Der Roman von Gerhard Streminger führt in die schottischen Highlands, in ein stilles Tal, dessen fruchtbare Landschaft die Familien jahrhundertelang ernährte. Gelegentlich entspringende Quellen flossen in kleinen Rinnsalen die Abhänge der Berge hinab, vereinten sich in tiefsten Stellen des Tals zu Bächen und diese schließlich zu einem beachtlichen Fluss. Er ist die Energie und zieht die Begierlichkeit, gekleidet in die Worte Fortschritt und Wohlstand auf sich. Das Buch enthält viel mehr Geheimnisse, als ich sie hier benennen könnte.
"Die Fremde" bleibt nicht der geografische Begriff. Sie merken, ich möchte Sie selbst zum Lesen verführen. Die Salzburger Nachrichten wählten "Die Fremde" für den Dezember 2016 zum Buch des Monats.
Das Buch beginnt in Florida. Großmutter MacLeod schreibt in einem Rollstuhl sitzend an ihre Enkeltochter einen ersten Brief. Diese, Enya MacLeod, studiert aktuell in Minneapolis Kunstgeschichte. Eyna ist in den USA geboren, ihre Eltern ebenfalls. In jüngster Zeit hatte Enya sich bei ihren Eltern nach der genauen Herkunft der Familie erkundigt.
Die MacLeods stammen größtenteils aus Schottland. Der Geburtsort der Großmutter ist ein Dorf in den schottischen Highlands, das verlassen werden musste. Der Bau eines Staudamms machte sie zu Vertriebenen. Zu diesem Zeitpunkt war die Briefeschreiberin wohl 15 Jahre alt.
Ein erster von zehn Briefen entsteht
Die heißen Sommertage in denen die meisten Menschen in Florida sich "fast nur fröstelnd in Gebäuden aufhalten, in denen die Klimaanlagen zumeist auf Hochtouren laufen, sind vorüber. Erste tröstende Regentropfen trommeln auf das Dach der Veranda."
"Liebe Enya, ... Wenn Tag und Nacht einander berühren wird mein Geist beweglicher und es fällt mir leichter, von der eigenen Sicht der Dinge loszulassen und andere Perspektiven ernst zu nehmen."
Das eigene Leben der Briefschreiberin führt zurück in deren Kindheit, in die schottischen Highlands, in ein "stilles Tal, mit klarem Licht, in dem sich wegen der Meeresnähe und des vielen Regens staublose Luft ungehindert ausbreiten konnte." Ein Dorf, in dem oft nur auf handtuchbreiten Feldern um das Haus, den sogenannten "rigs", die von einander durch Drainagegräben getrennt waren, auf kargem Boden Gemüse wächst.
Die Dorfgemeinschaft, deren Nähe, Vertrautheit und die Idylle der Menschen mit der Natur, lässt Streminger mit Worten zu Bildern werden. Integriert dabei Gedanken und die Jahrhunderte davor liegender Zeit. Streminger lässt rückblickend die Strukturen der Clans aufleuchten, ursprüngliche Handelswege, relative Armut und Härte des Lebens, durchaus auch von "Wetter-Kapriolen" begleitet.
Enya erfährt von dem Stolz auch einfachster Dorfbewohner, über gemeinsam gemeisterte Schwierigkeiten, die auf generationslangen Erfahrungen doch mit Fleiß, Kreativität, emotionalen Zusammenhalt insgesamt Selbstbewusstsein und Unabhängigkeit bewahren ließen. Das alles wurde "… in Liedern und Balladen besungen. Jene, die einen berühmten Namen trugen oder als Mädchen einen solchen getragen hatten, etwa jenen des Königsgeschlechts der MacDonalds, erfasste oft ein unbändiges Selbstwertgefühl."
Im 2. Brief und 3. Brief erhält Enya Antworten auf ihre ursprüngliche Fragen. Die Großmutter war das vierte und "privilegierte" jüngste Kind der Familie. Den Charakter ihrer Kinder zu formen, so schildert die Großmutter weiter, hatten die Eltern längst aufgegeben, ließen sie, das Kind, ohne Zwang frei gewähren und erfreuten sich an dessen Gedeihen.
Die Geschwister werden benannt: "Mein Bruder Andrew ist sechs Jahre älter als ich, ... Scott fünf und meine Schwester Janet vier Jahre." Der Vater und auch die Mutter nehmen Gestalt an, die Ernährung, der Schulweg, Joy, ein Border Collie, gleichzeitig ihr Spielkamerad. Kälteeinbrüche, Steinkreise aus megalithischer Zeit und andere Orte, in unmittelbarer Nähe des Dorfes, an denen sich kein Alltagsleben abspielte, füllen diese Briefe. "Und so extrem es klingen mag", schreibt sie an ihre Enkeltochter, "an einem geruhsamen Tag entdeckte ich im Moor den Schatten der Dinge. Sobald die Sonne den Tageszenit überschritten hatte, wurden die Schatten, aber nicht die Dinge selbst länger und länger."
