Das Gottesbild Martin Luthers

Ein monströser Gott

Eine ganze Reihe prominenter evangelischer Theologen des 20. Jahrhunderts aber zog die noch viel radikalere Konsequenz: sie verkündeten die in sich total widersprüchliche, absurde Konzeption eines theologischen Atheismus bzw. einer atheistischen Theologie. US-Amerikanische Spitzentheologen wie Thomas J. J. Altizer, William Hamilton, Paul M. van Buren, Harvey Cox und einige führende Theologen in anderen Ländern (in Deutschland besonders Dorothee Sölle) versuchten in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts, den gordischen Knoten protestantischer Gottesproblematik gewaltsam zu lösen, indem sie in den verschiedensten Variationen Gott als nicht oder nicht mehr existent proklamierten. Der Grund für diese Proklamierung ist einfach: Wenn Gott gar nicht existiert, braucht man sich mit den Widersprüchlichkeiten und Negativitäten seines Wesens nicht mehr herumzuschlagen, und dann fällt auch das leidige Theodizeeproblem weg, das sich im Raum der Kirchen so schwertut mit der Frage, wie Übel, Leid, Böses in eine Welt kommt, die Gott geschaffen hat und beherrscht. Wie ein Offenbarungsereignis, das vollkommen neue Lösungsmöglichkeiten eröffnet, wird in der protestantischen Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten von Amerika deshalb das 1961 erschienene Buch "The Death of God" von G. Vahanian begrüßt. Auch der berühmte deutsche Bibelexeget Rudolf Bultmann erklärte, es sei das "erregendste theologische Buch (…) das ich in den letzten Jahren gelesen habe", und es stelle "eine gewisse Parallele zu Karl Barths 'Römerbrief'" dar. (21)

Auf den von Vahanian gestarteten "Gott-ist-tot"-Zug sprang gleich eine Reihe bekannter protestantischer Theologen auf. Sie alle waren plötzlich begeisterte Verkünder der "originellen" theologischen Idee des Todes Gottes. Weite Teile der "aufgeklärten" modernen Presse sahen das natürlich auch so. Dabei ist es hier wie bei allen anderen neu aufkommenden Ideen: die Kirchentheologie ist nie originell, sie übernimmt - oft sogar erst nach sehr langer Zeit - die originellen Gedanken, die anderswo ausgebrütet worden sind. Den "Tod Gottes" verkündeten lange vor den Theologen Philosophen und philosophische Richtungen wie Hegel und die Hegelsche Linke, Marx und der Marxismus, Feuerbach, Nietzsche, Sartre, Camus und andere. Diese Philosophen sind auch klarer und eindeutiger in ihren Aussagen zur Nichtexistenz Gottes. (22) Die Theologen wären keine Theologen, wenn sie ganz eindeutig wären, ein klares Ja oder Nein sprächen, wenn sie sich kein Hintertürchen für die "Dennoch-Bejahung" von Gottes Existenz ließen. Einige Kritiker bezeichneten denn auch die "Tod-Gottes-"Theologie als ein "theologisches Happening, das keinen anderen Sinn hat, als Aufsehen zu erregen, zu schockieren, ja zu düpieren". Sie beanstandeten den mangelnden Ernst dieser Theologie, den Umstand, "dass das Wort vom 'Tod Gottes' ja gar nicht ernst gemeint sein kann, sondern mit dem Verblüffungstrick arbeitet und sich insofern einer journalistischen 'Masche' bedient", und einfach nur "ein Reizwort" sei. (23)

Aber natürlich ist die Tod-Gottes-Theologie auch eine Konsequenz aus dem fatalen, inhumanen und widersprüchlichen Gottesbild Luthers, des weiteren aus seiner antispirituellen, exklusiven Fixierung seiner Gläubigen auf das trockene, aller geistigen Dimensionen beraubte Wort der Schrift sowie aus seiner einseitigen Rechtfertigungslehre, die dem Menschen jede Fähigkeit zum eigenen Aufbruch und Aufschwung ins Geistig-Ethische abspricht.

Es bleibt jedenfalls festzuhalten: Evangelische Theologen, die sich der Ungereimtheiten, Widersprüchlichkeiten, Irrationalitäten und Grausamkeiten des Gottesbildes ihrer Kirche bewusst werden, können, wenn sie in dieser Kirche bleiben wollen, vor ihren Gläubigen und der gesellschaftlichen Öffentlichkeit eigentlich nur der strengen Devise folgen, auf gar keinen Fall Interna auszuplaudern. Oder aber sie entscheiden sich, Luthers und auch Calvins inhumanen, ja antihumanen Gottesbegriff ganz über Bord zu werfen, insofern Atheisten zu werden.

