.
Erstens: Was hier vergessen wird, ist, dass es auf guten digitalen Instrumenten durchaus möglich ist, den Hall auf den jeweiligen Raum und die vorzutragende Literatur situativ (im Unterschied zur starren, sich höchstens durch die Menge an Publikum verändernden Akustik des Kirchenraumes) einzustellen.
Zweitens: Dass Werke von Bruhns und Liszt in trockenen Räumen unverständlich bleiben müssen, zweifle ich stark an, denn durch unkonventionelle Spielweisen, die sich nicht primär aus überlieferten Interpretationstraditionen oder historischen Quellen speisen, sondern sich vom mündigen Hören und Reagieren herleiten, ist so mancher akustische Effekt zu erreichen, der das Instrument zum Singen bringt.
5 Hier ist zu diskutieren, nach welchen Kriterien die Untergrenze für den Einstieg festgelegt wird – sind es unbeeinflussbare, in der Sache selbst liegende oder willkürlich festgelegte bzw. durch Tradition verfestigte, die grundsätzlich aufweichbar sind?
Leider haben Sie selbst keine vorgeschlagen, darum will ich hier nur die beiden Hauptargumente nennen, die in der Diskussion um den Orgelunterricht mit Kindern am häufigsten genannt werden.
Da ist einmal das Kriterium der starren, nicht auf den kindlichen Körper ausgerichteten Bauweise. Dieses Kriterium ist spätestens mit dem Konzept der digitalen Orgel nicht mehr ernsthaft zu verteidigen – tut man es trotzdem, zeugt das von wenig Willen, ausgetretene Pfade zu verlassen und kreativ-innovative Konzepte zu entwickeln. Sie selbst sprechen davon, dass man keine digitale Orgel braucht, um Kinder zu unterrichten, Restprobleme durch die zu geringe Körpergröße aber bestehen bleiben (im Übrigen habe ich diese niemals mit der Klangerzeugung in Verbindung gebracht) – was spricht dagegen, diese eben genau durch den Einsatz digitaler Instrumente zu beheben?
Das zweite, ebenfalls von vielen vorgebrachte Argument der „geistigen Reife“, die das Erlernen des Orgelspiels erfordere, ist schließlich abwertend im doppelten Sinne – es lässt das erstaunliche Lernpotential von Kindern gleichermaßen unberücksichtigt wie es im Umkehrschluss suggeriert, dass das Spiel auf anderen Instrumenten wie beispielsweise der Violine, das kleinen Kindern nicht vorenthalten wird, weniger komplex sei als das Orgelspiel.
Wirklich haltbare Argumente für einen späteren Beginn des Spiels auf der Orgel als desjenigen auf Klavier, Violine und Co. sind mir in meiner intensiven Beschäftigung mit dem Themenkomplex (siehe meine Masterarbeit „Aktuelle Ansätze im künstlerischen Orgelunterricht“, Kunstuniversität Graz, September 2012) nicht untergekommen – ich bin aber gerne bereit, hier fruchtbare Diskussionen zu führen.