Es ist, als höre man die Grasbüschel wachsen, nähme an den Gesprächen der Dorfbewohner und der Familie teil. Rat und Vertraute, Sommer und Winter, Schnee, Nutztiere, die ehemals kreisenden Greifvögel und die jetzigen Krähen tauchen auf, ebenso Steinhäuser und deren Bauweisen. Wie nebenbei werden die Rundhütten früherer Zeit thematisiert. Die Feuerstellen lagen in der Mitte. "Später wurde diese Anordnung als 'nicht schicklich' angesehen und das Feuer an den Rand verlagert mit der Folge, zwei Drittel der wärmenden Energie gingen verloren."
4. Brief: "Das Flüchtlingskind"
Dieser Brief ist ein Rückgriff der Schreiberin in ihre Kinderzeit.
Sie ist 13 Jahre alt: "In einem Randgebiet Europas war Krieg ausgebrochen. Hilfsorganisationen bemühten sich, Kinder aus dem Kriegsgebiet zu evakuieren. Der Entschluss von der Familie war schnell gefasst, für begrenzte Zeit ein Kind aufzunehmen." Darius, kommt an, lernte schnell Englisch. Der erhoffte Spielkamerad, um durch die Landschaft zu streifen, wird er nicht. Darius bleibt für sich und eher schweigsam: "Ich spiele lieber allein unten am Fluss." Dort schichtet er Steine aufeinander, "verklebt" sie mit Erdschichten, betrachtet immer wieder seinen Damm, wirft flussaufwärts Blätter ins Wasser, beobachtet, verändert, baut ihn neu. Er schien "seinen Bau genau so geliebt zu haben, wie wir anderen Kinder im Dorf unsere Plüschtiere." Darius blieb für zehn Monate bei der Familie, dann wechselte er auf eine Schule mit dem Schwerpunkt Technik.
Streminger, in diesem Roman geheimnisvoll wie auch die schottischen Highlands, wählt er einen geläufigen Männernamen. Vielleicht ist es nur das. Darius kommt aus dem Griechischen, ist in verschiedenen Schreibformen im russischen Sprachraum, in Finnland, Frankreich, England, Persien, Polen, Litauen und weiteren Ländern zu finden, in Indonesien gab es einen Bischof mit dem Vornamen Darius.
5. Brief "Bau der Staumauer"
Dieser fünfte Brief gibt Stationen wieder, wie sie in einer solchen Situation denkbar sind.
Eines Tages im Mai. "Nach der Idylle erlebten wir das, was auf uns einbrach, als schreckliche Katastrophe. Es tauchen fremde Menschen auf. Sie begannen, unser Tal zu vermessen und eines Tages wurden die Dorfbewohner zu einer Versammlung in die Kirche gerufen. Ein Bevölkerungszuwachs würde zu einem Engpass der Energieversorgung führen. Es sei vonnöten, am Talschluß einen Staudamm und dahinter ein Kraftwerk zu Stromgewinnung zu errichten. Unser Dorf müsse geflutet werden. Es wird von großzügiger Entschädigung gesprochen."
Die Dorfbewohner erwarten Verständnis, Unterstützung und Hilfe von der "höheren Instanz", dem Herrn Bischof. Diese Person erscheint, um mit ihnen, das "Geheimnis des Glaubens zu feiern" und spricht von "Leiden und Elend dieser Welt, von jüngsten Erdbebenopfern, Hungernden und Dürstenden in Afrika, dem wahren Jammertal dieser Welt." "Jedermann sei Untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es ist keine Obrigkeit ohne Gott. Wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott verordnet." Dieses liest der Bischof von der Kanzel aus dem Römerbrief des Heiligen Paulus, des Begründers des Christentums. Auch betonte "seine Exellenz", er habe Dinge tun müssen, die ihm missfielen, dabei habe er der Weisheit unseres Herren vertraut. Der Bischof verschwindet wieder, die Dorfbewohner lässt er verstört und fragend zurück. Der Zeitpunkt der Räumung vergeht, das Wasser überflutet ein zerschlagenes Dorf. Die Bewohner sind "vertrieben", ihr Abschied erzwungen.
