Darf der Begriff "Selbstmord" noch verwendet werden?

Für die Entscheidung, das eigene Leben aus freien Stücken zu beenden, sind in der deutschen Sprache verschiedene Begriffe gebräuchlich: Selbsttötung, Suizid oder Selbstmord. Warum "Selbstmord" zur Umschreibung einer eigenverantwortlichen Selbsttötung jedoch kein geeigneter Begriff ist, erläutert Ludwig A. Minelli.

In der Tagesschau von 17:00 Uhr vom Mittwoch, 19. Juni 2019, wurde gegen Ende der fünfzehnminütigen Sendung darüber berichtet, dass der Revolver, aus welchem der Schuss kam, der das Leben von Vincent van Gogh beendete, von einem Unbekannten in Paris für den Preis von 162.500 Euro ersteigert worden sei. Der Tagesschausprecher Claus-Erich Boetz­kes fügte an: "Bis heute ist ungeklärt, ob van Gogh tatsächlich Selbstmord beging."

Am Freitag, 21. Juni 2019, 01:49 Uhr, sandte ich Claus-Erich Boetzkes das folgende E-Mail:

"In der Tagesschau vom 17:00 Uhr am Mittwochabend, Minute 14, hiess es, man wisse noch heute nicht, ob Vincent van Gogh 'Selbstmord' begangen habe.

Das Wort sollte im deutschen Wortschatz mit einer Ausnahme absolut verboten sein: zulässig nur noch bei Selbstmord-Attentätern. Nur bei diesen sind die negativen Qualifikationen vorhanden, die mit dem Begriff 'Mord' verbunden sind. Das Wort ist von Martin Luther geschaffen worden; ganz auf der Grundlage des Denkens wie bei Augustinus, dem laufend Aktiven in der Bilanz fehlten, weil viele einfache Leute – wohl meist Sklaven oder sonst Unfreie – den vorzeitigen Tod dem Leben vorgezogen haben.

Mittlerweile gibt es drei bedeutende Gerichte in Europa, welche Suizid als Menschenrecht verstehen: das Schweizerische Bundesgericht (2006) in BGE 133 I 58; der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg in seinem Urteil Haas gegen die Schweiz vom 20. Januar 2011 und das deutsche Bundesverwaltungsgericht in seinem Entscheid in Sachen Koch gegen Deutschland vom 2. März 2017.

Langsam fällt – endlich! – das Suizid-Tabu. Dem müssen wir die Sprache anpassen. Ein Suizid wird gewählt, nicht 'begangen'; begehen bezieht sich in einem solchen Zusammenhang auf ein Delikt, was bei der Selbsttötung jedenfalls in Deutschland seit Friedrich II. von Preussen nicht mehr der Fall ist.

Eigentlich gehören diese Hinweise in das Sprachhandbuch der Tagesschau."

Um 11:48 Uhr desselben Tages antwortete Claus-Erich Boetzkes darauf:

"Ihrer stringenten Argumentation kann ich mich nicht entziehen. Sie haben Recht, ich werde in Zukunft sprachlich sensibler mit dem Thema umgehen.

Herzlichen Dank für Ihren Hinweis!"

Das gilt nicht nur für die Tagesschau; es gilt für sämtlichen Sprachgebrauch, sowohl in den Medien als auch in Gesprächen unter Menschen. Weshalb?

In der Verwendung der Begriffs "Mord", der im Wort "Selbstmord" enthalten ist, steckt die implizite Intention, Suizid begrifflich möglichst nahe an das schlimmste Verbrechen, welches unter Menschen verübt werden kann, heranzurücken. Beides soll gleicherweise verabscheuungswürdig sein. Dies war die Absicht Martin Luthers, als er den Begriff des Selbstmords geschaffen hat. Der Mord-Paragraph § 211 StGB des deutschen Strafrechts definiert einen Mörder als besonders abscheuliche Person, welche

" ... aus Mordlust, zur Befriedigung des Geschlechtstriebs, aus Habgier oder sonst aus niedrigen Beweggründen, heimtückisch oder grausam oder mit gemeingefährlichen Mitteln oder um eine andere Straftat zu ermöglichen oder zu verdecken, einen Menschen tötet."

Seither hat die Aufklärung, beginnend im 18. Jahrhundert, die Selbsttötung dem Strafrecht zunehmend entzogen. Friedrich II. von Preussen, genannt "der Große", gab dazu seinerzeit den Anstoss. In der mündlichen Verhandlung vor dem Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe am 16. und 17. April 2019, die im Zusammenhang mit den Verfassungsbeschwerden gegen den vom Bundestag geschaffenen § 217 StGB des Strafgesetzbuches – "Geschäftsmäßige Förderung der Selbsttötung" – abgehalten wurde, wiesen die Richter verschiedentlich darauf hin, dass jeder Mensch aufgrund des Deutschen Grundgesetzes das Recht habe, selbst zu entscheiden, ob er sein eigenes Leben vorzeitig beenden wolle. Somit handle es sich dabei um ein sogenanntes "Grundrecht". Auch der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in seinem Urteil Haas gegen die Schweiz am 20. Januar 2011 festgestellt, es wäre

"... das Recht eines Individuums, zu entscheiden, auf welche Weise und in welchem Zeitpunkt sein Leben beendet werden soll, sofern es in der Lage ist, seine diesbezügliche Meinung frei zu bilden und dem entsprechend zu handeln."

Wer die Inanspruchnahme eines Grundrechts mit einem "Mord" gleichstellt, stellt sich außerhalb der geltenden Rechtsordnung. Er muss sich vorwerfen lassen, dass er das Tabu des Suizids aufrechterhalten will. Dies lässt sich insbesondere dort feststellen, wo sich kirchlich Gebundene, insbesondere Pfarrherren und Bischöfe, dazu äußern; also nicht selten in anderen Bereichen hochintelligente Personen mit universitärer Formalbildung. Das zeigt, wie das Tabu des Suizids dort nachwirkt. Um es mit den Worten Arthur Schopenhauers zu sagen:

"So stark ist die Gewalt früh eingeprägter religiöser Dogmen, dass sie das Gewissen und zuletzt alles Mitleid und alle Menschlichkeit zu ersticken vermag."