Burka oder Perlenkette – eine Debatte voller Missverständnisse

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Niqab
Niqab

Nach einer erfolgreichen Initiative wird in der Schweiz am 7. März über ein Verbot der Vollverschleierung in der Öffentlichkeit abgestimmt. Wie bereits bei ähnlichen Vorstößen in den letzten Jahren in den Niederlanden und Dänemark wird heftig debattiert, ob ein Verbot kontraproduktiv oder sogar frauen- und muslimfeindlich sei.

Die Gegner des Verbots argumentieren, dass Frauen das Recht haben sollten, selbst über ihre Kleidung zu bestimmen. Die Verbotsforderung beruhe auf Vorurteilen und fördere Rassismus. Die Befürworter weisen darauf hin, dass Frauen in islamischen Ländern und auch in Europa gezwungen werden, diese extreme Form der religiösen Verschleierung zu tragen, ein Verbot also vor allem zum Schutz der Frauen erlassen werden solle. Außerdem seien Niqab und Burka Ausdruck einer extremistischen Ideologie, ein Verbot der Vollverschleierung sei also auch eine Maßnahme gegen Islamismus.

Während in Frankreich vor dem Inkrafttreten des Verbots 2011 Frauenverbände überwiegend ein Verbot unterstützten, stellen sie sich in der Schweiz zehn Jahre später mehrheitlich gegen ein Verbot, unterstützt von Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International (AI):

"Amnesty International lehnt die Initiative für ein Burka-Verbot klar ab. Die Initiative ist unnötige Symbolpolitik mit sehr realen Konsequenzen: Sie befeuert die Islamophobie und stigmatisiert die muslimische Minderheit in der Schweiz. Anstatt Frauen, die eine Burka oder einen Nikab tragen, in ihren Emanzipationswünschen zu unterstützen, werden sie durch den Initiativtext diskriminiert und marginalisiert."

Tatsächlich stammt die Initiative für das Burkaverbot von einer Gruppierung, die am rechten Rand verortet ist und schon das Minarettverbot in der Schweiz initiiert hatte. Daher liegt der Verdacht nahe, dass es ihr nicht, wie angegeben, um Gleichberechtigung geht, sondern um die Stigmatisierung alles "Fremden". Allerdings wird das Burkaverbot auch von Musliminnen und Personen aus dem Mitte-Links-Spektrum unterstützt, zum Beispiel von Elham Manea, Saida Keller-Messahli oder Layla Ibrahim-Straubli, während beispielsweise Claudio Zanetti der rechts verorteten SVP eine Koalition gegen das Burkaverbot gegründet hat. Es gibt also keine klare Trennlinie zwischen den politischen Lagern für oder wider ein Burkaverbot.

In der Debatte vermischen sich drei Argumentationsstränge: Die angenommene Gefahr von Diskriminierung gegenüber Musliminnen und Muslimen, die Frage, ob ein Verbot Radikalisierung befördert oder verhindert und die Einschätzung, ob Vollverschleierung (religiös) selbstbestimmt und emanzipatorisch oder fremdbestimmt und frauenverachtend sei. Aber der Reihe nach:

Der Diskriminierungsvorwurf

Die Gegnerinnen und Gegner des Burkaverbots befürchten, wie von AI formuliert, eine Stigmatisierung der muslimischen Minderheit in der Schweiz. Damit setzen sie die muslimische Minderheit allerdings selbst mit der Vollverschleierung gleich, verfestigen also jene Stigmatisierung, die sie befürchten. Die Mehrheit der Musliminnen in Europa trägt kein Kopftuch, geschweige denn Burka oder Niqab. Eine Befragung von Musliminnen in Frankreich von 2019 hat ergeben, dass 59 Prozent nie Kopftuch und/oder Vollverschleierung getragen haben, sieben Prozent selten und zehn Prozent keinen Schleier tragen, aber schon mal getragen haben. Lediglich 19 Prozent gaben an, Kopftuch und/oder Gesichtsschleier immer zu tragen. Die Befragungen in anderen europäischen Ländern liefern ähnliche Resultate, in Deutschland tragen über 70 Prozent der Musliminnen kein Kopftuch.

