Warum es keine gute Idee ist, ausgerechnet Gottesdienste von der Lockdown-Liste zu streichen, wurde in den vergangenen Tagen in verschiedenen Medien bereits ausgeführt. Zur langen Liste der Argumente, die für ein aktuelles Verbot von Präsenz-Gottesdiensten sprechen, gesellt sich nun ein weiteres: Am Sonntag deklarierten Coronarebellen in München ihren Protest zu einem Gottesdienst, um Auflagen missachten zu können.
Die Auflagen für die sonntägliche Protest-Veranstaltung gegen die Maßnahmen zur Eindämmung der Coronapandemie waren klar. Auf der Münchner Theresienwiese durften sich laut Auflagen der Stadt München maximal 1.000 Teilnehmer*innen statt der vom Veranstalter "Querdenken 089" angemeldeten 5.000 versammeln und es galt für sie Maskenpflicht. Das hatte kurz vor Beginn der Veranstaltung in letzter Instanz sogar noch der Bayerische Verwaltungsgerichtshof (BayVGH) bestätigt und damit eine entsprechende Beschwerde der Veranstalter gegen die Auflagen zurückgewiesen.
Zur Begründung führte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof aus, dass die Stadt München zu Recht davon ausgegangen sei, "dass stationäre Versammlungen aufgrund des aktuellen pandemischen Geschehens und Erfahrungen mit Versammlungen der Querdenken-Bewegung in der Vergangenheit nur mit einer reduzierten Teilnehmerzahl und unter Einhaltung von Hygienemaßnahmen (Mindestabstände und das Tragen von Masken) infektionsschutzrechtlich vertretbar seien. Wenn sich ein Veranstalter ausdrücklich weigere, Hygienemaßnahmen zu ergreifen, sei auch eine Untersagung gerechtfertigt. Das Selbstbestimmungsrecht von Versammlungen finde seine Grenze in den Rechtsgütern Dritter und der Allgemeinheit", so die Pressemitteilung des BayVGH zur Entscheidung des Gerichts.
Und doch kam es am Sonntag anders. Statt der genehmigten 1.000 Teilnehmer*innen auf der Theresienwiese fanden sich rund 1.900 Protestierende dort ein, von denen laut Bericht der Münchner Abendzeitung kaum einer Maske trug. Dennoch schritt die Polizei nicht ein, um die Versammlung trotz des eindeutigen Verstoßes gegen die gerichtlich bestätigten städtischen Auflagen aufzulösen. Der Grund: Die Querdenker hielten die Versammlung als Gottesdienst ab. Sogar einen Geistlichen hatten sie dafür aufgetrieben: Ex-TV-Pfarrer Jürgen Fliege, der gegen die Coronamaßnahmen predigte.
Dass die Protest-Veranstaltung kurzerhand zum Gottesdienst umdeklariert wurde, verunsicherte die Polizei. Sie schätzte die Rechtslage als unklar ein und tatsächlich kamen Juristen des Innenministeriums später zu dem Ergebnis, dass es sich um einen Gottesdienst gehandelt habe und der Polizei deshalb die juristische Grundlage gefehlt habe, die Versammlung aufzulösen, berichtet die Münchner Abendzeitung weiter. Erst später, als sich der Protest-Gottesdienst zusehends in ein Konzert verwandelte, belehrte die Polizei den Veranstalter. Da dieser sich uneinsichtig zeigte, wurde die Veranstaltung schließlich doch noch aufgelöst.
Auf die Idee, die weitgehende Narrenfreiheit, die Gottesdienste während der Coronapandemie genießen, für ihre Zwecke zu nutzen, waren bereits am Tag zuvor die Querdenker in Dresden gekommen. Auch ihre Demonstration hatten sie mit einem Gottesdienst begonnen, laut MDR organisiert von einer Gruppe namens "Christen im Widerstand". Auch in Dresden zeigte sich die Polizei von der Situation überfordert. Primär allerdings, weil mehrere hundert Menschen Atteste oder Bescheinigungen vorzeigten, nach der sie von der Maskenpflicht befreit seien.