Es ist die Schilderung der 15-jährigen MacLeod-Tochter. Die an Erfahrungen reife, nun in Florida im Rollstuhl sitzende Frau und Großmutter trug die Entscheidung ihrer und anderer Familien mit, Abschied aus dem Dorf, der Heimat ihrer Vorfahren zu nehmen. Dennoch, in einem "Wirrwar von Gefühlen", scheint dieses über "nüchterne Rationalität hinaus zu gehen."
Der Roman und seine Struktur
Das Erlebte allein ist nicht genug. Die ersten fünf Briefe sind ein Teil und die Hälfte vom Ganzen. Für Streminger ist es die Grundlage zur Diskussion. Ein Dorf hatte "zum Wohle der Allgemeinheit" zu weichen. Die Bewohner sind versprengt. Ein Schiff bringt Ausreisewillige nach New York. Die Familie der Protagonistin siedelt sich in einer Kleinstadt an, hier sei zumindest der Himmel frei, ist der Kommentar. "Vor allem anfangs verlor ich in der immer gleichen Umgebung die Bezugspunkte. Es fehlt die Orientierung", ist eine weitere frühe Äußerung der MacLeod-Tochter. Sie zielt über die Beschreibung einer Landschaft hinaus.
Balance zu bewahren ist ein Thema. Auf einer Schaukel, den Sonnenuntergang vor Augen gibt sie sich selbst einen Namen.
Das Motto der MacLeods, "Hold fast" (Bleibe standhaft), der Stolz der Schotten, ihr selbstbestimmter, aufrechter Gang wird zur Grundlage mit der die Zeitzeugin die Wertediskussion aufnimmt zu dem Land, in dem der "Mythos der unbegrenzten Möglichkeiten" aufrecht erhalten wird. Und Diskussion bedeutet in diesem Buch, Vorurteile erkennen und Täuschungen revidieren.
25 Jahre später erreicht die nun 40jährige, - mit einem Amerikaner und Vater ihrer gemeinsamen Kinder Bruce und Anna - verheiratete Frau, eine Einladung aus Schottland: Ihrem Dorf in den Highlands stünde eine Besonderheit bevor: Der angestaute Fluss habe die Staumauer unterlaufen. Reparaturarbeiten machen es notwendig, den Stausee dafür abzulassen.
Sie reist. Sie bleibt zehn Wochen in den Highlands.
Erinnerungen, Diskussionen, Wanderungen lösen einander ab. Alltagssorgen werden nichtig. "Der Wind hat keine Gestalt sondern einen Ton, bei Nebelschwaden ist es genau umgekehrt." "Ist Fortschritt mit dem Leid anderer verbunden?", "Ist Eigennutz die Triebfeder des wirtschaftlichen Fortschritts?", - was ist mit diesem umstrittenen, dennoch unwiderlegten Gedanken von Adam Smith? Was scheint gerechtfertigt – was wird aus eigenem Antrieb heraus gerechtfertigt? Ist Nützlichkeit ein Kriterium oder die Grundrechte vorrangig und was ist mit der Kunst?
Zurückgekehrt nach Minnesota löst sie sich aus Ehe mit dem an der Universität arrivierten Professor und kehrt zu ihrem Geburtsnamen zurück. Ein drittes Kind wird geboren. Es ist Glenn MacLeod, der Vater von Enya.
Zu Gerhard Steminger, Autor des Romans
Über insgesamt zehn Briefe zieht der Streminger seinen Spannungsbogen, jeder von ihnen ist ein Finger zu einer Hand, das lässt der Naturalist in einem Gespräch wissen. In seinem Roman bleibt Gerhard Streminger mit Namen und Daten zurückhaltend. Das ist zu verstehen. Eigene Gedanken der Leser sind ihm willkommen. Zum einen wird jenen Raum gelassen. Zum anderen wurden ungezählt viele Menschen in 108 Ländern durch den Bau von Staudämmen und Talsperren betroffen. Die bedeutendsten und größten Bauten von Afganistan bis Zypern sind gelistet. 30 Talsperren allein zählt Großbritannien. In der Region Sichuan (China) wird aktuell die "größte Talsperre der Welt" gebaut und im Jahr 2023 erstmals Strom erzeugen.
"Aus Strom wird Strom" oder "Wo die Technik dem Wasser trotzt", so locker sind allgemeine Werbespots angelegt. Worte zu der Dramatik der Menschen, die dafür zu gehen haben, sind selten. Dennoch, fast jeder, mit dem ich in den vergangenen Wochen über dieses Buch gesprochen habe, berichtete über eine Talsperre, einen Staudamm oder Gründe, die zur Aufgabe von Ansiedlungen, und Höfen führen, auf deren Räumung bestanden wurde, - selbst wenn das Bauvorhaben letzten Endes doch gestoppt wurde.