Zu befürchten, ein Verbot würde Frauen diskriminieren, die selbst keine Verschleierung tragen, ist widersinnig. Durch diese Behauptung wird Musliminnen ihre Identität abgesprochen. Sie werden gerade von denjenigen, die vorgeben, Musliminnen schützen zu wollen, "zwangsverschleiert", medial mit der Vollverschleierung oder zumindest dem Kopftuch gleichgesetzt. Die ständige Assoziation von Musliminnen mit jeder Form von Verschleierung ist die eigentliche Stigmatisierung, gegen die vorgegangen werden sollte. Ein Burkaverbot wäre die Gelegenheit klarzustellen, dass die Mehrheit der Musliminnen und Muslime nichts mit Verschleierung zu tun hat, nicht mit dem Kopftuch und schon gar nicht mit Vollverschleierung. Tatsächlich stimmt die Mehrheit der muslimischen Minderheit in der Schweiz einem Verbot zu. Die Gleichsetzung der muslimischen Minderheit mit Verschleierung ist an sich diskriminierend und muslimfeindlich. Damit dieses muslimfeindliche Stereotyp verschwindet, sollten Medien endlich Musliminnen ohne Kopftuch oder Burka abbilden. Indem die Gegner eines Verbots vor Diskriminierung warnen, verfestigen sie diskriminierende Stereotype gegenüber Musliminnen.

Die ständige Assoziation von Musliminnen mit jeder Form von Verschleierung ist die eigentliche Stigmatisierung, gegen die vorgegangen werden sollte.

Dasselbe gilt für die Gleichsetzung von Muslimfeindlichkeit und Islamophobie. Wer Menschen aufgrund ihrer Herkunft oder ihrer Religion diskrimniert, macht sich strafbar, wer eine Religion kritsiert, nutzt eine Errungenschaft der Aufklärung, nämlich das Recht auf Religionskritik. Erst scharfe Religionskritik à la Voltaire hat die Aufklärung und als Folge der Aufklärung einen Rechtsstaat basierend auf Grundrechten möglich gemacht. Um individuelle Grundrechte zu erhalten, die Menschen vor Diskriminierung wegen Herkunft, Geschlecht oder Religion schützen, bleibt Religionskritik notwendig. Die Kritik an Religion und Ideologie ermöglicht zudem, zwischen Religion und Extremismus zu unterscheiden, die Unterbindung jeder Kritik hingegen erlaubt es Extremisten, unter dem Deckmantel der Religion stark zu werden.

Radikalisierungsbefürchtungen

Die Soziologin Agnès De Féo, die in Frankreich Befragungen mit vollverschleierten Frauen durchgeführt hat, warnt in etlichen Interviews davor, ein Burkaverbot mache die Vollverschleierung erst recht interessant, bewirke also eher eine Radikalisierung. Sie berichtet, vor dem Verbot hätten sich in Frankreich nur ältere Frauen aus Tradition in Niqab oder Burka bewegt, nach dem Verbot sei es zu einer Zunahme an jungen Frauen gekommen – aus Protest. Dem widerspricht deutlich die Aussage des prominenten damaligen Rektors der Grande Mosquée de Paris, Dalil Boubakeur, in der Anhörung vor dem Ausschuss des französischen Parlaments 2009 zu einem möglichen Burkaverbot:

"Angesichts der Reaktionen auf das jüngste Auftreten vollverschleierter Frauen im Namen des Islam ist der Zusammenhang mit einem Wiederaufleben des muslimischen Fundamentalismus schnell hergestellt. Das Eindringen der Vollverschleierung in die französische Bevölkerung in den Städten wirft das Problem auf, ob man akzeptieren soll, was so eingeordnet wird: als Angriff auf den säkularen Charakter unserer Gesellschaft; als Beleidigung der Würde der Frau, ihrer Freiheit und des Grundprinzips der Gleichheit von Mann und Frau; als archaisch, der Moderne widersprechend; als eine von Fundamentalisten gesteuerte Provokation in Frankreich und in der ganzen Welt, denn dieses Phänomen breitet sich fast überall unter den Muslimen aus."

