Ein Paukenschlag:

Bundesverfassungsgericht kippt "Sterbehilfeverhinderungsgesetz"

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Dieter Birnbacher (DGHS), Ludwig Minelli (dignitas) und Michael Schmidt-Salomon (GBS).
Dieter Birnbacher, Ludwig Minelli und Michael Schmidt-Salomon.

Das Bundesverfassungsgericht hat mit seiner heutigen Entscheidung § 217 StGB für nichtig erklärt. Führende Politikerinnen und Politiker wie Angela Merkel und Jens Spahn müssen sich nun vorwerfen lassen, 2015 für ein Gesetz gestimmt zu haben, das nicht auf dem Boden der Verfassung steht. Ein Bericht aus Karlsruhe von Michael Schmidt-Salomon.

Nach der mündlichen Verhandlung im April 2019, die als eine "Sternstunde des Bundesverfassungsgerichts" gewertet wurde, waren die Erwartungen hochgeschraubt – und sie wurden nicht enttäuscht: Die Urteilsverkündung zu den Verfassungsbeschwerden gegen § 217 StGB, die Andreas Voßkuhle um 10.00 Uhr heute Morgen eröffnete, wurde zu einer Lehrstunde in Sachen Grundrechte: Die Richterinnen und Richter klärten die anwesenden PolitikerInnen darüber auf, dass das Recht des Individuums auf Selbstbestimmung am Lebensende nicht zur Disposition gestellt werden dürfe. Das 2015 beschlossene "Gesetz gegen die geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" sei aufgrund seiner "Autonomiefeindlichkeit" verfassungswidrig und damit nichtig.

Die VerfassungsrichterInnen betonten, dass das Grundgesetz vom autonom entscheidenden Menschen ausgehe. Dieser habe das Recht, über sein Leben und Sterben selbst zu bestimmen. § 217 StGB habe dies de facto verhindert, da sterbewillige Menschen nach der Verabschiedung des Gesetzes keine kompetenten Helfer mehr finden konnten. Zwar habe der Staat das Recht, Suizidprävention zu betreiben, aber er dürfe nicht in das Persönlichkeitsrecht des Einzelnen eingreifen. Auch dürfe der Staat nicht materiell definieren, unter welchen Bedingungen ein Sterbewunsch legitim beziehungsweise illegitim sei. Hierüber dürfe nur das eigenverantwortliche Individuum selbst entscheiden. Einengende Kriterien wie etwa das Vorliegen einer "unheilbaren Krankheit" dürfe der Staat nicht zur Voraussetzung machen.

Ein historisches Urteil, mit dem der scheidende BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle sich und seinen KollegInnen auf der Richterbank ein Denkmal gesetzt hat.

In ihrer Urteilsbegründung mahnten die Richterinnen und Richter auch eine Neufassung der ärztlichen Berufsordnungen und des Betäubungsmittelgesetzes an, die in ihren gegenwärtigen Fassungen "verfassungsrechtlich bedenklich" seien. Mit dem heutigen Urteil ist der Rechtszustand von 2015 wiederhergestellt – mehr noch: Nie zuvor hat sich ein deutsches Gericht so klar zum Selbstbestimmungsrecht des Einzelnen über sein eigenes Leben und Sterben bekannt. Ein historisches Urteil, mit dem der scheidende BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle sich und seinen KollegInnen auf der Richterbank ein Denkmal gesetzt hat.

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