Um es nicht zu übergehen, die Gründe für Vertreibung sind vielfältig und treten auch dann ein, wenn Menschen für den sogenannten Wohlstand mehrerer zu weichen haben.
"Die Fremde" ist Gerhard Stremingers zweiter Roman, erschienen ist er im Oktober 2016. Zuvor veröffentlichte er wissenschaftliche Werke. Dieser Roman ist so direkt mit seinem Wissen, seiner Ethik und Lebensphilosophie verbunden ohne biografisch zu sein. Ich möchte Sie miteinander bekannt machen.
Prominent ist Gerhard Streminger in einem ganz speziellen wissenschaftlichen Segment und seine zuvor veröffentlichten und viel besprochenen Werke.
Der heute gut 60-jährige, in der Steiermark lebende Philosoph und Autor fand Anerkennung durch seine Arbeiten zu David Hume, dem schottischen Philosophen, Ökonom, Historiker und "einem der bedeutendsten Vertreter der schottischen Aufklärung". Übersetzungen und Bearbeitungen aus der "Feder" von Streminger zu Adam Smith führten ebenfalls zu einem Standardwerk. Es wird 2017 neu aufgelegt.
Streminger wurde 1952 in Graz geboren, zu dieser Zeit unterlag die Stadt der Britischen Besatzung. Österreich war nach dem 2. Weltkrieg ebenso wie die Hauptstadt Wien in vier Zonen geteilt. Ein anglophile Inspiration mag somit bei Gerhard Streminger angelegt sein. Streminger studierte Philosophie und Mathematik in Graz und Göttingen, in Edinburgh und Oxford. Er promovierte. 29-jährig lehrte er als Visiting Professor an der University of Minnesota in Minneapolis. 1994 war die Ernennung zum tit. ao. Universitätsprofessor.
Seine Homepage eröffnet Streminger mit einem Statement, geradezu einer Homage an Schottland: Es sind drei Fotografien: 1. Eine Landschaft, der Sonnenuntergang in den Highlands. Es folgt 2. das Portrait von Adam Smith (1723 – 1790), der u. a. für die These steht: „Triebfeder des wirtschaftlichen Fortschritts ist der Eigennutz“ und 3. David Hume (1711 – 1776). Zu Hume setzte Streminger das Zitat: "Bleib nüchtern und vergiss nicht, skeptisch zu sein …".
29 Werke des Philosophen hat die Deutsche Nationalbibliothek registriert.
"Die Fremde" ist wie ein Trichter über den sein Wissen, seine Erkenntnisse in Beschreibungen und seiner besondere Kunst, Buchstaben zu Bildern zu wandeln, angekommen sind. Ich vermochte mich nicht zu entziehen, im Gegenteil. Auf einer kürzlichen Reise durch Schottland zog ich eine Schleife um in den Highlands einen Staudamm zu suchen, der in jener Zeit entstanden ist und auf dessen Grund ein Dorf versunken zurückgeblieben ist. Ich konnte Loch Mullardoch, den aufgestauter See in den schottischen Highlands besuchen. Er liegt im nahezu unbewohnten Tal Glen Cannich etwa zwölf Kilometer westlich des Ortes Cannich.
"Die Fremde", der Fremde, das Fremde – anfänglich und flüchtig gedacht, nahm ich ein mögliches Wortspiel an. Auch Flüchtlinge kamen mir in den Sinn. Streminger spielt mit dem Titel des Buches . "Die Fremde" als geografischer Begriff löst sich erst weit in der zweiten Hälfte des Buches auf und anders als von mir gedacht. Es bleibt nicht der geografische Begriff.
"Die Fremde" ist eine Parabel, ein Schlüsselroman auf die Postmoderne zur Geschichte der Highlands.
Eine Anmerkung des Autoren im Schutzumschlag: "Für diese Arbeit habe ich ein wenig in der Auswanderer- und Vertriebenen-Literatur recherchiert. Die schiere Quantität ist erschreckend und völlig unüberschaubar. Sehr hilfreich fand ich die Bücher von John Prebble."
Gerhard Streminger, Die Fremde, 1. Auflage 2016. Verlag Baumüller Wien, ISBN 978-3-99200-162-0
1 Kommentar
Kommentare
Hans Trutnau am Permanenter Link
Auch weil ich selbst eine gewisse Beziehung zu Schottland habe:
Der Bericht macht Lust aufs Lesen!