Michael Ingber antwortet auf Volker Beck

Es fehlt der Mut, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen

Es fehlt leider bei den meisten Menschen der Mut, der Wirklichkeit ins Gesicht zu schauen, zu hinterfragen und sich von alten Weltanschauungen zu befreien – was u.a. auch eine Auseinandersetzung mit den Medien, der Politik, traditioneller Erziehung und eigenen Selbstverständlichkeiten bedeutet. Ich habe selber einen solchen Prozess durchgemacht, deshalb verstehe ich, wie schwierig es ist, wie psychologisch verunsichernd. Aber ohne vieles Grundsätzliches in Frage zu stellen, kommen wir nie weiter.

Übrigens, es geht nicht nur um die individuellen Menschen, es gibt auch etablierte Interessen, die dagegen sind, dass die Menschen nachdenken und "vernünftig" werden, wie Sartre in seinem Essay zum Thema "Antisemitismus" das formuliert.

 

Der grüne Bundestagsabgeordnete Volker Beck, ein unbedingter Verteidiger der Knabenbeschneidung (auch schon im Säuglingsalter) wird in der jüdischen Allgemeinen dahingehend zitiert, es gäbe kein Drumherum reden, wer die Brit Mila verbieten wolle, greife jüdisches Leben in seinem Kern an. Hat Herr Beck aus jüdischer Sicht Recht?

Erstens ist es schwierig, wenn nicht sogar unmöglich, somit auch nicht legitim, heute von einer "jüdischen" Sicht zu reden. Das Judentum, wie Christentum und Islam (über asiatische Religionen weiß ich nicht genug, um etwas Fundiertes darüber zu sagen) hat mehrere, unterschiedliche und manchmal sogar gegensätzliche Sichten: sie – die Religionen und ihre Quellen – sind wie Kataloge, für fast jede Verhaltensweise, ja Ideologie, kann man eine Bestätigung finden. Dazu gibt es heute im Judentum verschiedene Strömungen, die unterschiedliche Positionen bezüglich der Autorität dieser Quellen haben – in wie weit sie verpflichtend sind, oder lediglich Grundlinien markieren und wie historisch begrenzt sie sind? Damit habe ich nichts Aufklärendes gesagt…

Aber auch das, was wir normatives, traditionelles Judentum nennen (auch "orthodox", genannt, obwohl der Begriff ein moderner ist) – und ich meine hier nicht das ultra-orthodoxe Judentum, das erst als Reaktion gegen die Aufklärung, die Modernisierung und Säkularisierung entstanden ist - hat schon sehr früh in seiner Entwicklung, schon vor der Zeit Jesu, angefangen, große Änderungen zu machen, durch Interpretation, Ignorieren und sogar Verbieten von “zentralen” biblischen Geboten. Diese Änderungen wurden zum Teil historisch bedingt (alles, was den Tempeldienst betrifft), andere durch den Einfluss anderer Religionen (der Glaube an eine Auferstehung nach dem Tod), andere aus praktischen Gründen (der jüdische Kalender), und andere – und in unserem Fall am Relevantesten – aufgrund dessen, was man heute aus humanistischer Sicht als fortschrittlicher Entwicklungen innerhalb der jüdischen Religion nennen würde (z.B. die fast völlige Abschaffung der Todesstrafe). Und wer hat das Recht zu entscheiden, was ein "Kern-Gebot" des Judentums sei? Ist das Gebot der Beschneidung an der Stelle im (babylonischen) Talmud zu finden, wo die Weisen eine ausführliche Diskussion führen, welche sind die Kern-Gebote des Judentums (Traktat Makkkot, 23b)? Warum sollte eine physische Beschneidung für wichtiger als die im 5. Buch Moses, 30,6 genannte "Beschneidung des Herzens" gehalten werden?

Differenzierung ist sicher Sache des Artikels in der Jüdischen Allgemeinen nicht, mich stimmt neben anderem bedenklich, dass Herr Beck hier so zitiert wird, als ginge es um ein allgemeines Verbot der Brit Mila und nicht um die Diskussion von Regelungen für Minderjährige

Warum sollte es kein allgemeines Verbot der rituellen Beschneidung bei Minderjährigen geben?

