Erstmals seit der Richtungswahl 2024 gab es bei der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) eine Mitgliederversammlung. Diesmal fand sie online statt. Die Wissenschaftsorganisation stellt sich neu auf: freie Debatte statt Lagerdenken, gute Gesprächskultur als Leitmotiv. Im Gespräch mit dem Koordinator des Wissenschaftlichen Zentrums Felix Pfannstiel ziehen der Vorsitzende André Sebastiani und der wissenschaftliche Leiter Nikil Mukerji Bilanz. Und sie diskutieren einen wegweisenden Beschluss der Mitgliederversammlung, der die künftige Linie der GWUP prägen und die Organisation wieder zurück zu ihren Ursprüngen führen soll.
Felix Pfannstiel: Die erste Online-Mitgliederversammlung liegt hinter uns. Welches Resümee zieht ihr?
André Sebastiani: Die Versammlung war ein Experiment. Wir wollen die GWUP ja digitaler aufstellen und die Hürden für Partizipation senken. Bei der Online-Versammlung waren fast 200 Teilnehmer anwesend – etwa doppelt so viele wie bei bisherigen Versammlungen in Präsenz. Das Experiment ist also geglückt.
Was waren die Ergebnisse der Versammlung?
André Sebastiani: Wir haben einiges nachgeholt, was durch den Richtungsstreit länger liegengeblieben ist. Überfällig war der Beschluss, unseren Gründer und langjährigen Vorsitzenden Amardeo Sarma und den langjährigen Leiter des GWUP-Zentrums Martin Mahner für ihre Verdienste um die GWUP als Ehrenmitglieder aufzunehmen. Elf Personen wurden außerdem in den Wissenschaftsrat gewählt beziehungsweise wiedergewählt. Und wir haben die Struktur der Mitgliedschaftsbeiträge angepasst – allerdings ohne die günstigsten Beitragsoptionen zu erhöhen. Details dazu finden sich auf unserer Website.
André, Du hast ausführlich über das vergangene Jahr berichtet. Kannst Du das noch einmal zusammenfassen?
André Sebastiani: Ich habe über die wichtigsten Meilensteine gesprochen, zum Beispiel über die größte "SkepKon" in der GWUP-Geschichte, die im Mai stattfand, und über wichtige Wegmarken wie den Prognosencheck 2024, den wir deutlich verbessert haben und der ein enormes Medienecho erzeugt hat. Besonders wichtig war es mir aber, unsere strategische Neuausrichtung im Detail zu besprechen, weil sich daraus ableiten lässt, wie wir in der GWUP zusammenarbeiten. Eines der Kernelemente ist unser Werte-Statement, das Offenheit und den respektvollen Dialog über Meinungsverschiedenheiten als Grundwert benennt.
Das klingt eigentlich selbstverständlich.
André Sebastiani: Für mich auch. Aber die Vergangenheit hat gezeigt: Man muss solche Werte explizit benennen – und verteidigen, wenn sie angegriffen werden. Während des GWUP-Richtungsstreits haben einige Mitglieder andere GWUPler scharf angegriffen, nur weil sie in bestimmten Fragen eine andere Meinung hatten. Hier haben wir nun eine Null-Toleranz-Politik: Wer andere angreift, wird verwarnt. Beim zweiten Mal fliegt man von der entsprechenden Plattform – bei schweren Verstößen sogar aus dem Verein. Das ist notwendig. Denn sonst verabschieden sich die vernünftigen, respektvollen Gesprächsteilnehmer und der Diskurs verroht. Das haben wir bereits einmal erlebt. Heute gilt: Alle skeptischen Themen sind diskutierbar. Wissenschaftlich ernstzunehmende Kontroversen sind explizit erwünscht. Daher auch unser SkepKon-Motto: "Fakten – Mythen – Kontroversen". Und: Man kann auch Dinge sagen, die andere Mitglieder für kompletten Unsinn halten. Sachliche Kritik ist immer zulässig und sogar eingeladen. Aber Angriffe auf die Person sind tabu. Wir sind also ein "Safe Space" im besten Sinne – nämlich für Personen. Dagegen sind wir ein "Unsafe Space" für irrationale Ideen. Zuvor war es teilweise leider genau umgekehrt.
Kritiker würden einwenden, dass man als Vereinsführung den Diskurs aber auch steuern muss – damit eben kein Unsinn herauskommt.
Nikil Mukerji: Die Idee ist also: Eine Person legt fest, was wahr ist. Andere müssen folgen. Keine Diskussion! Das wäre nicht einmal für einen Kindergarten ein gutes Modell. Diese Form von Meinungsautoritarismus ist mit dem wissenschaftlichen Skeptizismus unvereinbar. Wir wollen Menschen für das kritische Denken gewinnen und sie ermutigen, ihr Urteil zu schärfen, indem sie Argumente prüfen und Fehler revidieren. Dann müssen wir sie aber auch genau das tun lassen.
"Wir sind (...) ein 'Safe Space' im besten Sinne – nämlich für Personen. Dagegen sind wir ein 'Unsafe Space' für irrationale Ideen. Zuvor war es teilweise leider genau umgekehrt."
