Nach dem Anschlag von Berlin

Grünen-Innenexpertin Mihalic warnt vor falschen Konsequenzen

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Im Fall des Attentäters vom Berliner Breitscheidplatz, Anis Amri, warnt die Grünen-Innenexpertin Irene Mihalic den Gesetzgeber vor voreiligen Konsequenzen. Um effektiv für mehr Sicherheit zu sorgen, müsse man die vielen vorhandenen Ansatzmöglichkeiten ausschöpfen, sagte die Bundestagsabgeordnete in einem Interview.

Frau Mihalic, die Grünen sind nicht gerade als Vorreiter für Innere Sicherheit bekannt - dem Thema, das die öffentliche Debatte derzeit noch mehr beherrscht als sonst. Ein Manko im Wahljahr 2017?

Irene Mihalic: Nein. Diejenigen, die vorgeben, die Vorreiter bei der Inneren Sicherheit zu sein, haben ja auf dieser Ebene völlig versagt. Seit fast zwölf Jahren hat die Union die Verantwortung für die Innenpolitik im Bund und damit auch alle Missstände sowohl bei der Personaldecke als auch bei der Ausstattung der Sicherheitsbehörden des Bundes zu verantworten. Wer die Arbeit der Bundestagsfraktion der Grünen kennt, weiß, dass wir das Thema Innere Sicherheit sehr ernst nehmen und da auch gut aufgestellt sind. Auch wenn es nicht zu unseren Kernthemen gehört, müssen wir uns dabei nicht verstecken, und wir ducken uns da auch nicht weg. Wir haben schon im vergangenen Mai umfangreiche Vorschläge für eine Reform der Sicherheitsbehörden gemacht und auch jetzt auf unserer Fraktionsklausur ganz konkret aufgeschrieben, wie wir nach dem Anschlag auf dem Breitscheitplatz für mehr Sicherheit sorgen wollen. 

Irene Mihalic, Wikimedia,  CC BY-SA 3.0
Irene Mihalic, Wikimedia, 

CC BY-SA 3.0

Dazu gehört, Gefährder rund um die Uhr zu überwachen. Das wird nicht gerade billig...

Das wird nicht billig, aber Sicherheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Natürlich kann man nicht 550 islamistische Gefährder, 130 rechtsextremistische und 136 linksextremistische rund um die Uhr überwachen. Dafür brauchen Sie bei einem Gefährder rund 30 Beamte; das wird nicht gehen. Wir unterstützen aber alle Maßnahmen in den Sicherheitsbehörden, Gefährder-Bewertungen vorzunehmen, um zu priorisieren. Das Bundeskriminalamt entwickelt derzeit eine Systematik, um die Top-Gefährder herauszufiltern. Wenn wir dann eine Handvoll solcher Top-Gefährder haben, muss es möglich sein, die tatsächlich rund um die Uhr zu überwachen.

Es gibt jetzt viele Vorschläge für schärfere Sicherheitsmaßnahmen. Kommen Bürgerrechtsbedenken da unter die Räder?

Wir haben einen anderen Zugang zum Thema Innere Sicherheit, als es Union und SPD haben. Wenn irgendwo etwas passiert ist, fragt bei der Union, aber auch bei der SPD selten jemand, wie das passieren konnte, sondern es wird immer gleich gesagt: Jetzt brauchen wir ein schärferes Gesetz. Da kommt dann alles, was in der Mottenkiste gut aufgehoben war, plötzlich auf den Tisch - ohne Ansehen der Fakten. Für uns Grüne steht der dagegen der liberale Rechtsstaat im Vordergrund. Das ist die Geschäftsgrundlage, auf der wir agieren. Und wir wollen effektive Maßnahmen, mit denen wir die Sicherheit erhöhen. Bürgerrechte dürfen dabei nicht unter die Räder kommen. Das heißt für uns, bestehende Rechtsgrundlagen auszuschöpfen - da scheint es einen Mangel zu geben wie jetzt auch wieder im Fall Amri - und die Sicherheitsbehörden personell als auch materiell so gut auszustatten, dass sie ihre Arbeit tun können. Und wir wissen, dass es viele Faktoren gibt, die zu Kriminalität oder zu Anschlägen führen. Wir müssen also auf mehreren Baustellen aktiv werden.

Zu den Vorschlägen, auf die sich jetzt der Bundesinnenminister mit dem Justizminister geeinigt hat, zählen erleichterte Voraussetzungen für die Abschiebehaft, ein neuer Haftgrund für Gefährder…

Das führt uns nicht zum Ziel. Das Aufenthaltsrecht ist kein Terrorabwehrrecht. sondern regelt den Aufenthalt von Menschen in Deutschland. Es hat mit Terrorismusbekämpfung nichts zu tun. Auch hat mehr als die Hälfte der rund 550 Gefährder aus dem Bereich Islamismus einen deutschen Pass - die erreicht man mit solchen Maßnahmen überhaupt nicht. Natürlich kann man über solche Dinge nachdenken, aber die Frage muss doch sein: Wie schaffen wir es zu verhindern, dass ein Gefährder Anschlagspläne verwirklichen kann. Da spielt das Aufenthaltsrecht nur am Rande eine Rolle, denn deutsche Gefährder erreichen wir damit nicht.

