Plädoyer für die Befreiung der Orgel aus ihrem sakralen Gefängnis

Thinking outside the (sacred) box

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digitale Orgel
digitale Orgel

GRAZ. (hpd) Im gesellschaftlichen Bewusstsein ist die Orgel weitgehend unhinterfragt als Instrument mit sakralem Charakter verankert, das vorwiegend in Gottesdiensten erklingt. Was sie ihrem Wesen nach ist, fällt dabei unter den Tisch: ein Musikinstrument, dessen nahezu unbegrenzte Möglichkeiten es förmlich dazu prädestinieren, als künstlerisches Ausdrucksmedium umfassend und unzensiert genutzt zu werden.

Will man das Gefängnis, in dem sich die Orgel heute befindet, nachhaltig aufbrechen, ist der historische Blick auf den Sakralisierungsprozess unumgänglich. Die Ursprünge der langen Geschichte der Orgel sind nämlich nicht etwa im religiösen Kult zu suchen: Vermutlich vom Tüftler Ktesibios von Alexandria im 3. Jh. v. Chr. erfunden, entwickelte sich die Orgel bald zum Inbegriff der Weltlichkeit: Als Statussymbol und Ausdrucksmedium der Macht der antiken Kaiser erklang sie bei Hofzeremoniellen, Hochzeiten, königlichen Empfängen, im Hippodrom, im Theater, bei Gladiatorenkämpfen und Hinrichtungen.

Die Brisanz der Frage, wie gerade ein derart weltliches Instrument zu dem gottesdienstlichen Instrument schlechthin werden konnte, das die Orgel heute ist, liegt auf der Hand. Doppelt interessant wird es, vergegenwärtigt man sich die Haltung der Kirchenväter gegenüber der Musik im Allgemeinen: Augustinus und Konsorten stehen ihr durch die Bank skeptisch bis ablehnend gegenüber, rührt die Musik schließlich aufs Empfindlichste an die christliche Urangst vor allem Sinnlichen und Körperlich-Lustvollen. Dass die Kirche von Anfang an bestrebt war, weltliche Einflüsse auf die Musik in der Kirche durch Konzilsbeschlüsse, Dekrete, päpstliche Enzykliken und Verbote einzudämmen, ist vor diesem Hintergrund nicht weiter verwunderlich.

Welchen genauen Weg die Orgel in die Kirche genommen hat, lässt sich musikhistorisch derzeit nur vermuten. Fest steht jedoch, dass für den sakralen Stempel, unter dem das Instrument heute leidet, besonders das 19. Jahrhundert von maßgeblicher Bedeutung war. Indirekte Schützenhilfe erhielt die Kirche hier vonseiten der von der Romantik durchdrungenen Musikkultur des Bürgertums: Sie schreibt der Orgel zum ersten Mal in ihrer Geschichte ganz explizit sakralen Charakter in scharfer Abgrenzung zur sinnlichen weltlichen Musik zu. Die Orgel wird zum metaphysischen Instrument verklärt, das religiöse Gefühle wecke und sich durch Eigenschaften wie Gravität, Feierlichkeit, Ernst, Strenge, Würde und Erhabenheit auszeichne. Der Komponist Hector Berlioz bringt den Zeitgeist in seiner Instrumentationslehre auf den Punkt: “Beide - Orgel sowohl wie Orchester - sind Könige, oder vielmehr das Eine ist Kaiser und die andere Papst.” [1]

Eine vollständige Vereinnahmung

Rückblickend könnte man der Kirche nicht nur einiges Verdrängungspotenzial unterstellen, sondern auch gehöriges psychologisches Geschick: Man kann einer Bedrohung ganz gut den Stachel nehmen und nebenbei noch ihre repräsentativen Vorzüge für das eigene Marketing nutzen, indem man sie sich einverleibt und einer vollständigen Vereinnahmung unterzieht.