 

In dem Artikel wird Herr Beck mit einer Polemik zitiert. Er wirft den Gegnern der Beschneidung Minderjähriger vor, die Beschneidung der männlichen Vorhaut mit der weiblichen Genitalverstümmelung gleichzusetzen und damit eine "eine grausame Relativierung eines furchtbaren Verbrechen an jungen Mädchen und Frauen" zu betreiben. Was erwidern Sie hierauf?

Auch dazu braucht man nicht viel zu sagen. Nur: Erstens, Genitalverstümmelung bei Minderjährigen aus rituellen Gründen - oder auch bei Erwachsenen mit Zwang - ist Genitalverstümmelung, die weder bei Frauen noch Männern zu rechtfertigen sei. Und zweitens, ist es nicht absurd, die aus seiner (Herr Becks) Sicht behauptete Relativierung "grausam" zu nennen, und/aber den Akt der (männlichen) Beschneidung nicht?

 

Ist der Relativierungsvorwurf von Beck nicht unter dem Gesichtspunkt, dass Organisationen wie Terres des Femmes, der Deutsche Frauenring, der Verein Tabu e.V. (Verein zur Verhinderung der FGM, der weiblichen Genitalverstümmelung) den Aufruf unterstützen, als völlig absurd zu bezeichnen?

Dazu kann ich nur auf meine vorherige Antwort verweisen.

 

Herr Ingber, Sie überblicken auch die Beschneidungsdebatten in anderen Ländern. Werden die Debatten dort auch auf einem ähnlich substanzlosem Niveau geführt wie von Herrn Beck hier in Deutschland?

Ich kenne wirklich nur die Debatten in Deutschland und in Israel. Meine Meinung bezüglich der hiesigen Debatte habe ich hier und an anderen Stellen geäußert.

In Israel kommt das Thema viel weniger in die Öffentlichkeit, erstens weil bei der überwiegenden Mehrheit der Juden – und der muslimischen Araber – die Beschneidung etwas Selbstverständliches ist (unter Juden werden mehr als 95 Prozent beschnitten); zweitens, weil die Organisationen der Beschneidungsgegner in Israel mehr als Beratungsstellen agieren, und nicht mit großen Kampagnen.

Es gab in Israel schon Fälle, wo Auseinandersetzungen unter den Eltern bezüglich der Beschneidung des Kindes die rabbinischen und staatlichen Gerichthöfe erreicht haben, aber ich kenne die Berichterstattung über diese Fälle nur aus einer Zeitung, Haaretz. Und bei keinem Fall war der Höchste Gerichtshof Israels bereit, eine klare, eindeutige Position zu beziehen bzgl. der Frage, ob die Beschneidung eine Verletzung der Menschenrechte des Kindes bedeutet.

 

Haben Sie eine Erklärung dafür, warum die Debatte in Deutschland nicht anhand von Daten und Fakten, sondern aufgrund von Ideologien und mittels primitiver Zuspitzungen geführt wird?

Die Gründe dafür habe ich schon oben erwähnt im Zusammenhang mit der Schwierigkeit, Einstellungsänderungen herbei zu bringen. Und in Deutschland gibt es dazu den “Schatten der Vergangenheit”, der viele Menschen verblendet und - noch problematischer – instrumentalisiert wird, um notwendige Änderungen zu blockieren.

 

Herr Ingber, vielen Dank für dieses Gespräch.

 

Das Interview für den hpd führte Walter Otte.

 


Weitere Äußerungen von Michael Ingber zur rituellen Knabenbeschneidung:
Vortrag beim Bundesforum Männer in Berlin am 24.06.2013
Vortrag auf dem Wissenschaftlichen Symposium „Genitale Autonomie: Körperliche Unversehrtheit, Religionsfreiheit und sexuelle Selbstbestimmung – von der Theorie zur Praxis“ in Köln am 06.05.2014

 

Webseite über Michael Ingber bei der Akademie für politische Bildung Tutzing