"Sagen Sie viermal NEIN" könnte vielleicht noch aufgehen

Strategie gegen Suizidhilfe-Verbotsgesetz

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BERLIN. (hpd) In wenigen Tagen sollen die Parlamentarier ohne Fraktionszwang über das geplante Verbot der Hilfe bei einem freigewählten Tod entscheiden. Obwohl die Debattenschlacht um insgesamt vier verschiedene Entwürfe anhält, schien sie für die Gegner eines Suizidhilfe-Verbotes eigentlich schon verloren. Dass sich das Blatt wenige Tage vor der Abstimmung noch wenden könnte, liegt jetzt aber im Bereich des zumindest Möglichen.

Die neue Strategie lautet, die noch unschlüssigen Abgeordneten – und das dürfte die Mehrheit sein – aufzurufen, bei allen (!) der vorliegenden Entwürfen mit "Nein" zu stimmen. Dieser Auffassung hat sich Ende der Woche überraschender Weise sogar die Vorsitzende des Deutschen Ethikrats, Prof. Christiane Woopen, angeschlossen.

Für den 6. November steht auf der Tagesordnung des Bundestages: Von 9 – bis ca. 15.20 Uhr wird über das geplante Verbot der (bisher erlaubten) Unterstützung eines freigewählten Todes entschieden. Ein dagegen zusammengeschlossenes humanistisches Bündnis für Selbstbestimmug hatte zwar gute Argumente: Wer die Logik der Selbstbestimmungsidee zu Ende denkt, darf den ernsthaft erwogenen Suizid nicht tabuisieren und die (organisierten, d.h. fachkundigen, i.d.R ärztlichen) Helfer eines sterbewilligen Patienten nicht für Jahre ins Gefängnis bringen wollen. Dennoch waren die Aussichten mehr als schlecht, den restriktiven und mehrheitsfähigen Gesetzentwurf der Gruppe um Brand (CDU) und Griese (SPD) zu verhindert. Denn dieser verfügte bereits seit vielen Wochen über eine erdrückende Macht von über 200 Unterstützer/innen aller Fraktionen.

Merkel, Gabriel, Kauder, Oppermann für Suizdhilfeverbot

Nicht nur die Kanzlerin hat sich dafür ausgesprochen, sondern auch der SPD-Parteivorsitzende Sigmar Gabriel, die Fraktionsvorsitzenden Volker Kauder, Thomas Oppermann sowie Katrin Göring-Eckart und zahlreiche Minister, allen voran Hermann Gröhe. Bekanntlich positioniert sich demgegenüber eine stabile Dreiviertel-Mehrheit der Bundesbürger/innen genau umgekehrt und plädiert für die Möglichkeit, dass ein Arzt eine vom Patienten gewollte Leidensverkürzung unterstützen darf. Dieser Mehrheitswille der Bevölkerung scheint jedoch die genannten Spitzenpolitiker keineswegs zu stören. Ebenso ignorieren sie die von Ärzten als auch von Strafrechtlern beschworene Gefahr, dass mit dem neuen Gesetz bisher unstrittige Formen der Sterbehilfe zukünftig als verbotene Suizidhilfe interpretiert werden könnten. Merkel, Gabriel und Co. haben sich auf ein Ziel festgelegt: Den Sterbehilfeverein von Roger Kusch und entsprechende "Einzeltäter" zu eliminieren und damit vermeintlichen Schaden vom Volk abzuwenden - egal mit welchen Kollateralschäden.

