Ist es wichtig, darüber aufzuklären, dass es (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott gibt?

Die hpd-Gottesfragen-Challenge – Teil 1

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Nicht-religiöse Menschen sind keine gleichförmige Masse, sondern vertreten eine Vielzahl von unterschiedlichen Meinungen – in politischen und gesellschaftlichen Fragen, ja sogar was den Kernbereich des "Nicht-Glaubens" betrifft. Der hpd hat es sich zur Aufgabe gemacht, diese Meinungsvielfalt abzubilden. Als jüngst im Rahmen unserer redaktionellen Arbeit kontrovers darüber diskutiert wurde, ob es wichtig sei, darüber aufzuklären, dass es (mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit) keinen Gott gibt, fiel der Entschluss, die unterschiedlichen Standpunkte für die Leserinnen und Leser des hpd abzubilden. Die Kontrahentinnen der Gottesfragen-Challenge: Die stellvertretende hpd-Chefredakteurin Daniela Wakonigg und hpd-Kolumnistin Ursula Neumann.

Für mich ist es eine belanglose Frage, ob es "Gott" gibt. Ich glaube eher nicht, und wenn doch, dann ist er/sie/es vermutlich ziemlich anders, als TheologInnen zurechtfantasieren. Aber – wie gesagt – für mich ist das belanglos, in meinem Leben würde sich nichts ändern, nicht mal mein Schokoladenverbrauch. Wie mir geht es der Mehrzahl der Menschen, ob sie sich gläubig oder nicht gläubig nennen. Manchmal bekomme ich den Eindruck, AtheistInnen gehörten zu den wenigen, die "Gott" noch ernst nehmen.

Wie komme ich zu dieser Einschätzung? Seit über dreißig Jahren lebe ich in Oberkirch. Man darf mir glauben, dass damals Nomen Omen war. In den Achtzigern wehrten sich die Neumanns gegen das Gebet zu Beginn des Schulunterrichts. Die Vorsitzende des Elternbeirats: "Wir Eltern finden es gut, dass in der Schule gebetet wird, wissen Sie, zuhause kommen wir nicht dazu." Die unfreiwillige Komik dieses Satzes entging ihr – und alle Eltern fühlten sich als Defensores fidei.

2002 – das ist auch schon eine Weile her – schrieb ich einen Artikel "Vom Gottvertrauen zum Selbstvertrauen". Ich hatte drei Monate in der Therapie akribisch jede Äußerung von PatientInnen mitstenografiert, die im weitesten Sinn etwas mit Religion zu tun hatte. Die Ausbeute war sehr mager. "Religiöse" Aussagen betrafen mehrheitlich Probleme wie die Auswahl des Restaurants für die Erstkommunionsfeier. Glaubensfragen spielten nur bei zwei Menschen eine Rolle, die sich mit einer schlimmen religiösen Erziehung auseinandersetzten. Übers Beten ist mir lediglich eine Äußerung erinnerlich: "Wenn ich keinen Parkplatz finde, bete ich zu meinem Engel – dann finde ich einen." Dass solches selbst im Vatikan nicht als Wunder anerkannt würde, wird mir jeder zubilligen, der die hiesigen Parkverhältnisse kennt.

Aber auf die Frage "Glauben Sie an Gott?", dürften alle geantwortet haben "Ja, irgendwie schon. Es muss doch was Höheres geben...", einige hätten sich auf den christlichen Gott besonnen. (Wobei man da besser nicht genauer nachfragt, sonst stolpert man von einem dogmatischen Loch ins nächste.) Auch wenn "Gott" im Alltag schon lange weniger präsent ist als der FC Bayern München, würden die meisten verständnislos auf die Frage reagieren, wieso sie nicht konsequenterweise aus der Kirche austreten. Alltägliche Gott-losigkeit und Besuch der Christmette lassen sich ohne kognitive Dissonanz verbinden.

Allzu engagierte AtheistInnen sollten aufpassen, dass sie nicht denselben Affekt auslösen wie jene Leute, die im Doppelpack an der Haustüre klingeln, vom Nahen des Reiches Gottes künden – was könnte es Wichtigeres geben! – und auf dem Herd steht das Gulasch.

Ich kenne keine belastbare Untersuchung, weshalb Menschen ihrer Religionsgemeinschaft den Rücken kehren. Das wäre aber wichtig zu wissen, sonst vergeudet man Kraft und Zeit und erreicht nichts und niemanden. Ich bin bereit zu wetten, dass die Gottesfrage bei den Austrittsgründen nicht unter die Top Ten käme. Viele dürften im Gegenteil auch nach dem Verlassen ihrer Religionsgemeinschaft versichern, sie glaubten trotzdem an "Gott" oder irgendwie so was.

Die Frage "wozu zahle ich eigentlich noch Vereinsbeitrag?" steht in der Regel am Ende der tagtäglichen Erfahrung, dass kirchliche Organisationsformen (vom CVJM bis zur katholischen Frauengymnastik, die es hier tatsächlich gab) ihr Quasi-Monopol und damit ihre Bindungs- und Ausgrenzungsmacht verloren haben, oder dass im eigenen Umfeld die Aussicht, nicht kirchlich getraut oder beerdigt zu werden, keinen Schrecken mehr einjagt. Es gibt Alternativen! Wenn dann noch ein Auslöser dazu kommt, etwa ein kirchlicher Skandal, schlechte Erfahrung mit dem Kirchenvertreter vor Ort, eine ärgerliche kirchliche Verlautbarung, wird der überfällige Schritt getan. Die Gottesfrage in den Vordergrund zu stellen, heißt meiner Meinung nach, das Pferd am Schwanz aufzäumen.