Diese ist heute mehr als nur gelungen: Kaum jemand trennt das Instrument von den ihm zugeschriebenen Eigenschaften – die Orgel ist ein weihevolles, erhabenes, gravitätisches Instrument, auf dem man nunmal nicht leicht, schnell, verspielt und leidenschaftlich spielen kann. Dass hier ein gravierender logischer Fehler unterläuft, kommt meist gar nicht erst zu Bewusstsein.

Blickt man heute kritisch in die Orgelszene, erkennt man, wie umfassend sich die sakrale Charakterzuschreibung der Orgel auswirkt.

Von vordergründiger Bedeutung ist dabei der Standort des Instruments: Zwar gibt es in vielen Konzertsälen Orgeln, weit mehr stehen allerdings in Kirchen und dort ist das Instrument auch am häufigsten zu hören. Dies hat weitreichende Konsequenzen für Organistinnen und Organisten, die Orgelpädagogik und den Konzertbetrieb.

Erst einmal ist der Kirchenraum nicht gerade heimelig, hält man sich die teilweise im Sommer noch herrschende Eiseskälte so mancher Kirche vor Augen, die prekären Lichtverhältnisse oder die Hürden, die man mancherorts zu überwinden hat, will man den Schlüssel für die Orgelempore auch nur für eine ungestörte halbe Stunde erhalten. Doch was tut man nicht alles, um als Musikerin oder Musiker an sein Instrument zu kommen! Die Romantik findet allerdings spätestens dann ein jähes Ende, wenn sich der freien künstlerischen Entfaltung die von der Kirche eingeforderte ‘Würde’ des Kirchenraumes in den Weg stellt. Diese ominöse Wirkmacht bestimmt, was wie unterrichtet, geübt und im Konzert gespielt wird und was nicht. Ein befreundeter Organist und profunder Kenner der Szene fasste das Dogma, das für die Orgel zu herrschen scheint, einmal treffend als die “drei L der Orgel” zusammen: “langsam, laut und langweilig” – Sinnlichkeit hat nun einmal im Kirchenraum nichts zu suchen.

Auf das Publikum wirkt das verständlicherweise nicht unbedingt attraktiv: Für kirchenferne Menschen gibt es durchaus bequemere Orte, sich einen bereichernden musikalischen Abend zu gönnen, als den funktional zur Buße eingerichteten Kirchenraum. Und wer die “drei L” lieber mit “lebendig, leidenschaftlich, lustvoll” ausgefüllt sähe, wird Besseres zu tun haben, als ein durchschnittliches Orgelkonzert zu besuchen.

Orgelunterricht ist fast immer kirchlich

In der Orgelpädagogik wird das Standortproblem auf anderer Ebene noch deutlicher: Orgelunterricht wird in erster Linie von kirchlichen Institutionen und nur vereinzelt auch an Musikschulen angeboten. Wenn doch, dann mischt auch da die Kirche meist kräftig mit: Der Lehrplan für Orgel an den deutschen und österreichischen Musikschulen enthält ganz klar das Liturgische Orgelspiel als vorgeschriebenen Unterrichtsinhalt. [2] Mehr noch: Die niederösterreichischen Musikschulen antworten beispielsweise auf die Frage “Worauf sollte man achten, wenn man sich für die Orgel entscheidet?” folgendermaßen: “Die Bereitschaft, […] für die Kirche (Gottesdienste) zu spielen, ist Voraussetzung für den Orgelunterricht.” [3] Hier liegt ganz eindeutig religiöse Diskriminierung vor – traut man sich allerdings, das in der Orgel- und generell in der Musikszene zu äußern, stößt man meist auf verstörte Gesichter.

