Mit Hamed Abdel-Samad und Prof. Dr. Mouhanad Khorchide im Gespräch

Humanismus als letzte Chance des Islams? (1)

Gibt es auch Übereinstimmungen Ihrer Standpunkte? Schließlich entstammen Sie beide der islamischen Welt, sind mit dem gleichen Koran großgeworden und keiner von Ihnen hat vermutlich eine exklusive Offenbarung erlebt.

MK: Ich sehe die Gemeinsamkeit darin, wie Hamed Abdel-Samad gerade sagte, dass er sich wünschen würde, dass ein humanistischer und barmherziger Islam Erfolg haben und sich unter den Muslimen durchsetzen könnte. Er wünscht sich also das Positive, auch wenn das für ihn nicht der authentische, sondern ein konstruierter positiver Islam ist. Diesen Vorwurf höre ich übrigens nicht nur von Herrn Abdel-Samad. Ein umfassendes Gutachten wurde von einigen Muslimen verfasst, um zu belegen, dass mein Islambild eines barmherzigen und humanistischen Islams kein authentisches sei. In meinen Augen ist es der authentische Islam, weil es immer von der Lesart abhängig ist. Ich verstehe vollkommen, wenn man sagt: "Im 7. Jh. hat es Kriege und Auseinandersetzungen gegeben, der Prophet hat Menschen oder Kriegsbeute so oder so behandelt". Aber in seinem Kontext, in dem er gewirkt hat, war das normal. Worauf es ankommt, ist wie wir heute im 21. Jh. mit dem uns zur Verfügung stehenden Material umgehen und es rezipieren.
 

Ich hatte eher nach dem Gemeinsamen gefragt. Dies ist ja schon wieder das Trennende.

MK: Ich kriege die Kurve hin. Mein Anliegen ist, wie Hamed zu Recht gesagt hat, dass wir den Islam in der Geschichte verorten. Das entschärft die Gewaltpotentiale in diesen Erzählungen oder in den Gewaltsuren. Und da sehe ich das Gemeinsame, wenn Herr Abdel-Samad sagt: "Wenn man eine humanistische Lesart des Islams verbreiten kann, dann finde ich es okay. Ich finde nur, dass das nicht mehr der Islam ist, aber ich finde es in Ordnung." Das Endprodukt, dass wir beide uns einen humanistischen Islam wünschen, das ist das Gemeinsame. Nur sage ich, dass das für mich der authentische Islam ist und Herr Abdel-Samad meint, dass es in seinen Augen ein konstruierter Islam sei.

HAS: Uns verbindet natürlich viel mehr, als man zunächst vermuten kann. Eben dass wir Reformen wollen. Mouhanad Khorchide glaubt, dass diese Reformen innerhalb der Texte zu finden sind. Ich versuche das außerhalb der Texte. Er erkennt die Göttlichkeit des Korans als gläubiger Moslem, aber auch als Theologe an und er erkennt auch die Autorität des Propheten als Vorbild an. Ich anerkenne diese Autorität nicht – weder die des Korans, noch des Propheten. Ich versuche das von außerhalb zu relativieren. Er versucht das von innen zu relativieren.

Vielleicht ergänzen wir uns auch in dieser Frage: Früher wäre er der Ketzer gewesen. Dadurch, dass ich die Messlatte [er lacht] für die Mohamed-Kritik im Islam so hoch gelegt habe, ist er der Reformer. Ich glaube, das ist das Positive, was viele nicht sehen. Das sagen auch viele Kollegen aus Ägypten, dass ich für sie auch so eine Art Eisbrecher bin. Weil sie jetzt Kritik üben können, ohne gleich als Ungläubige bezeichnet zu werden.

Das ist es, was viele unterschätzen: dass wir am Ende diese Kritik brauchen. Dass es am Ende nicht darum geht, wer Recht oder Unrecht hat, sondern dass es zu Veränderungen kommt. Ich glaube, dass die Veränderung durch das Angreifen der Unantastbarkeit des Propheten und des Korans zustande kommen könnte. Mouhanad Khorchide glaubt, dass das auch innerhalb der Texte innerislamisch geschehen kann. Ich wünsche mir, dass sein Konzept aufgeht, denn das ist aus meiner Sicht die letzte Chance. Wenn dieses Konzept scheitert, dann Gute Nacht, dann weiß ich nicht… Deshalb will ich, dass Muslime - auch die, die mich hassen – ihn zumindest unterstützen. Sie sollten sich um sein Konzept versammeln und ihn gegen Angriffe seiner Feinde schützen. Das ist es, was ich mir wünsche. Das verbindet uns.
 

Der Islam ist in diesen Monaten ein besonders heißes Eisen, weil wir die Flucht von hunderttausenden Muslimen vor Muslimen erleben. Eine Frage an Sie beide: Hat das etwas mit Religion zu tun?

