Selbstbestimmung gilt in der säkularen Szene als wichtiges Ziel und hoher Wert. Doch diese uneingeschränkt positive Bewertung wird in letzter Zeit vermehrt in Frage gestellt. Da die "Bruchstellen" dabei nicht wie erwartet verlaufen, hat sich die MIZ des Themas in einem Schwerpunkt angenommen.
Die Kirchen standen der Vorstellung, dass Menschen selbst über ihr Leben bestimmen, immer ablehnend gegenüber, schließlich galt es, die göttlichen Regeln zu befolgen (selbstverständlich in der jeweiligen Interpretation der gerade herrschenden Kirchenführer). Und für die religiöse Rechte ist die Idee der Selbstbestimmung bis heute Ausdruck menschlicher Vermessenheit und Selbstüberschätzung, die sich über den Willen Gottes erhebt (der sich freilich mit ihrem eigenen deckt). Dass von dieser Seite der Begriff der Selbstbestimmung immer wieder diskreditiert wird, ist folglich nicht verwunderlich. Dass solche Auffassungen aber, wie im Fall des Gesetzes über die Strafbarkeit von Suizidhilfe, unser Zusammenleben bestimmen, ist erklärungsbedürftig, denn die religiöse Rechte verfügt weder im Parlament noch in der Gesellschaft über eine Mehrheit.
Entscheidungsfragen
Ende Oktober lud der Internationale Bund der Konfessionslosen und Atheisten (IBKA) in Magdeburg zu einer Podiumsdiskussion, die eine erste Problemanalyse liefern sollte: Was bedeutet sexuelle und reproduktive Selbstbestimmung eigentlich? Wo findet das Modell seine Grenzen? Wie lässt es sich unter den heute bestehenden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verteidigen? Denn die Frage eines selbstbestimmten Schwangerschaftsabbruches ist das nächste Thema, bei dem eine Demontage des Begriffs konkrete Folgen haben könnte.
In der grundlegenden Einschätzung, dass es im Ermessen der Frau liegen muss, ob und wann sie Kinder haben möchte, waren sich die vier Teilnehmerinnen – Kirsten Achtelik, Viola Schubert-Lehnhardt, Katja Krolzik-Matthei und Daniela Wakonigg – einig. Zugespitzt ließe sich die Uneinigkeit darauf reduzieren, ob das Recht auf Selbstbestimmung auch dann angeführt werden kann, wenn eine Frau eine ursprünglich gewollte Schwangerschaft abbrechen möchte, sobald sie nach den einschlägigen Untersuchungen erfährt, dass ihr Kind mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit eine Behinderung haben wird. Aus den im Schwerpunktartikel komprimiert wiedergegebenen Statements wird deutlich, dass die Frage nicht so leicht eindeutig zu beantworten ist, wie es auf den ersten Blick scheint.
Warum es von Bedeutung ist, diese Frage zu klären, erläutert Nicole Thies in ihrem Editorial: Die religiösen Gegner von sexueller und reproduktiver Selbstbestimmung argumentieren längst nicht mehr in erster Linie mit Zitaten aus heiligen Schriften, sondern stellen Menschen mit Behinderung in den Vordergrund. Die untergründige Botschaft lautet: Selbstbestimmung ist eine Spielart der Behindertenfeindlichkeit. Wenn es den säkularen Kräfte gelingen soll zu verhindern, dass religiöse Vorschriften in Fragen des Schwangerschaftsabbruches wieder verstärkt eine Rolle spielen, gilt es, "den Reaktionären die Argumente abzulaufen".
Lutherjahr
Wie unterschiedlich der Blick auf eine historische Epoche sein kann, thematisiert Nicole Thies in ihrem Beitrag über das Gemälde Frühbürgerliche Revolution in Deutschland von Werner Tübke, das im Panorama-Museum in Bad Frankenhausen zu sehen ist. Während im Lutherjahr die Reformation im Vordergrund stand, zieht Tübkes Gemälde den Rahmen weiter und ordnet die theologischen Auseinandersetzungen ein in die Umbrüche der frühen Neuzeit, vom Bauernkrieg bis zu den Vorboten des wissenschaftlichen Weltbildes.
Im zweiten Beitrag unter #Luderei 2017 setzt Karsten Krampitz seine Betrachtung der Geschichte der evangelischen Kirche im 20. Jahrhundert fort. Diesmal wendet er sich der unmittelbaren Nachkriegszeit zu. Er verdeutlicht, wie schnell die evangelische Kirche wieder zu einer tragenden Säule der herrschenden Ordnung wurde. Da schadete es auch nicht, dass sich führende Würdenträger kritisch zur Entnazifizierung äußerten: Als am 7. September 1949 der erste Deutsche Bundestag eröffnet wurde, hielt der EKD-Ratsvorsitzende Otto Dibelius die Festpredigt.
Ganz Frankreich? Nein...
Heinke Först weist in ihrem Beitrag auf eine wenig bekannte Tatsache hin: In Frankreich besteht aufgrund des Gesetzes von 1905 eine laizistische Grundordnung – ausgenommen jedoch jene Gebiete, die zu diesem Zeitpunkt zum Deutschen Reich gehörten. Die Autorin informiert über die dort bestehenden Sonderregelungen zugunsten der Kirchen sowie über sich formierenden Protest dagegen.
Protest ist auch an einigen Schulen in Deutschland nötig, denn es gibt immer noch Schulleiter, die – teilweise offensichtlich absichtlich – gegen die bestehende Rechtsprechung verstoßen und Schülern, die sich vom Religionsunterricht abmelden wollen, Steine in den Weg legen. Rainer Ponitka schildert in seinem Artikel einige Beispiele und zeigt, welche Möglichkeiten es gibt, sich zu widersetzen.
Misere des Glaubens und Vision des Humanismus
Über die Zusammenhänge von Religiosität, Autoritätsgläubigkeit und Ängsten schreibt Rüdiger Vaas. Er führt Studien an, die darauf hindeuten, dass Menschen, die Religion für wichtig halten, im Durchschnitt ängstlicher sind und zugleich (auch weltliche) Autoritäten wertschätzen.
Im vierten Beitrag der Humanismus-Kontroverse zwischen Horst Groschopp und Gunnar Schedel plädiert letzterer für einen Humanismus, der so offen definiert ist, dass er als Grundlage für die tolerante Koexistenz verschiedener Lebensweisen dienen kann, und stellt infrage, dass ein als privilegierte Körperschaft verfasster Verband dies leisten kann.
Daneben gibt es noch die üblichen Rubriken Zündfunke, Blätterwald und Internationale Rundschau, die Glosse Neulich... (diesmal aus einer christlichen Kinderklinik) und Buchbesprechungen.
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