Was mich immer wieder frappiert, ist der Glaube vieler AtheistInnen an die Macht vernünftiger Argumente. Dabei sind selbst bei im strikten Sinn "wissenschaftlich beweisbaren Fakten" Vernunftgründe höchstens die halbe Miete: Es gibt Leute, die halten den Klimawandel für eine Erfindung Chinas oder erhoffen davon, dass Weinanbau in Dänemark möglich wird. Fast allen Rauchern ist bewusst, dass Rauchen schädlich ist. Sie rauchen weiter. Das heißt: Selbst wenn man an jede Kirchentür ein Schild hängen würde "Vorsicht! Gottesdienstbesuch könnte Ihrer Intelligenz schaden" – wen würde das abhalten?

Dieses Jahr wurde der Wirtschaftsnobelpreis an Prof. Thaler vergeben für die außerhalb seines Faches längst als Banalität gehandelte Erkenntnis, dass der homo oeconomicus keineswegs vernünftig handle, sondern seine Entscheidungen unter anderem von "sozialen Präferenzen" und "eingeschränkter Rationalität" geprägt seien. Wenn das schon beim Staubsauger kaufentscheidend ist, wie dann erst bei der – wenn man sie ernst nimmt – existentiell und emotional bedeutsameren Gottesfrage? "Das Herz hat seine Gründe, die der Verstand nicht kennt." – Was will man da sagen? 

Bernd Kammermeier schilderte 2016, wie ihm Theologen herzlich Beifall spendeten, als er gegen die Existenz Gottes argumentierte. Das ist nicht verwunderlich:  Er/sie/es ist reichlich schillernd – oder um mal nicht Feuerbach, sondern einen Tatort-Titel zu zitieren: "Gott ist auch nur ein Mensch" (Für diese Blasphemie hätte der Sender noch vor zwanzig Jahren böse Briefe von offizieller Seite kassiert). Mit "Gott" kann ich Terrorismus und Pazifismus rechtfertigen, Sklaverei und Todesstrafe genauso wie deren Abschaffung, Pflicht zum Gehorsam und Pflicht zum Widerstand. "Gott" kann rechts, links, liberal sein. Deshalb ist es locker möglich zu sagen "diesen Gott, von dem du sprichst, den gibt es natürlich nicht, da sind wir völlig einig. Aber meiner ist ganz anders." Oder theologischer: "Gott übersteigt menschliches Denken so sehr, dass Irrwege, Verzerrungen bei seiner Erkenntnis unvermeidbar sind. Aber heute begreifen wir besser und tiefer als früher". Nagle mal einen Pudding an die Wand! 

Warum wollen AtheistInnen Gottgläubige überzeugen? Das Motiv – so will ich doch hoffen – ist der Kampf gegen Unrecht, Unterdrückung und Unmenschlichkeit, die im Namen "Gottes" geschehen. Oder will jemand mit dem Befreiungstheologen, der Bauern gegen Großgrundbesitzer unterstützt, über Gott zu diskutieren anfangen? Der Organisatorin einer Suppenküche, die aus ihrem christlichen Glauben heraus handelt, erklären, dass sie zwar was Richtiges täte, aber mit falscher Begründung?

Entscheidend ist für mich der Kampf gegen Unrecht, Unterdrückung und Borniertheit. Die, die dabei mitmachen, betrachte ich als Verbündete, vorausgesetzt, sie bestehen nicht darauf, dass ihre weltanschauliche Begründung die einzig wahre und mögliche sei.

Zur Unterdrückung braucht es keinen "Gott". Dafür taugen genauso schillernde Begriffe wie etwa "Gemeinwohl", "Familiensinn", "Fortschritt" nicht minder. Die Beispiele real existierender "atheistischer" Staaten überzeugen mich nicht, dass Atheismus automatisch mit der Respektierung von Menschenrechten und Menschenwürde einherginge. Das digitale Überwachungssystem, das derzeit im atheistischen China aufgebaut wird, hätte die heilige Inquisition vor Neid grün werden lassen. Ich kann nur bitten, sich kundig zu machen: Gegenüber diesem Horrorszenario, das in der einen oder anderen Weise auch auf uns zukommt, ist die Gottesfrage eine Petitesse.

Noch eins zur speziellen Situation der Kirchen in Deutschland: Nehmen wir an, die Nichtexistenz "Gottes" wäre zweifelsfrei nachgewiesen. Wer jetzt glaubt, am nächsten Tag träte der Bundestag zusammen, um alle Dotationen und Vorrechte der Kirchen zu streichen, der irrt. Zunächst würden diese darauf verweisen, dass die Verträge nicht mit dem lieben Gott, sondern mit ihnen geschlossen worden seien und daher weiterhin gültig. Dann würde argumentiert mit "Weltkulturerbe", "Wertevermittlung", "sozialer Bedeutung" oder was weiß ich – und es ginge viel Zeit ins Land.

Zum guten Schluss: Als wir nach Oberkirch kamen, hing in der Metzgerei zwischen Schinken und Würsten der Gekreuzigte. Einige Jahre später wurde renoviert. Das Kreuz war weg. Ich vermute, das hat außer mir kaum jemand registriert. Vor kurzem war wieder eine Renovierung fällig. Wo einst das Kreuz hing, prangt jetzt ein riesiger Stierkopf aus Metall.

Wollen wir uns wirklich um die Deko streiten? Es geht um die Wurst!