Anders als von De Féo behauptet, war das Verbot der Vollverschleierung eine Reaktion auf die unter anderem von Boubakeur beschriebene Zunahme von islamischen Extremisten in Frankreich.

Dabei stellt Boubakeur klar, wie auch eine der höchsten Autoritäten des sunnitischen Islams, die Universität Al Azhar, dass Vollverschleierung im Islam nicht religiös begründet werden kann. Er weist auch darauf hin, dass ein Verbot das Problem derjenigen Frauen nicht löst, die den Gesichtsschleier tragen. Deren Geschichte ist nach Aussage des studierten Mediziners Boubakeur oft durch persönliche Probleme geprägt bis hin zu klinisch relevanten Fällen. Auch De Féo weist auf das auffällig häufige Vorkommen von Problemen bei den von ihr interviewten Frauen hin, zum Beispiel Drogenabhängigkeit und erlittene sexuelle Gewalt. Jedoch nimmt sie an, dass die Frauen in der Vollverschleierung eine selbstbestimmte Lösung für ihre Probleme gewählt haben, sich also selbst emanzipieren, und sei es nur, um gegen ihre "islamophoben" Eltern zu rebellieren. Durch den besonders strengen salafistischen Lebensstil bekämen sie eine moralische Sonderstellung, die sie begehrenswert innerhalb der salafistischen Gemeinschaft mache.

Damit beschreibt De Féo unwillentlich einen klassischen Radikalisierungsverlauf. Die meist jungen Frauen rutschen, wie von De Féo beschrieben, oft über eine Liebesbeziehung in diese Szene, sie sind emotional verwundbar, sind angezogen von den autoritären Strukturen, die ihnen die Verantwortung für das eigene Leben abzunehmen scheinen. Je radikaler sie sich geben, desto mehr Anerkennung ernten sie innerhalb der extremistischen Kreise. Diese Muster sind zum Beispiel auch aus den spiegelbildlichen rechtsextremen Kreisen bekannt. Hier würde vermutlich kaum jemand argumentieren, dass eine Radikalisierung ins rechtsextreme Milieu durch ein Verbot erst befördert werde. Vielmehr wird öffentliche Ächtung und die Klarstellung, dass extremistisches Gedankengut inakzeptabel ist, als das Mittel der Wahl empfohlen, selbstverständlich begleitet durch Aussteigerprogramme.

Zum Zeitpunkt des Verbots von Gesichtsverhüllung in Frankreich gab es bereits eine zehnjährige Diskussion um Frauen als Terroristinnen. Frauen wurden von Al-Qaida und Hamas eingesetzt, so bezeichnete, meist tschetschenische "Schwarze Witwen" verübten Anschläge in Russland. Salafistische Extremistinnen organisieren die Unterstützung für wegen Terrorismus verurteilter Mitglieder, ein Phänomen, das sich ebenfalls bei Frauen in der rechtsextremen Szene für deren Verurteilte findet. Dennoch wird die Radikalisierung von Frauen oft als harmlos abgetan, da sie den Männern im Rang innerhalb der Szene untergeordnet sind. Diese Frauen spielen aber nicht nur bei der Rekrutierung und Radikalisierung eine gefährliche Rolle, sondern sind auch aktiv an Anschlägen beteiligt. Das Phänomen zu bagatellisieren, kann tödliche Folgen haben.