Doch sind in den letzten Monaten die "normalen" Abgeordneten zunehmend verunsichert worden - und nicht zu beneiden. Denn wer soll bei dieser Gewissensentscheidung eigentlich noch durchblicken? Um die Verunmöglichung einer fachgerechten Hilfe bei einem Sterbewunsch noch abzuwehren, machte deshalb eine verquere, kompromisslerische Strategie keinen Sinn: Nämlich Abgeordnete aufzurufen, lieber für einen der beiden vermeintlich "weniger schlimmen Anträge" (den von Künast/Sitte oder den von Hintze/Reimann) zu stimmen. Die neue Strategie lautet hingegen, eine große Zahl der Abgeordneten aufgrund ihrer vorherrschenden und berechtigten Unschlüssigkeit zu ermuntern, sich nicht zu einer Entscheidung drängen zu lassen und allen (!) vorliegenden Entwürfen eine Absage zu erteilen.

Strategie: "Stimmen Sie viermal NEIN"

"Diese fünfte mögliche Variante, die Rechtslage unverändert zu lassen, entspricht der Position unserer Verbandes", erklärte der für diesen Bereich zuständige Vizepräsident des Humanistischen Verbandes Deutschlands (HVD), Erwin Kress. Eine entsprechende Initiative wurde vorige Woche vom HVD – Mitglied im Bündnis "Selbstbestimmung bis zum Lebensende" – formuliert und ins Internet gestellt. Es haben sich in wenigen Tagen Unterstützer in einem unteren vierstelligen Bereich gefunden, die Zahl dürfte in den nächsten Tagen steigen.

Sie haben mit einem Eintrag einen Appell an alle Bundestagsabgeordneten geschickt: Im Sinne der Leitsätze des Bündnisses wird dazu aufgerufen, die in Deutschland seit ca. 140 Jahren bestehende Rechtslage (Hilfe bei einem freiverantwortlichen Suizid ist straffrei) beizubehalten. Dieser Appell scheint Wirkung zu entfalten. Denn sie spricht die meisten Abgeordneten an einem neuralgischen Punkt an: Wer von ihnen vermag mit hinreichender Sicherheit abzuschätzen, welche Folgen v. a. für Ärzt/innen und schwerkranke Patient/innen der eine oder der andere der vier vorliegenden Entwürfe hat? Die politische Strategie könnte tatsächlich noch aufgehen:

In einer Antwort auf den Appell "Viermal NEIN" hat sich die Abgeordne Petra Sitte (LINKE) grundsätzlich zustimmend geäußert. Sie gehört zu Vertreter/innen der beiden liberaleren Entwürfe, die sich zusammen getan haben, um wenige Tage vor der Abstimmung den drohenden Gesetzentwurf zur Kriminalisierung der Suizidhilfe doch noch zu stoppen – ganz im Sinne des Appells und durchaus mit einer gewissen Erfolgsaussicht: Am Dienstag wollen die Gruppe um die Abgeordneten Renate Künast (Grüne) und Petra Sitte (Linke) sowie die Gruppe um Peter Hintze (CDU) und Carola Reimann (SPD) in einer gemeinsamen Pressekonferenz zusammen dafür werben, im Zweifel alle Gesetzentwürfe im Bundestag durchfallen zu lassen. "Der Status quo ist am Ende besser als eine Kriminalisierung auch von Ärzten", sagte Reimann. 

Überraschende "Schützenhilfe" erhielten die Befürworter für eine Totalverweigerung von der Vorsitzenden des deutschen Ethikrates, die sich bisher eher abwiegelnd gezeigt hatte. Doch nun hat Prof. Christiane Woopen die Abgeordneten klar dazu aufgefordert, am 6.11. keinen der vorliegenden Gesetzesentwürfe zu beschließen. Es existierten "in unserer Gesellschaft keine gravierenden Missstände, dass ein Gesetz notwendig wäre", sagte Woopen dem "Focus". Es gebe hierzu "keinen dringenden Gesetzesbedarf". Besser sei es, zu einem späteren Zeitpunkt die Vorbeugung von Suiziden zu stärken.

Unaufgeklärte und verunsicherte Abgeordneten sollen entscheiden

Auf etlichen Veranstaltungen mit Abgeordneten zeigte sich, dass diese nicht einschätzen können – selbst wenn sie sich dezidiert für Selbstbestimmung und Liberalität aussprechen – für welchen der Entwürfe sie denn stimmen sollten.