André Sebastiani
Schlägt die GWUP damit eine neue Richtung ein?
Nikil Mukerji: Nein. Das ist der klassische Kurs, den auch die Gründer des "neuen Skeptizismus" favorisiert haben. Ein Text von Douglas Hofstadter, den Amardeo Sarma als den "Urknall der skeptischen Bewegung" bezeichnet hat, stellt klar: Skeptiker können in schwierigen Fragen zu unterschiedlichen Einschätzungen kommen. Von oben eine Meinung verbindlich festzulegen, ist keine rationale Lösung. Und sie funktioniert auch nicht. In Anlehnung an den englischen Dichter Samuel Butler sagte man: "He that complies against his Will, Is of his own Opinion still." Will man Dissense auflösen, muss man weiter debattieren.
Das setzt aber Vernunft voraus – und die Bereitschaft, sie einzusetzen.
Nikil Mukerji: Die Anlage dazu hat jeder. Die Bereitschaft, sie einzusetzen, mag variieren. Allerdings erhöht man sie nicht durch Druck. Wer nachhaltig effektiv für seine Sichtweisen werben und nicht nur Applaus von der eigenen Seite erhalten will, sollte nicht versuchen, Gegenargumente zu zensieren und Andersdenkende auszuschließen. Wenn Menschen das Gefühl bekommen, dass andere Meinungen nicht sachlich widerlegt, sondern gecancelt werden, verlassen sie frustriert den Mainstream und nehmen mitunter völlig irrationale Auffassungen an – das exakte Gegenteil von dem, was wir erreichen wollen.
André, Du hast einen Antrag gestellt, der sich gegen Meinungsautoritarismus richtet. Könntest Du den schildern?
André Sebastiani: Mein Antrag ergibt sich aus dem, was Nikil gerade beschrieben hat. Im Kern lautete er: Die GWUP hat keine Vereinsmeinungen – weder in sachlichen, moralischen noch in weltanschaulichen Fragen. Dieser Antrag wurde mit großer Mehrheit angenommen.
Was bedeutet das in der Praxis?
André Sebastiani: Der Unterschied für unsere Arbeitsweise ist minimal. In der GWUP ging es immer darum, Argumente auszutauschen – untereinander und mit der Öffentlichkeit. Das machen wir natürlich immer noch – herzlich im Ton, aber in der Sache unnachgiebig, wenn unsere Argumente nicht widerlegt werden. Allerdings ist jedes Mitglied nur für eigene Äußerungen verantwortlich. Was einer sagt, kann ein anderer bestreiten – und das ist auch gut so! Wir wollen einander nur mit guten Argumenten zum Umdenken zwingen und nicht durch den sozialen Druck, der von einer verbindlichen Vereinsmeinung ausgeht.
Das mag überraschen. Denn die GWUP wurde in der Vergangenheit stark mit bestimmten Positionen assoziiert – etwa mit der These, dass Homöopathie nicht über den Placebo-Effekt hinaus wirkt. Nikil, Du hast selbst in einem Interview mit der Tagesschau gesagt, in der GWUP stufen wir die Homöopathie als Pseudowissenschaft ein. Wie passt das zum Beschluss?
Nikil Mukerji: Deskriptiv stimmt das auch. Zur Homöopathie – einem beherrschenden Thema der letzten Jahre – haben sich bisher alle Arbeitsgruppen und Gremien der GWUP so positioniert, wie ich das gesagt habe. So kann man die Aussage verstehen – und so würde ich sie auch wiederholen. Allerdings würde ich sie heute besser erklären. Es gibt sicher Meinungen, die alle Skeptiker teilen. Das gilt weiterhin. Der Beschluss sagt nur, dass die GWUP darauf verzichtet, dies in Form einer offiziellen Vereinsmeinung in Stein zu meißeln, sodass man das als Mitglied automatisch mitträgt oder durch seine Mitgliedschaft darauf verpflichtet wäre.
Aber da hier offenbar Einigkeit besteht, könnte man doch zumindest in diesem Punkt eine Ausnahme machen? Warum nicht?
Nikil Mukerji: Der Beschluss, dass "die GWUP" eine bestimmte Auffassung vertritt, würde den Argumenten für diese Auffassung nichts hinzufügen – genauso wenig wurde Einsteins Relativitätstheorie dadurch widerlegt, dass 100 Autoren sich dagegen ausgesprochen haben. Wäre die Theorie falsch gewesen, hätte eine einzige Person das mit einem guten Argument zeigen können.
"Wenn Menschen das Gefühl bekommen, dass andere Meinungen nicht sachlich widerlegt, sondern gecancelt werden, verlassen sie frustriert den Mainstream und nehmen mitunter völlig irrationale Auffassungen an – das exakte Gegenteil von dem, was wir erreichen wollen."
Nikil Mukerji
Aber zumindest hätten Vereinsmeinungen eine gewisse Orientierungsfunktion, wenn man sich selbst kein Urteil bilden kann?
André Sebastiani: Das stimmt. Aber leider ist Orientierung ja gerade dort wünschenswert, wo größere Unsicherheit herrscht. Und da wird sich auch Dissens finden. Wo die Dinge klar sind – wie etwa bei der Frage, ob Mittel ohne Wirkstoffe heilen können, wie es die Homöopathie behauptet –, da nützt weitere Orientierung eigentlich nichts mehr.