MK: Natürlich hat das mit Religion zu tun. Auch überhaupt die Frage nach Gewalt im Islam: Hat es mit dem Islam zu tun? Weil auch innerhalb der islamischen Tradition – nicht viele -, aber Positionen gibt, die gewaltbejahend sind, das muss man klar sagen. Und es gibt im Koran auch Stellen, die auf Gewalt eingehen. Die Frage, die ich immer stelle, ist die Frage der Lesart. Wie lese ich diese Positionen? Positionen von Gelehrten, die Gewalt bejahen, die muss man ohne Wenn und Aber verwerfen. Koranische Texte - weil ich eben als Theologe davon ausgehe, dass diese Texte eine gewisse göttliche Legitimation haben - kann ich nicht verwerfen, sondern ich muss die jeweilige Lesart verwerfen, die Gewalt bejaht und das im historischen Kontext verorten.

Wenn es damals um Kriege gegangen ist, dann ist es legitim, dass Kriege kommentiert werden. Was mich heute angeht, sind eben nicht die kriegerischen Auseinandersetzungen entscheidend. Es waren damals politische Auseinandersetzungen und es kommt immer auf die jeweilige Lesart des Korans, aber auch der prophetischen Tradition an. Für welche Lesart wollen wir Muslime uns heute stark machen? Auf das kommt es an.

HAS: Ja, auch für mich ist der Zusammenhang zwischen Gewalt, Terrorismus und Islam eindeutig. Ich zeige das auch in meinem Buch. Für mich ist IS nicht nur ein legitimes Kind der Texte des Korans, sondern auch des Werdegangs des Propheten, seiner ersten Gemeinde und seiner Nachfolger. Das ist eine Tradition, die miteinander verwoben ist. Die Texte stehen nicht irgendwo im luftleeren Raum, sie sind auch nicht im luftleeren Raum entstanden, sondern sie fußen auf einer Erfahrung mit Gewalt, wobei der Prophet als Vorbild dient, als er - laut den anerkanntesten islamischen Gelehrten - Kriegsgefangene enthaupten ließ, Frauen als Kriegsgefangene nahm, Sex mit ihnen erlaubte und mit ihnen selbst vollzog. Das sind klare Fakten.

Dabei ist das Problem nicht, was im Koran steht oder was der Prophet getan hatte, sondern der Stellenwert des Korans und des Propheten heute sowie, dass der Koran die Botschaft Gottes ist, die letzte noch dazu - welch ungeheure Macht – und dass der Prophet als absolutes Vorbild gilt, sowohl politisch, als auch moralisch. Und hier liegt mein Problem: Man kann – wie Mouhanad Khorchide zu Recht gesagt hat – vieles der Gewalt und dessen, was für uns heute verwerflich ist, in den historischen Kontext von damals stellen und sagen: "Okay, es war normal." Manches jedoch war aus meiner Sicht nicht normal. Es war nicht normal, einen ganzen Stamm an einem Tag enthaupten zu lassen. Mir ist kein anderer derartiger Fall bekannt.

Einwurf von MK: ...wenn die Geschichte überhaupt stimmen sollte…

HAS: Aber das ist eine anerkannte islamische Geschichte, sowohl in der Biographie, als auch in der Hadith-Sammlung. Da kam kein Theologe aus der Vergangenheit, der gesagt hat: "Das ist nie passiert." Sie stellen das jetzt infrage, was damals geschah, weil Sie natürlich ein Motiv haben. Sie wollen hin zum Humanismus - ein Begriff, der für Mohamed natürlich gar nicht existierte und nicht zu seinen Zielen gehörte, aber zu ihren Ziele heute, weil wir eine vollkommen andere Gesellschaft haben. Das heißt, sie wollen einen Islam in einer vollkommen anderen Gesellschaft beheimaten, als der von Mohamed. Das ist ein Riesenkunstwerk. Meine Bewunderung, wenn das gelingen sollte. Tatsächlich!

Weil die damaligen Texte und Erfahrungen vollkommen andere sind und überhaupt nicht als Grundlage für das Zusammenleben heute taugen. Ich glaube, Menschenrechte, Menschenrechtserklärung und Grundgesetz, das sind Regeln, die viel weiter gehen, als Koran und Mohamed. Das man rückwirkend versucht, Koran und Mohamed irgendwie darin zu integrieren, ist schwierig aus meiner Sicht, aber - wie gesagt - lobenswert, wenn es gelingen sollte, und vermutlich die letzte Chance.
 

(wird fortgesetzt)

Der hpd dankt Walter Otte für die Vermittlung des Gesprächspartners Prof. Dr. Mouhanad Khorchide.