Am 11. April 1967 hielt Hannah Arendt in Chicago einen Vortrag unter dem Titel "Revolution und Freiheit". Im Sommer 2017 stellte Arendts Assistent Jerome Kohn einen Text unter dem Titel "Die Freiheit, frei zu sein" aus ihrem Nachlass ins Netz. Er fand ihn ohne Titel und Hinweis auf Entstehungszeit und Verwendung. Das Manuskript dürfte aber in jener Zeit entstanden sein. Nun erscheint es fast zeitgleich in Amerika und in Deutschland in Buchform.
Damals waren es die revolutionären Bewegungen in Afrika und Asien, mit dem Ziel, sich der Kolonialherrschaft zu entledigen, die Hannah Arendt meinte, wenn sie an Revolutionen dachte, deren Faszination sich die Akademikerin nicht zu entziehen vermochte. Es schwingt in dem Text ein Prinzip Hoffnung mit, ein Ton, wie er durchaus charakteristisch ist für die sechziger Jahre.
Hannah Arendt entwirft eine Typologie der Revolution. Was macht eine Revolution aus? Wie kann sie gelingen? Dafür lenkt sie zunächst den Blick zurück. "Revolution" hieß bis ins 17. Jahrhundert "wiederherstellen", und sei es die von Gott verliehene Freiheit. Diese war zunächst eine bürgerliche Freiheit, die Freiheit vor Furcht vor allem. Sie bedeutete nicht die Freiheit, sich an der Regierung zu beteiligen.
Anders war dies bei der Amerikanischen und der Französischen Revolution. Jene gelang, schuf dazu eigene Institutionen und blieb außer Landes weitgehend unbekannt. Die Französische Revolution scheiterte, weil mit ihr die Not der Armen sich auf der Straße vor den Augen aller Bahn brach – was in Amerika nicht geschah, weil man dort die Not der Armut auf die Sklaven abwälzte. In Frankreich führte das gewaltsame Vorgehen gegen die sozialen Verhältnisse dagegen bald zu Terror und Despotie.
Dennoch blieb die Französische Revolution wie ein uneingelöstes Versprechen, dass Freiheit möglich ist. Als Freiheit nicht nur von Not, sondern als Freiheit, frei zu sein. Will heißen, sich ohne Not an der allgemeinen Willensbildung des politischen Geschäfts beteiligen zu können. Sie blieb als Hoffnung, dass ein Neuanfang möglich ist: "Was le peuple, das gemeine Volk, wie man es in Frankreich verstand, in die Revolution einbrachte und was in Amerika völlig fehlte, war die Unwiderstehlichkeit einer Bewegung, die von menschlicher Macht nicht mehr zu kontrollieren war." Zwangsläufig wie die Bewegung der Gestirne am Himmel schien sie.
Die Idee der Freiheit bedurfte aber auch einer gefühlten Erfahrung der Eigenmächtgkeit: "Man hatte das Gefühl: Frei zu sein und etwas Neues zu beginnen, war das Gleiche. Und diese geheimnisvolle menschliche Gabe, die Fähigkeit, etwas Neues anzufangen, hat offenkundig etwas damit zu tun, dass jeder von uns durch die Geburt als Neuankömmling in die Welt trat. Mit anderen Worten: Wir können etwas beginnen, weil wir Anfänge und damit Anfänger sind." So schrieb Hannah Arendt.
Seit Sokrates den Schierlingsbecher trank, wurde immer wieder philosophisches Denken angesichts des Todes gedeutet. Es bedurfte vielleicht einer Frau, die "Geburtlichkeit", wie sie es nennt, als "ontologische conditio sine qua non" in den Fokus der Betrachtung zu rücken. Politik setzt Handeln und Sprechen voraus, wobei Sprechen eine Form des Handelns ist, und letzteres bedeutet immer und überall, etwas in Bewegung setzen, was zuvor nicht so oder nicht da war.
Jeder Mensch ist neu in der Welt. Mit allem, was er tut, verändert er die Welt ein wenig. Jeder gestaltet die Welt mit. Ob er sich dessen bewusst ist oder nicht. Darauf zielen Hannah Arendts Gedanken ab. Das schöne Wort "Erdenbürger" enthält etwas von diesem Wissen.
Selbst im Fall eines Scheiterns kann einem diese Erfahrung nicht genommen werden: "Frei zu sein für einen Neuanfang, woraus der Stolz erwächst, die Welt für einen Novus Ordo Saeculum zu öffnen."
Hannah Arendt warnt, dass die größte Gefahr für die Errichtung einer neuen Ordnung unseres Zeitalters die Armut ist. Blicken wir heute wieder nach Afrika und Asien, erweist sich diese Einschätzung als wahrer denn je.
Hannah Arendt: "Die Freiheit, frei zu sein", mit einem Nachwort von Thomas Meyer, aus dem amerikanischen Englisch von Andreas Wirthinson, dtv München 2018, 63 S. 8,00 Euro