Heutige evangelische Kirchenvertreter und Theologen sind froh darüber, dass die Tod-Gottes-Theologie mit ihren radikalen lnfragestellungen aller Glaubensinhalte und den fatalen Konsequenzen für das lutherische und calvinistische Gottesbild inzwischen selbst ebenfalls tot zu sein scheint. Sie stellen sie gern als eine Episode des Zeitgeistes dar, die schon längst wieder vorüber sei. In Wirklichkeit ist nach dem gewaltigen Medienspektakel der Tod-Gottes-Theologie in den sechziger und siebziger Jahren des 20.Jahrhunderts nichts mehr so wie früher: egal ob evangelische Theologen nun viel oder wenig Kenntnis von der expliziten Tod-Gottes-Theologie besitzen, der Atheismus dieser Theologie steckt ihnen allen in den Knochen, weil alle spüren, dass das für sie normative und verpflichtende Gottesbild ihrer Konfessionsgründer (Luther und Calvin) unhaltbar und untragbar ist und aus seinem immer noch nicht ganz unfruchtbaren Schoß ständig die Gefahr des Atheismus gebiert. Die Tod-Gottes-Theologen haben ja auch die den Atheismus ermöglichenden Inkonsequenzen, Widersprüchlichkeiten und Ausweglosigkeiten in den klassischen protestantischen Theologiesystemen des 20. Jahrhunderts, der dialektischen Theologie Karl Barths und dem philosophisch-theologischen System Paul Tillichs, schonungslos aufgedeckt.

Es müsste außerdem noch darauf aufmerksam gemacht werden, dass Luthers latenter Pantheismus im Grunde ein "Pan-Dämonismus" war, weil er absolut nichts Göttliches im Menschen sah, dagegen das Teuflische in obsessiver Manie und Manier ständig in der menschlichen Seele und in der Welt am Werk erblickte. (24) Er war ein Erzfeind der Mystik. Deren via purgativa et illuminativa zu Gott lehnte er kategorisch ab, um so mehr eine unio mystica zwischen der menschlichen Seele und Gott. Luther sah in seiner depressiv-pessimistischen Grundeinstellung Welt und Mensch ausschließlich negativ, den Menschen, sein Ich ohne Gottes durch nichts verdiente Rechtfertigung als total verdammungswürdige Kreatur, dem in dieser Situation nur die "resignatio ad infernum", die Bereitschaft, in die Hölle zu gehen, bleibe. Allein das Wort der Schrift (der Bibel, sola scriptura!), im Glauben angenommen, könne den Menschen rechtfertigen. Aber diese Rechtfertigung fühlt er nach Luther nicht etwa, denn das könnte ja schon der Anfang des mystischen Weges sein. Nein, der Mensch bleibt ohne selbständig erarbeitete Gewissheit eines Gerechtfertigtseins durch Gott. Er verharrt im Zweifel und Zwiespalt "peccator in re, iustus in spe" (Sünder der Sache nach, Gerechtfertigter der Hoffnung nach).

Auch hierin zeigt sich der Wille Luthers, dem Menschen jegliche Autonomie und Selbstsicherheit zu nehmen, ihn zur Marionette des allein wirksamen Gottes zu machen. Dementsprechend wandte sich Luther auch gegen die positive Haltung seines Freundes Karlstadt gegenüber der Mystik und die sog. Bewegung der "Schwärmer", sodann auch gegen die Mystik Bernhards von Clairvaux und andere mittelalterliche mystische Strömungen. Trotz mancher Anklänge an den Neuplatonismus und den von diesem beeinflussten Kirchenvater Augustinus blieb er bei seiner strikten Zurückweisung jeglicher Mystik. Plotins Idee der Fähigkeit des Menschen, den göttlichen Funken in sich wieder aufflammen zu lassen, verwarf er. "Luther hat für sein eigenes Werden nichts Entscheidendes von den mystischen Traditionen empfangen, aber sich Tauber und der von ihm selbst herausgegebenen 'Deutschen Theologie', wenn auch in 'produktivem Missverstehen' (E. Seeberg), verwandt gefühlt, besonders im Negativen, in der Ablehnung aller 'Eigenheit' (des eigenen 'Werks') und in der Bereitschaft, in Gottes Verdammungsurteil über das eigene Ich einzuwilligen…". (25)

Die ganzen seit dem 17. Jahrhundert anhebenden mystischen Bewegungen im Protestantismus (J. Arnd, J. Böhme, Ph. Nicolai, H. Müller, G. Arnold, Angelus Silesius, der zum Katholizismus übertrat, usw.) können sich auf Luther nicht berufen, obwohl sie es teilweise tun bzw. taten.

