Eine Studie der University of Southern California (USC) zeigt, dass gewohnheitsmäßiges Teilen die Hauptursache für die Verbreitung von Fake News ist. In einer Reihe von vier Experimenten mit insgesamt 2.476 Personen belegen die Forschenden zweierlei: einen Zusammenhang zwischen dem Belohnungssystemen Sozialer Medien und der Ausprägung einer solchen Gewohnheit sowie den überproportionalen Einfluss gewohnheitsmäßig teilender User auf die Verbreitung von Desinformation. Anders gesagt, Soziale Medien sind Dealer und Aufmerksamkeit ist ihr Stoff: Zusammenfassung und Kommentar.
Desinformation: Das Problem liegt im System
Hauptursächlich für die seit Jahren steigende Zahl geteilter Falschmeldungen ist laut der Studie die Struktur der Plattformen selbst: "Die Gewohnheiten der User Sozialer Medien sind ein größerer Treiber für die Verbreitung von Fehlinformationen als individuelle Eigenschaften. Wir wissen aus früheren Untersuchungen, dass manche Menschen Informationen nicht kritisch verarbeiten und andere sich ihre Meinung aufgrund politischer Voreingenommenheit bilden, was auch ihre Fähigkeit beeinträchtigt, online falsche Narrative zu erkennen. Allerdings zeigen wir, dass das Belohnungssystem der Social Media-Plattformen eine größere Rolle spielt, wenn es um die Verbreitung von Desinformation geht", so die Leiterin der Studie, Gizem Ceylan.
Ein Manko der Studie ist die Tatsache, dass sie ausschließlich mit Accounts bei Facebook arbeitet. Die Ergebnisse sind somit nicht zwingend repräsentativ für Personen, die niemals mit Facebook in Kontakt gekommen sind; angesichts der immensen Ähnlichkeit der Belohnungssysteme verschiedener Sozialer Medien dürften diese Unterschiede aber gering ausfallen.
Die vier durchgeführten Experimente belegen, dass die Belohnungssysteme Sozialer Medien zu einer Gewohnheitsbildung führen, so die Forschenden. Sobald diese Gewohnheiten geprägt seien, würden sogenannte Cues – Trigger, die in die Plattformen eingebaut sind – die User automatisch zum Teilen von Informationen veranlassen, ohne, dass diese dabei über die Folgen ihres Handelns nachdenken oder politische Präferenzen berücksichtigen. Zwischen 30 und 40 Prozent aller in der Studie geteilten Falschmeldungen wurden von nur 15 Prozent der Proband*innen verbreitet. "Unsere Ergebnisse zeigen, dass sich Desinformation nicht aufgrund eines Defizits der individuellen User verbreitet. Stattdessen ist das ein Produkt der Struktur von Social Media-Websites selbst", so Psychologieprofessorin Wendy Wood, die die Untersuchung begleitete.
Diese Struktur ist so angelegt, dass das Engagement, also die Summe an Interaktionen mit einem Beitrag, eine Art sakrosankte Position einnimmt. Wie Facebook selbst in den letzten Jahren immer wieder zugeben musste, wirken sich Algorithmen, die Posts nach dieser Metrik sortieren, negativ auf die übergeordnete Informationsqualität der Website aus. Die Struktur ermöglicht nicht nur Desinformation, Polarisierung und politische Einflussnahme durch zwielichtige Akteur*innen, sie leistet all diesen Dingen aktiv Vorschub.
Die Foschenden erkennen in ihrer Studie die dieser Situation zugrunde liegende ökonomische Logik an und zeigen, dass ein alternatives Modell, in dem Belohnungen nicht basierend auf der Beliebtheit eines Beitrags vergeben werden, sondern basierend auf dessen Richtigkeit, die Rate, mit der Menschen Informationen teilen, sogar noch erhöht. Anders ausgedrückt: Soziale Medien müssen nicht zwingend weniger Umsatz machen, wenn sie ihre Algorithmen so umbauen, dass diese das Teilen korrekter, nuancierter Informationen belohnen. Im Gegenteil, in diesem Umbau liege sogar ein Potential, betonen die Forschenden.
Digital angefixt: Ein neues Zeitalter der Abhängigkeit
15 Prozent der User sind für bis zu 40 Prozent der Falschinformationen verantwortlich. Was auf den ersten Blick bedeutungslos klingen mag, möchte ich abschließend in einen größeren Kontext setzen.
Gerade einmal vier Prozent der Bevölkerung Englands machen 23 Prozent des Gesamtumsatzes der dortigen Alkoholindustrie und 30 Prozent des Gesamtkonsums aus. In den Vereinigten Staaten konsumiert das trinkstärkste Zehntel mehr als die Hälfte des insgesamt konsumierten Alkohols. Menschen mit problematischem Glücksspielverhalten ("problem gamblers") machen, so eine Analyse der Universität Alberta in Kanada, zwischen 15 und 50 Prozent des Umsatzes der Glücksspielindustrie aus. Diese Zahlen sowohl substanzgebundener als auch substanzungebundener Abhängigkeiten erinnern stark an den Proporz der Desinformation, der von einer vergleichsweise geringen Zahl an "Power-Usern" stammt.
Bedenken wir nun zusätzlich, dass die Studie der USC zeigt, dass diese "Power-User" keinerlei Gedanken an die möglichen Folgen ihrer Handlungen verwenden und Informationen unabhängig von ihrer persönlichen politischen Gesinnung, also unter Umständen entgegen ihres bekundeten Interesses, teilen, ergibt sich ein, meines Erachtens nach, klares Bild: Wir haben es hier mit einer neuen Form der substanzungebundenen Abhängigkeit zu tun, ausgelöst durch andauernde Konditionierung durch die Belohnungssysteme Sozialer Netzwerke, die unser neurologisches Belohnungszentrum manipulieren.
In Rückgriff auf eine andere Studie, über die der hpd kürzlich berichtete, möchte ich eine letzte Parallele zwischen abhängigem Verhalten und der Verbreitung von Desinformation aufzeigen: die entscheidende Rolle der Prävention. Die Suchtmedizin weiß seit langem, dass Prävention das wirksamste Mittel gegen Süchte darstellt. Wer in jungen Jahren keine Abhängigkeit entwickelt, wird im späteren Leben mit weitaus geringerer Wahrscheinlichkeit süchtig. Vor diesem Hintergrund ist beispielsweise die Tatsache, dass sich 45 Prozent der 18- bis 22-Jährigen in den USA als möglicherweise oder definitiv süchtig nach Sozialen Medien bezeichnen, überaus alarmierend. Der zunehmenden Verbreitung von Desinformation und dem durch Soziale Medien mitverursachten Anstieg psychischer Krankheiten sollte demzufolge ein komplexes Präventions- und Rehabilitationsprogramm entgegengesetzt werden, begleitet von einer Rekonstruktion der grundlegenden Architektur der Plattformen mit dem Ziel, nicht nur bessere Metriken zu finden, sondern per Design keinen schädlichen Einfluss auf die Gesundheit der Menschen ausüben zu können.