Der in Harvard lehrende Literaturwissenschaftler Martin Puchner wagt in seinem Werk "Kultur. Eine neue Geschichte der Welt" nicht weniger als eine Neuschreibung der Globalgeschichte – jedoch nicht entlang der gewohnten politischen oder wirtschaftlichen Linien, sondern durch die Linse der kulturellen Transferprozesse. Sein zentrales Argument: Kultur entsteht nicht aus Abgrenzung, sondern aufgrund von Durchlässigkeit. Nicht Identität, sondern Aneignung ist ihr Motor.
Mit einer beeindruckenden Erzählkraft spannt Puchner den Bogen von altägyptischen Ikonen wie Nofretete über den indischen Herrscher Ashoka bis hin zu Hildegard von Bingen und der haïtianischen Aufklärung. Dabei zeigt er, wie entscheidend die bewusste oder unbewusste Übernahme fremder Praktiken, Ideen und Ausdrucksformen für das war, was wir als "eigene Kultur" begreifen.

So beleuchtet er etwa, wie der radikale Monotheismus des Pharaos Echnaton möglicherweise Spuren im entstehenden Judentum hinterließ, oder wie der chinesische Mönch Xuanzang, entgegen aller Vorschriften, nach Indien reiste, um buddhistische Originaltexte ins Chinesische zu übertragen – und so einen zentralen Beitrag zur kulturellen Identität Ostasiens leistete. Selbst das christliche Klosterleben in Europa wird als Echo auf ältere buddhistische und ägyptisch-asketische Traditionen sichtbar, die über Umwege und Jahrhunderte hinweg adaptiert wurden.
In diesem Geist begibt sich Puchner mit erzählerischer Eleganz und intellektueller Schärfe auf eine globale Spurensuche: Wie religiöse Ideen wandern, wie künstlerische Stile sich vermischen, wie revolutionäre Gedanken um die Welt reisen. Ob im alten Ägypten oder im modernen Karibikstaat – überall stößt er auf das Prinzip der Weitergabe, der kreativen Übernahme und der Umdeutung fremder Formen zu neuen Ausdrucksweisen.
So wird etwa die religiöse Rastafari-Bewegung auf Jamaika nicht als isolierte Erfindung einer postkolonialen Subkultur dargestellt, sondern als bewusste Rückbindung an das äthiopische Kaiserreich. Der Glaube an Haile Selassie als Messias speist sich aus der Rezeption abessinischer Königssymbolik – und ist zugleich Ausdruck afro-diasporischer Selbstermächtigung. Puchner zeigt: Kultureller Widerstand entsteht nicht regional, sondern lebt im Austausch über Kontinente hinweg.
Nicht minder eindrucksvoll ist seine Analyse der Revolution von Saint-Domingue – der heutigen Republik Haïti. Dass sich die aufständischen Sklaven in den 1790er Jahren auf die Werte der französischen Aufklärung beriefen, erscheint nicht als Widerspruch, sondern als subversiver Akt kultureller Aneignung: Die Prinzipien von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit wurden von jenen eingefordert, die im Ursprungsland dieser Werte – und von dessen kolonialen Repräsentanten – weiterhin als Eigentum behandelt wurden. Aus der Peripherie heraus formierte sich so ein machtvoller moralischer Einspruch gegen die blinden Flecken der europäischen Aufklärung. Dass Haïtis Unabhängigkeit schließlich an der rassistischen Engstirnigkeit Europas und der USA scheiterte, ist wieder ein anderes Thema.
Puchners Buch ist in diesem Sinne ein leidenschaftliches Plädoyer gegen kulturelle Abschottung und für einen ehrlichen Blick auf die komplexen Verflechtungen, ohne die keine Kultur geworden wäre, was und wie sie ist. Der europäische Humanismus verdankt seine Wiedergeburt nicht dem "eigenen Geist", sondern der intellektuellen Vermittlungsarbeit arabischer Gelehrter, die das antike Wissen über Jahrhunderte bewahrten, übersetzten und kommentierten. Ohne diese kulturelle Weitergabe wären weder Erasmus noch Kant noch Goethe denkbar. Für Puchner steht fest: "Die europäische und die islamische Geschichte und Geisteswelt sind untrennbar miteinander verflochten. Sie in heutiger Zeit auseinanderdröseln zu wollen, wäre vollkommen sinnlos."
Puchners Zugriff unterscheidet sich wohltuend von klassisch-eurozentrischen oder zivilisationsgeschichtlich verengten Modellen. Er verzichtet auf Hierarchien und Fortschrittserzählungen, betont stattdessen die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, die fruchtbare Spannung zwischen Eigenem und Fremdem. Was andere als "kulturelle Vermischung" mit skeptischem Unterton bezeichnen, wird bei ihm zum zentralen Antrieb der Menschheitsgeschichte.
Dabei schreckt der in Erlangen geborene Puchner auch vor provokanten Deutungen nicht zurück. Besonders scharf ist seine Kritik an heutigen Kulturpuristen – egal ob in westlichen Identitätsdiskursen oder in fundamentalistischen Milieus. Sie alle, so seine These, verkennen die produktive Unreinheit jeder Kultur. Wer die "eigene" Tradition gegen Einflüsse von außen abzuschotten versucht, beraubt sich selbst der schöpferischen Energie, die Kultur überhaupt erst möglich macht. "Kulturelle Reinheit", so Puchner, sei ein Mythos – und ein gefährlicher obendrein.
"Kultur" ist ein gelehrtes, zugleich leidenschaftlich geschriebenes Buch – ein Manifest gegen kulturelle Abschottung und identitäre Verengungen. In einer Zeit, in der "nationale Identität" wieder zur Parole wird, erinnert Puchner daran, dass nicht die Abgrenzung Kulturen stark macht, sondern die Fähigkeit zur Öffnung, zur Aneignung, zur Integration anderer Ideen. In dieser produktiven Vermischung liegt ihre Stärke und ihr schöpferischer Kern – und vielleicht auch ihre größte Hoffnung.
Martin Puchner, Kultur. Eine neue Geschichte der Welt, Stuttgart 2025, Klett-Cotta-Verlag, 428 Seiten, 35,00 Euro, ISBN: 978-3-608-96659-6