Bei Gefährdern vermutet man eine Terrorgefahr, ohne dass unbedingt bereits eine Straftat vorliegt; schon macht das Wort "Präventivhaft" die Runde. Gilt da nicht die Unschuldsvermutung?

Selbstverständlich. Wir sind hier ja nicht in Guantanamo. Wir können Menschen nicht aufgrund der Gesinnung oder weil sie sich unter noch so zwielichten Umständen treffen, in Haft nehmen. Wer soll denn darüber entscheiden? Wie lange soll diese Haft gelten? Das geht weit über den Rechtsstaat hinaus und ist mit uns auch nicht zu machen. Man muss die vielen vorhandenen Ansatzmöglichkeiten ausschöpfen, um effektiv für mehr Sicherheit zu sorgen. Im Fall Amri sind trotz weitreichender Befugnisse sowohl der Sicherheits- als auch der Ausländerbehörden viele Dinge nicht gemacht worden, die man hätte machen können. Wir haben es in Bezug auf die Terrorgefahr in Deutschland eher mit einem Vollzugsproblem zu tun, aber nicht mit einem Gesetzgebungsproblem. Ich muss doch keine neuen Rechtsgrundlagen schaffen, wenn ich die bestehenden nicht einmal ausschöpfe.

Das gilt auch für den Vorschlag, Fußfesseln für Gefährder einzuführen?

Richtig. Jetzt werden im Lichte des verheerenden Anschlags auf dem Breitscheidplatz Maßnahmenvorschläge unterbreitet, die diesen Anschlag überhaupt nicht verhindert hätten. Mit einer Fußfessel hätte man sehen können, dass sich Anis Amri auf dem Breitscheidplatz aufhält, aber nicht, was er dort macht. Der Islamist, der im vergangenen Jahr in Frankreich diesen schrecklichen Mord an einem Priester beging, trug eine Fußfessel. Das sind für mich Placebo-Maßnahmen zur Beruhigung der Öffentlichkeit, die aber nicht zu mehr Sicherheit beitragen. Vordringlich brauchen wir jetzt Aufklärung im Fall Amri: Es ist jetzt schon ziemlich offensichtlich, dass es ein multiples Behördenversagen sowohl bei den Ländern als auch beim Bund gegeben hat. Das müssen wir haarklein aufarbeiten, denn den nächsten Anschlag können wir nur verhindern, wenn wir wissen, was im Fall Amri schiefgegangen ist.

Also erst aufklären, dann Konsequenzen ziehen? Und wenn in der Zwischenzeit wieder etwas geschieht?

Deswegen müssen wir schnell aufklären. Wir haben ja über verschiedene Möglichkeiten der Aufklärung gesprochen, auch ein Untersuchungsausschuss wurde genannt. Das können wir natürlich machen, nur kämen wir dann erst in einigen Monaten zu Ergebnissen. Wir Grüne haben eine Kleine Anfrage zu dem Fall gestellt und behalten uns auch vor, weitere Sondersitzungen des Innenausschusses zu beantragen, um schnell Aufklärung in die Sache zu bringen. Jetzt soll eine Task Force des Parlamentarischen Kontrollgremiums eingerichtet werden. Die tagen aber geheim; die Breite des Parlaments und die Öffentlichkeit wird also nicht darüber informiert, was die herausfinden. Das können wir so nicht akzeptieren. Wir brauchen Antworten, und zwar jetzt. Die Bundesregierung hat es in der Hand, die Karten auf den Tisch zu legen. Wenn wir jetzt die Antworten bekommen, wissen wir auch, welche Konsequenzen gegebenenfalls zu ziehen sind.

Das heißt, einen Untersuchungsausschuss halten Sie für das falsche, weil zu langsame Instrument?

Nein. Wir brauchen ein abgestuftes Verfahren. Alles, was jetzt beantwortet werden kann, muss jetzt beantwortet werden. Wenn wir da nicht weiterkommen mit den parlamentarischen Mitteln, die wir haben, brauchen wir selbstverständlich einen Untersuchungsausschuss. Ich erhoffe mir aber, dass wir das nicht brauchen, sondern vorher die Antworten auf unsere Fragen bekommen, damit wir wissen, wo Konsequenzen zu ziehen sind. Sonst ziehen wir am Ende die falschen Konsequenzen oder treffen Maßnahmen, die nichts nutzen. Damit ist der Sicherheit nicht gedient.

Das Interview wurde von der Wochenzeitschrift "Das Parlament" geführt.