Orlando Figes Geschichte der Russischen Revolution von 1891 bis 1991

Hundert Jahre Revolution

BONN. (hpd) Der britische Historiker Orlando Figes präsentiert in seinem Buch "Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert" die Geschichte des Bolschewismus und der Sowjetunion, wobei insbesondere die vielen Schattenseiten diktatorischer Herrschaft betont werden. Der gut geschriebene und überaus informative Band bringt indessen keine neuen Erkenntnisse oder Thesen, kann aber als Einführung ins Thema empfohlen werden und verdient insbesondere im gegenwärtigen Russland große Verbreitung.

"Vom Beginn seines Regimes an strebte Putin danach, den Stolz auf die Sowjetgeschichte wiederherzustellen. Dies war ein wichtiger Teil seines Programms, Russland erneut zu einer Großmacht aufzubauen, und ein populäres Vorhaben, zumal es die Nostalgie in Bezug auf die Sowjetunion ansprach" (S. 353). Die Einschätzung stammt von dem Historiker Orlando Figes, der am Birkbeck College in London Geschichte lehrt und mit seiner voluminösen Arbeit "Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der russischen Revolution 1891 bis 1924"; weit über Fachkreise hinaus bekannt geworden ist.

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Sein neuestes Buch, woraus die einleitend zitierten Sätze stammen, trägt den Titel "Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert". Darin will Figes die Russische Revolution nach eigenen Worten "als großes Ganzes" beschreiben und hundert Geschichtsjahre in "Form eines einheitlichen revolutionären Zyklus" (S. 7) darstellen. Demnach beschränkt er sich nicht auf die Ära rund um das Jahr 1917, sondern blickt zurück in das Jahr 1891 und voraus in das Jahr 1991.

Am Beginn steht die Hungersnot während der Zarenherrschaft, welche erstmals zu einer breiteren Politisierung der russischen Gesellschaft geführt habe. Hier deutete sich für Figes schon der spätere Systemwechsel und Umbruch an. Die Entwicklung hin zu eben jenen Ereignissen von 1917 steht danach im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, wobei der Autor gegenüber weit verbreiteten Geschichtsmythen betont: "Der Oktoberaufstand war ein Staatsstreich, für den sich nur eine kleine Bevölkerungsminderheit aktiv einsetzte" (S. 112). Bereits sehr früh sei Lenin dazu übergegangen, seine alleinige Herrschaft durch Repressionen und Verbote zu festigen. Später betont der Historiker auch Kontinuitäten: "Die Hauptelemente des stalinistischen Regimes – der Einparteienstaat, das Terrorsystem und der Führerkult – waren 1924 bereits etabliert" (S. 162). Breiten Raum nimmt danach die Herrschaft des Stalinismus ein, wobei auch deren Absicherung durch Maßnahmen der Erziehung und nicht nur durch die Praxis des Terrors erfolgte.

Meist bleibt die Darstellung hier auf die "große Politik" fixiert, Figes macht aber auch gelegentlich an Alltagsbeispielen deren Folgen deutlich. So betont er etwa: "Die Gemeinschaftswohnung war ein Mikrokosmos der kommunistischen Gesellschaft" (S. 216). Man wusste durch die gegenseitigen Bespitzelungen angesichts der dünnen Wände alles voneinander. Erst nach dem Tod von Stalin sei es zu einer Mäßigung gekommen, wenngleich die diktatorische Praxis bestehen blieb. In Gorbatschow erblickt Figes den "letzten Bolschewiken" (S. 329). Die Auflösung und der Zusammenbruch der Sowjetunion sei ihm zuzuschreiben: "Die wirkliche Krise war eine Folge von Gorbatschows Reformen, nämlich die Auflösung von Macht und Autorität der Partei" (S. 330). Nach 1991 habe es weder eine ideelle noch eine personelle Vergangenheitsbewältigung gegeben. Angehörige der "alten Elite" seien auch Angehörige der "neuen Elite". Im Land selbst dominiere eine Einstellung der Relativierung und Verherrlichung der "alten Sowjetunion".

Angesichts der Dominanz einschlägiger Einstellungen in großen Teilen der Gesellschaft, wäre eine russische Übersetzung von Figes kritischer Geschichte der "Russischen Revolution" mehr als nur wünschenswert. Im Westen ist man indessen über Repressionen und Verbrechen in der früheren "Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken" gut informiert.

Als Einführung ins Thema lässt sich auch dort Figes Buch mit Gewinn lesen, substanzielle neue Erkenntnisse oder Thesen präsentiert es indessen nicht. Meist beschreibt der Autor die historischen Ereignisse und garniert diese Ausführungen mit kurzen Kommentaren. Die damit einhergehenden Analysen verdienen Beachtung, hätten aber ausführlicher, differenzierter und strukturierter sein können. Wer nach Gründen für die autoritäre Staatstradition in Russland fragt, findet indessen in dem Band gute Antworten. Er schließt mit den Worten: "Politisch gesehen mag die Revolution tot sein, aber sie lebt weiter im Geist jener Menschen, die von ihrem hundertjährigen Zyklus der Gewalt erfasst wurden" (S. 356).

 


Orlando Figes, Hundert Jahre Revolution. Russland und das 20. Jahrhundert, Berlin 2015 (Hanser Berlin), 383 S., 26 Euro