Angesichts rasant steigender Coronainfektionszahlen und angesichts der Lockdown-Maßnahmen, die nun einige Branchen besonders hart treffen, kann und darf es nicht sein, dass Politik und Polizei ausgerechnet jenen Menschen, die sich gezielt den Infektionsschutzmaßnahmen widersetzen, nichts entgegenzusetzen vermögen. Und dass die Coronarebellen ihren Gottesdienst-Trick nach den ersten Erfolgen weiterhin anwenden werden, um sich nicht an Versammlungsauflagen halten zu müssen, ist mehr als wahrscheinlich. Schließlich sind die ab Anfang November geltenden Regeln für Gottesdienste geradezu eine Einladung: Für Gottesdienste im Freien gilt zum Beispiel in Bayern laut dem Bayerischen Innenministerium keine Höchstteilnehmerzahl. Grundsätzlich müssen die Teilnehmenden zwar 1,5 Meter Abstand zueinander halten und ab einer Teilnehmerzahl von 200 Personen besteht Maskenpflicht – allerdings nur, solange sie sich die Teilnehmenden nicht an ihrem Platz befinden.
Dabei wäre die Lösung sehr einfach: Auch Präsenz-Gottesdienste, die in den vergangenen Monaten ohnehin oft genug zum Superspreader-Event wurden, müssen von den Lockdown-Maßnahmen erfasst werden. Dem widerspricht – anders als viele Politiker zu meinen glauben – auch keine höchstrichterliche Rechtsprechung. Das Bundesverfassungsgericht gelangte Ende April lediglich zu dem Urteil, dass die Möglichkeit gegeben sein müsse, auf Antrag im Einzelfall Ausnahmen vom generellen Verbot von Gottesdiensten zuzulassen.
Mit einer solchen Regelung wäre tatsächlich viel erreicht. Die Anzahl von Präsenz-Gottesdiensten würde reduziert, was hier zu einer äußerst sinnvollen Kontaktreduzierung führen würde. Bei wichtigen religiösen Anlässen könnte dann eine Ausnahmegenehmigung für einen Präsenz-Gottesdienst erteilt werden. Auf diese Weise würde ganz nebenbei Coronarebellen die Möglichkeit genommen, Proteste kurzfristig zu Gottesdiensten umzudeklarieren, um Auflagen für ihre Versammlungen zu umgehen und diese damit im wahrsten Sinne des Wortes sakrosankt zu machen.
13 Kommentare
Kommentare
Konrad Schiemert am Permanenter Link
Das Thema wird hier https://www.der-postillon.com/2020/10/heilige-kulinariker.html auch journalistisch anspruchsvoll behandelt.
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Der Fehler liegt eindeutig bei den Regierenden, die Ausnahmen für Gottesdienste zulassen. Die Querdenker nutzen nur ihre Chancen, was ja legal ist.
Wesentlich schlimmer sind die aktuellen Überlegungen der Theologen und Politikern, die jetzt definieren und vorschreiben wollen, ab wann ein Gottesdienst erst ein Gottesdienst sei, um solche Umwidmungen von Demos zu verhindern.
Ab jetzt wird vorgeschrieben was rechter Glaube ist, ab wann ein Gott ein Gott ist und wo er verehrt werden darf. „Falscher“ Glauben wird nicht mehr erlaubt und jeder Demonstrant muss sein Bekenntnis vorher preisgeben. So entstehen Diktaturen.
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Genau das ist der Weg, den die Kirchen wieder einschlagen wollen, in der letzten Diktatur unter A.H.
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Was ich bedenklich finde ist, dass hier nicht gleiches Recht für alle gelten soll.
Religionsfreiheit bedeutet auch, dass jeder für sich definieren können sollte, was er unter einem Gott versteht und wie er ihn anbeten möchte.
Die Theologen und Politiker versuchen aber eine Definition zu finden, dass nur bestimmte Religionen an den Fleischtopf der Steuergelder und Privilegien kommen. Andere Religionen (z.B. Osho, Pastafari, etc.) werden unter fadenscheinigen Argumenten von vorn herein ausgeschlossen.