Auch an dieser Stelle sei nochmal daran erinnert, dass islamische Autoritäten die Vollverschleierung ablehnen und selbst als Extremismus qualifizieren. Wer also Muslimfeindlichkeit die Grundlage entziehen will, sollte auf der Unterscheidung zwischen Religion und Extremismus bestehen und sie nicht wie die Gegner eines Burkaverbots gleichsetzen. Die Burka ist, wie von Boubakeur beschrieben, ein Symbol extremistischer Gesinnung, die demokratische Werte und Gleichberechtigung ablehnt.

Frauenrechte und Religion

Worin das Missverständnis von Emanzipation und Selbstbestimmung besteht, verdeutlicht De Féo wiederum unwillentlich:

"Eine gute französische Bourgeoise, die einen Haarreif, eine doppelreihige Perlen­kette, einen knielangen Plissé­jupe, lackierte Halbschuhe ohne Absatz trägt und damit signalisiert, dass sie nicht nur distinguiert ist, sondern auch einen ehrbaren Lebens­wandel hat, unterwirft sich ebenfalls ganz präzis definierten Konventionen."

De Féo und die sich gegen das Burkaverbot aussprechenden Frauenrechtsorganisationen in der Schweiz ignorieren, dass die Frauenbewegungen in Europa genau gegen diese "definierten Konventionen" gekämpft haben. Die Neue oder Zweite Frauenrechtsbewegung in Europa und den USA hat seit den 1970er Jahren durch massiven Protest gegen die christliche Sexualmoral erreicht, dass Frauen nicht mehr in "ehrbar" und "Schlampe" unterteilt werden, sondern ihr Leben und ihr Liebesleben selbstbestimmt wählen können. Wurde Frauen früher die Schuld an der ihnen angetanen sexuellen Gewalt gegeben, wenn sie sich "unehrbar" verhalten hatten, also Minirock trugen oder nachts allein unterwegs waren, wäre dies heute als Victim Blaming geächtet. Dem jahrzehntelangen Kampf dieser Frauen verdanken es Frauen (und Männer) heute, dass sie doppelreihige Perlenketten tragen können, nicht müssen – und diese und andere Konventionen brechen können. Eine Frau, die heute in Europa nur das Kopftuch ablegt, muss oft um ihr Leben fürchten. In Deutschland müssen solche Frauen laut der Anwältin Gülşen Çelebi in ein Schutzprogramm eintreten, unter neuem Namen untertauchen, oft sind sie nur im Ausland sicher vor dem Zugriff derjenigen, die sie für ihr "unehrenhaftes" Verhalten ermorden wollen.

Solange nur eine einzige Frau in Europa bedroht wird, weil sie sich gegen die Verschleierung entscheidet, sind Menschenrechte für Frauen in Europa noch nicht vollständig durchgesetzt.

Die Burka ist die extremste Form dieser Keuschheitskultur, die Frauen zu Sexualobjekten degradiert. Zwar können Frauen freiwillig wählen, sie anzulegen, aber nicht alle Frauen können entscheiden, sie wieder abzulegen, ohne um ihr Leben fürchten zu müssen.

Solange nur eine einzige Frau in Europa bedroht wird, weil sie sich gegen die Verschleierung entscheidet, sind Menschenrechte für Frauen in Europa noch nicht vollständig durchgesetzt.

Die Bekämpfung von Extremismus und Frauenverachtung ist Aufgabe des Staates

Die islamische Schamkultur kann durch feministische Religionskritik geändert werden, wie sie von Musliminnen wie Sineb El Masrar, Seyran Ateş oder Elham Manea seit langem geübt wird. Menschenrechte gegen Extremisten durchzusetzen, ist hingegen Aufgabe des Staates. Gerade Frauen aus Minderheiten, die von Mehrfachdiskriminierung betroffen sind, sollten durch staatliche Gesetze und deren konsequente Durchsetzung gegen den Zugriff von Extremisten jeden Geschlechts geschützt werden.

Daher ist ein Burkaverbot ein klares Signal an Extremisten, dass Menschenrechte der Frauen ein unantastbares Grundrecht sind.

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