Orgelliteratur ebenfalls

Als wäre der Standort nicht schon Problem genug, wirkt der sakrale Stempel der Orgel auf anderen Ebenen weiter. Wirft man einen Blick auf die Orgelliteratur, stellt man fest, dass Kompositionen für die Orgel zu einem großen Teil vor einem religiösen Background und um eines religiösen Statements willen entstanden und entstehen. Um gerecht zu sein: Es gibt durchaus Orgelliteratur, die keine religiösen Motive verfolgt, nicht mit religiösen Texten unterlegt oder mit religiösen Titeln versehen ist – trotzdem findet man Eigenschaften wie gravitätische Schwere, Ernsthaftigkeit und langsame Tempi hier viel häufiger als in der Literatur für andere Instrumente.

Damit ist die Problematik, die sich mit Blick auf die Orgelszene auftut, in ihren Grundzügen umrissen. Doch wo ist anzusetzen, um eine nachhaltige Veränderung der Situation herbeizuführen? Zu allererst ist die Schulung des öffentlichen Bewusstseins gefordert: Ein ‘phänomenologischer’ Blick auf die Orgel zeigt, dass das Instrument an sich kein sakrales ist, sondern dass dieses Sujet ihm nur zugeschrieben und daher grundsätzlich aufweichbar ist.

Es wäre daher schön, entdeckten Komponistinnen und Komponisten die Orgel für sich – nicht als Medium, sich auf bequemem Wege religiös zu äußern, sondern als Mittel, prinzipiell alles kompositorisch zu verarbeiten, was bewegt. Wünschenswert für die Loslösung der Orgel aus dem sakralen Kontext wäre sicher die Vertonung gerade dezidiert weltlicher Stoffe (bis hin zu wirklichen ‘Anti’-Themen zur sinnesfeindlichen Kultur der Kirche) und eine bewusste Auseinandersetzung mit dem sakralen Sujet des Instruments – schließlich hat Kunst auch die Aufgabe, Kritik zu üben und Fragen anzustoßen. Wenn dann noch der Mut unter den Interpretinnen und Interpreten wächst, sich den “drei L” und den auf ihrem Instrument besonders starren Interpretationsschemata bewusst nicht mehr unterzuordnen, ist viel an Attraktivität gewonnen.

Die Befreiung der Orgel

Das größte Befreiungspotenzial geht aber ohne Frage von der Digitalisierung der Pfeifenorgel aus, denn sie ermöglicht den entscheidenden Standortwechsel: Selbst große digitale Orgeln sind mobil und können an jeden erdenklichen Konzertort gebracht werden. Darüber hinaus bieten sie ungeheure spieltechnische, klangliche und didaktische Möglichkeiten für Üben und Unterricht, wo die mechanische Bauweise der Pfeifenorgel Grenzen setzt. Nicht zuletzt spricht aber eines für die digitale Orgel: die Aussicht, als Organistin oder Organist plötzlich ein ‘eigenes’ Instrument zu haben, so wie es für alle anderen Musikerinnen und Musiker selbstverständlich ist.

Nicht selten gleicht ein Orgelkonzert nämlich einer Zitterpartie, weil sich eine alles entscheidende Frage in den Vordergrund drängt: Macht das Instrument, das man im günstigsten Fall drei Tage zuvor kennen und nicht immer auch lieben gelernt hat, auch mit bei dem, was man musikalisch ausdrücken will?

Einige wenige Künstler, die ihr Instrument vom kirchlichen Standort lösen wollen, haben die Vorzüge der Digitalisierung bereits erkannt: Zu erwähnen ist hier allen voran der amerikanische Orgelvirtuose Cameron Carpenter, der mit seinem Konzept der “Touring Organ” [4] alle Vorteile, die eine digitale Orgel bietet, bewusst ausschöpft und aufgrund seiner klar antireligiösen Ideen und den künstlerischen Freiheiten, die er sich herausnimmt, mittlerweile als “bad boy of the organ” gilt.