Wenn es Religionsfreiheit gibt, dann bitteschön für alle. Dann haben auch die Querdenker das Recht ihre „Macht“ unter freiem Himmel „anzubeten“, ohne dass es ihnen untersagt werden kann.
Klaus am Permanenter Link
Völlig klar, dass die Ausnahmeregelung für Gottesdienste ein Unding ist, gerade auch vor dem Hintergrund einiger nachweislicher Superspreading-Ereignisse in Kirchen.
Interessant ist aber Ihre weitere Bewertung:
Dass die Kirchen vorschreiben wollen, was ein Gottesdienst bzw. rechter Glaube sein soll ist doch nichts Neues. Das haben sie immer schon getan und führt noch lange nicht in eine „Diktatur“.
Dass aber die Verquertdenker ihren faktenfreien Unsinn mit allen nur erdenklichen Mitteln und Tricks unters Volk zu bringen versuchen, scheint Sie nicht zu stören. Auch das führt noch lange nicht in eine „Diktatur“ (Diese Verbalkeule ist gerade durch die Corona-Leugner längst ausgeluscht). Aber es streut permanent Desinformation und Verwirrung, die leider seit dem Frühsommer den öffentlichen Diskurs bestimmen und damit ein idealen Nährboden für die Strategen und Schwurbler am rechten Rand bilden.
Es ist an der Zeit, den Verschwörungsblödsinn einiger Parallelweltler klar in die Schranken zu weisen, statt schon wieder ihre Diktatur-Agenda zu bedienen.
Andreas E. Kilian am Permanenter Link
Das Mittel der Wahl zur Aufklärung sollte aber die Diskussion sein und nicht das Verbieten mit fadenscheinigen erfundenen Argumenten. Zudem würde ich nicht alle Corona-Querdenker in einen Topf werfen.
Klaus am Permanenter Link
Man muss nicht alle Verquert-Denker in "einen Topf werfen".
Diese Radikalisierung ist bei den letzten Demos immer deutlicher geworfen. Wenn sich die angeblich so harmlosen oder nur naiven Corona-Kritiker sich von diesem "Topf" nicht klar distanzieren, dann müssen sie sich den Vorwurf gefallen lassen, gemeinsame Sache mit Demokratiefeinden zu machen.
A.S. am Permanenter Link
Die Corona-Eindämmungspolitik der Bundesregierung ist halbherzig und die Extrawurst für die Kirchen setzt der Halbherzigkeit die Krone auf.
Die Kirchen haben genug Vermögen, einen Lockdown durchzustehen. Viel Gastwirte und Kneipiers haben solche Rücklagen nicht.
Bernd Kammermeier am Permanenter Link
Vielleicht sollte man die Bevölkerung einer der ostfriesischen Inseln kurzzeitig umsiedeln und dorthin alle Demonstranten und Gottesdienstzwangshandelnden inklusive dem unerträglichen Jürgen Fliege als Chefgeistlichem
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Das hat man davon, wenn man den Kirchen immer eine Extrawurst brät.
Rainer Rosenzweig am Permanenter Link
Die Idee ist doch vom Postillon geklaut:
https://www.der-postillon.com/2020/10/heilige-kulinariker.html
Ingrid Schmall am Permanenter Link
Natürlich müssen Kirchen, Moscheen, Synagogen und andere Tempel mit in den Lockdown.
Wie viele Menschen welchen Alters sind nach welchen Gottesdiensten ausschließlich an Corona gestorben. Wo ist die differenzierte Statistik dazu?Bloße Behauptungen können doch nicht ausreichend sein.
Wie auch hier bekannt sein sollte, reichen positive PCR-Tests zu einer sicheren Diagnose nicht aus.
Vielleicht sollte man auch auf den Ausschluss einer Influenza testen!
Udo Endruscheit am Permanenter Link
Dass für die Gottesdienst-Ausnahmen platt und pauschal "die Religionsfreiheit" als Begründung angezogen wird, ist bezeichnend. Alles, was derzeit geschieht, ist ein Ergebnis von Abwägungen.
I rest my case. Oder: Wo sind wir hier eigentlich?