Nikil Mukerji: Übrigens wurde in der Vergangenheit die Einigkeit unter Skeptikern auch gerne überschätzt. Gerade beim Thema Homöopathie gab es Dissens in den Details, zum Beispiel darüber, wie man mit den positiven Studienergebnissen für die Homöopathie umgehen soll. Analysiert man die, bis man Fehler gefunden hat, oder verweist man lediglich darauf, dass die Homöopathie den bekannten Naturgesetzen widerspricht und nicht funktionieren kann? Was ist hier der beste Ansatz? Warum glauben Menschen überhaupt an Homöopathie, obwohl sie unserem wissenschaftlichen Weltbild widerspricht? Wie spricht man am besten mit überzeugten Homöopathie-Anwendern? Welche positiven und negativen Folgen hat es, wenn ein Arzt in seiner Behandlung Homöopathie anwendet? Und so weiter. Ich habe dazu zwar selbst Auffassungen. Aber andere Skeptiker haben andere. Und alle sollten offen diskutiert werden.
André Sebastiani: Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass eine vermeintliche Vereinsmeinung in der Vergangenheit auch schon genutzt wurde, um gegen Mitglieder mit abweichenden Auffassungen vorzugehen.
Du sprichst vom Fall Amelung?
André Sebastiani: Genau. Der Vorstand unter Holm Hümmler hat Till Randolf Amelung, dessen Vortragsvorschlag durch die SkepKon-Programmkommission ausgewählt wurde, von der Referentenliste gestrichen, weil man Retweets gefunden hatte, die angeblich andeuteten, dass er der Vereinsmeinung der GWUP zur Satanic-Panic-Verschwörungstheorie widersprochen habe. Till bestritt dies. Die geteilten Tweets hatten nichts mit seinem Vortrag zu tun. Und: Die Position, der er vermeintlich widersprach, wurde nie offiziell als Vereinsmeinung etabliert. Das war einfach das, was zwei Mitglieder vertreten haben. Und auf dieser Grundlage wurde dann gesinnungspolizeilich ermittelt. Nachdem wir jetzt ganz offiziell beschlossen haben, dass es keine offiziellen Vereinsmeinungen gibt, ist einem solchen Vorgehen auch die Grundlage entzogen.
Ist es dann überhaupt noch möglich, von der GWUP eine offizielle Einschätzung zu erhalten?
Nikil Mukerji: Wenn sich zum Beispiel Presse-Vertreter mit einer Frage an uns wenden, bekommen sie Kontakt zu jemandem, der fachkundig ist und in seiner Rolle als Skeptiker und GWUP-Mitglied Auskunft geben kann. Die entsprechende Person gibt dann ihre Kenntnisse weiter und hilft auch dabei, eine wissenschaftliche Denkweise zu erklären und sie auf die vorliegende Frage anzuwenden. Wer sich in dieser Weise als Botschafter äußert, sollte auf Basis unserer Werte handeln und ein gutes Beispiel für einen respektvollen und einladenden wissenschaftlichen Skeptizismus geben. Es gibt aber keine Garantie, dass die Rat gebende Person genau das Gleiche sagt wie alle anderen Skeptiker. Und es gibt auch keine Garantie, dass alles korrekt ist – auch wenn dies das Ziel ist.
Vielleicht hilft eine Analogie weiter: Unser Rechtssystem stellt ja auch Regeln auf, nach denen entschieden werden kann, wer in einer Streitfrage Recht hat. Analog dazu stellt der wissenschaftliche Skeptizismus Regeln auf, nach denen wir entscheiden können, wer in einer Diskussion über eine empirische Frage Recht hat. Unterschiedliche Juristen können im gleichen Fall unterschiedlich argumentieren und auch zu unterschiedlichen Schlüssen kommen. Wird das vor Gericht diskutiert, dann prallen Argumente aufeinander, und daraus wird dann eine Abwägung möglich. Ähnlich ist es bei Skeptikern. Wir versuchen zwar alle, die gleichen Regeln anzuwenden, kommen dabei aber möglicherweise zu unterschiedlichen Schlüssen. Und dann schauen wir uns die Argumente an und haben hoffentlich etwas gelernt.
Die Analogie ist nicht perfekt. Denn ein Gericht spricht ja ein Urteil. Die GWUP soll dagegen als Gesamtorganisation keine Urteile mehr aussprechen.
Nikil Mukerji: Ein guter Punkt. Ein Richter kann am Ende eines Verfahrens nicht sagen: "Das war eine interessante Diskussion. Jetzt kann sich jeder sein eigenes Urteil bilden und nach Hause gehen." Es muss ja etwas Verbindliches entschieden werden. Genau dafür gibt es ja Gerichte. Wir als Skeptiker müssen aber nichts Verbindliches entscheiden. Unsere Aufgabe liegt darin, Menschen für Wissenschaft und kritisches Denken zu gewinnen und produktive, respektvolle Debatten zu ermöglichen.