In Europa hat in Hinblick auf die Digitalisierung der Orgel Gunther Rost, Professor für Orgel an der Kunstuniversität Graz, Bemerkenswertes geleistet und, wie Carpenter in Amerika, die Idee der Orgel als ‘Ein-Personen-Orchester’ konsequent weitergedacht: Unter Rosts Ägide kam es an der Grazer Kunstuniversität zur Anschaffung eines großen digitalen Instruments, an dem nun geübt, konzertiert und künstlerisch und akustisch geforscht wird. [5]

Damit hat sich Rost durchaus nicht viele Freunde und Freundinnen gemacht, denn die Digitalisierung ist in der Orgelszene ein rotes Tuch. Diskutiert wird darüber meist mit fadenscheinigen Argumenten [6], die sich bei näherer Betrachtung als unhaltbar erweisen. Klar wird vielmehr: Wer der Digitalisierung der Orgel von vornherein ablehnend gegenübersteht, so wie es die Mehrheit der Orgelszene tut, hat entweder noch nicht begriffen, welche Perspektiven das Instrument eröffnet – oder man ist sich sehr wohl darüber im Klaren, fühlt sich davon aber in seiner Existenz bedroht.

Es scheint, als beschwöre die Digitalisierung der Orgel diverse Ängste herauf: Angst vor zu vielen gestalterischen Möglichkeiten, die, wenn man sie nicht auszuschöpfen vermag, die eigenen Unzulänglichkeiten spürbar machen; Angst aber nicht zuletzt und vielleicht vor allem vor einem drohenden und in Kirchenkreisen gefürchteten Standortwechsel. Gerade diese große Ablehnung innerhalb der Orgelszene verdeutlicht aber das gewaltige Innovationspotenzial, das von der Digitalisierung des Instruments ausgeht.

Was gefragt ist, um die Orgel aus ihrem sakralen Gefängnis zu befreien, ist also Mut zur Innovation auf allen Ebenen: Orgelbauerinnen und Orgelbauer, Komponistinnen und Komponisten, Interpretinnen und Interpreten, Orgelpädagoginnen und Orgelpädagogen und Musikwissenschaftlerinnen und Musikwissenschaftler müssen die jahrhundertelang gewachsene sakrale Konnotation der Orgel hinterfragen, um das Instrument als das zu etablieren, was es fernab von jeder Vereinnahmung ist: ein Musikinstrument, dessen Facettenreichtum und nahezu unbegrenzte Möglichkeiten es schier dazu prädestinieren, die unpassende Nonnentracht endlich abzustreifen und sie gegen uneingeschränkte künstlerische Freiheit einzutauschen.


  1. Hector Berlioz, Instrumentationslehre. Ein vollständiges Lehrbuch zur Erlangung der Kenntniß aller Instrumente und deren Anwendung, nebst einer Anleitung zur Behandlung und Direction des Orchesters, autorisierte deutsche Ausgabe von Alfred Dörffel, Leipzig 1864, S. 117.  ↩

  2. Vgl. Lehrplan für Musikschulen. Fachspezifischer Teil Orgel, hg. v. Konferenz der österreichischen Musikschulwerke, Wien 2007, online verfügbar: http://www.komu.at/lehrplan/KOMU_Lehrplan_Orgel.pdf (Stand: 30.11.2014) und Lehrplan Orgel, hg. v. Verband deutscher Musikschulen, Regensburg 1992.  ↩

  3. http://www.musikschulmanagement.at/ de/default.asp?id=87401&medium=MUSIK&sstr=Orgel, Stand: 29.11.2014.  ↩

  4. Vgl. beispielsweise http://www.cameroncarpenter.com/touring-organ/ (Stand: 08.12.2014).  ↩

  5. Vgl. verschiedene Dokumente auf http://orgel-kirchenmusik.kug.ac.at/ (Stand: 08.12.2014).  ↩

  6. Vgl. beispielsweise Lehrplan für Musikschulen. Fachspezifischer Teil Orgel, hg. v. Konferenz der österreichischen Musikschulwerke, Wien 2007, S. 12, online verfügbar: http://www.komu.at/lehrplan/KOMU_Lehrplan_Orgel.pdf (Stand: 08.12.2014).  ↩