Ein Beispiel: Der SPD-Abgeordnete Rainer Arnold aus einer badenwürttembergischen Kleinstadt hält seine Entscheidungsfindung immerhin für so reflektiert, dass er sie in Stuttgarter Nachrichten ausführlich erläutert: Er habe sich noch nicht endgültig entschieden zwischen dem Antrag von Hintze/Lauterbach (der auf eine Strafrechtsänderung gänzlich verzichtet) und dem von Brand/Griese (der selbst eine unentgeltliche Gewährung von Suizidhilfe unter Strafe stellen will). Seine Begründung, warum die beiden andere nicht in Frage kommen: "… Für mich scheiden die Anträge aus, die das Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen einschränken und eine Verschärfung des Strafrechts vorsehen. Ich schwanke zwischen zwei Anträgen: Lauterbach/ Griese [beide SPD !], die beide das Recht des Einzelnen auf den Suizid wie bisher sichern und den Ärzten, die eng mit dem Patienten verbunden sind, weiterhin eine eigene Entscheidung ermöglichen. …"

Perfektes Verwirrspiel und späte Einsicht

Diese Verwirrung ist allerdings kein Wunder: Was wurde bei den vorliegenden Gesetzentwürfen nicht alles angeführt, um dem in der Bevölkerung weitverbreiteten Wunsch nach Beihilfe zum Suizid durch Ärzte oder Sterbehilfeorganisationen endlich per Gesetz zu begegnen? Gleich drei Entwürfe behaupten von sich, das Patienten- und Menschenrecht auf Selbstbestimmung zu betonen, zwei davon wollen angeblich nicht mit dem Strafrecht drohen (obwohl in ihrem Gesetz dann genau das Gegenteil, nämlich ein neuer § 217 StGB formuliert ist). Der vierte, radikalste, gibt sich als der einzige verfassungskonforme aus. Bei einem ist als Haupt-, bei einem anderen als Nebenziel angegeben, die Berufs- und Gewissensfreiheit der Ärzte zu stärken – wobei die mit dem Status quo einhergehende Rechtsunsicherheit beklagt wird. Ganz überwiegend jedoch wird als Notwendigkeit vorgegeben, endlich mehrjährige Strafen für eine (fachgerecht, geschäftsmäßig, ärztlich) organisierte Form der Suizidhilfe einführen zu müssen.

Unter Ausnutzung der Begriffsunklarheit "geschäftsmäßige" Suizidhilfe wird verbrämt: Damit ist juristisch auch die nicht gewinnerzielende, ja sogar die völlig unentgeltliche Gewährung und Unterstützung eines Suizids gemeint. Zudem tragen Brand, Griese und ihre Mitstreiter/innen das Mantra vor, mit ihrem Entwurf würde ja eine Suizidhilfe durch Nahestehende im Einzelfall straffrei bleiben. Diese verklärende und irreführende Darstellung ist wohl auch der Grund, warum sich ihr Entwurf der breitesten Zustimmung im Parlament erfreut.

Alle vier Parlamentariergruppen beharrten bisher jeweils auf ihrem eigenen Gesetzentwürfen. Doch nun sind die beiden als eher liberal geltenden Gruppen zugunsten klarer Verhältnisse sogar offenbar bereit, ihre  - konkurrierenden - Entwürfe zurückzuziehen. Für den 3. November haben sie eine Pressekonferenz angekündigt. Dann gäbe es eine klare Opposition gegen den Antrag mit der drohenden Strafverschärfung und zumindest das unsägliche Verwirrspiel im Parlament hätte ein Ende. Damit würden die Chancen steigen, dass der Bundestag am kommenden Freitag gar keine Änderung beschließt und alles beim Alten bliebe.