Fazit: Wie wir die Sache auch drehen und wenden, von welcher Seite wir sie auch erörtern, welche Varianten, Richtungen und Strömungen der protestantischen Theologie wir noch analysieren würden, am Ende spränge immer das Ergebnis heraus, dass die evangelische Gotteslehre unentrinnbar in ihrer eigenen Schlinge zappelt, dass sie entweder anti-human, grausam und unmenschlich, ja dämonisch ist, wenn sie sich schön orthodox an Luther oder Calvin hält, oder dass sie einseitig, wesentliche Aspekte unterschlagend, mystifizierend, unlogisch und widersprüchlich oder naturalisiert, entsubstantialisiert, ja nihilisiert ist, wenn sie sich modernen und postmodernen Strömungen angleicht und anbiedert. Das Ganze ist auch deshalb fatal, weil die Gotteslehren evangelischer Theologie auf dem Weg über den Religionsunterricht ja weiterwirken und Unheil in den Seelen unschuldiger Kinder und Jugendlicher verursachen. Mit tiefem Ernst und warnender Stimme sagte schon Friedrich Nietzsche, Sohn eines evangelischen Pfarrers, in der "Antichrist": "Man muss das Verhängnis aus der Nähe gesehen haben, noch besser, man muss es an sich erlebt, man muss an ihm fast zugrunde gegangen sein, um hier keinen Spaß mehr zu verstehen." Franz Buggle, bis zu seiner Emeritierung Professor für Klinische und Entwicklungspsychologie an der Universität Freiburg, bestätigte das Urteil Nietzsches: "Wohl jedem klinischen Psychologen sind aus seiner Praxis Fälle 'ekklesiogener Neurosen' bekannt: Patienten, die unter religiösen Schuldgefühlen leiden, Menschen, die unter der Last ihres Glaubens zusammengebrochen sind." (26) Aber auch das kann keineswegs ausgeschlossen werden, dass die geradezu sadistische Strenge in manchen evangelischen Erziehungsheimen den Vorgaben des launisch-grausamen Lutherischen Gottesbildes gefolgt war und deshalb so viele Missbräuche von Kindern und Jugendlichen zu verantworten hat. (27)


  1. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe, Abteilung 1: Schriften, Weimar 1883ff. (im folgenden als WA zitiert), hier: WA XVII 1 221.
  2. WA XVI 141: "Solt ich hierin Gott messen und urteiln nach meiner Vernunfft, so ist er ungerecht und hat viel mehr Sünde denn der Teufel, ja er ist erschrecklicher und grewlicher denn der Teufel, denn er handelt und gehet mit uns umb mit gewalt, plaget und martert uns und achtet unser nicht."
  3. WA XLVII 180.
  4. WA XXVIII 120f.
  5. WA XXVIII 559.
  6. WA XXVIII 561.
  7. WA XXVIII 569.
  8. WA XXVIII 578.
  9. WA XXVIII 584.
  10. TiWA VI39 (6561) Aus einem Schreiben Luthers an Caspar Aquilam, Pfarrherr zu Salfeld: "Die Disputatio (…) von heimlichen verborgenen Werken Gottes, ist eine hohe Anfechtung, die man nennet Gotteslästerung, in welcher viel verloren und umkommen sind, und ich bin nicht einmal bis auf Todsgefahr damit angefochten worden. Und was ists doch, das wir arme elende Menschen grübeln, so wir noch nicht die Strahlen göttlicher Verheißungen mit dem Glauben fassen oder ein Fünklin von Gottes Geboten und Werken begreifen konnen, welche beide er doch selbes mit Worten und Wunderwerken bestätiget hat? Doch werden wir Schwachen und Unreinen gerissen und wollen erforschen und verstehen die unbegreifliche Majestat des unbegreiflichen Lichts der Wunder Gottes. (…) Lehren soll man zwar von Gottes unausforschlichem und unbegreiflichem Willen; aber sich unterstehen, denselben zu begreifen, das ist sehr fährlich und man stürtzt den Hals darüber ab."
  11. WA XL 177: „intolerabilis est humanae naturae“.
  12. WA XVIII 718.
  13. R. Otto, Das Heilige, 25. Auflage München 1936, 121.
  14. Ebd. 124.
  15. Ebd. 126.
  16. WA XVIII636, 684ff., 689, 707, 719, 724f.
  17. E. de Negri, Offenbarung und Dialektik. Luthers Realtheologie, Darmstadt 1973, 73.
  18. Nach E. Pilick in: Wege ohne Dogma, 3/1998. Pilick zitiert auch die folgenden Aussagen Huttens: "Es geht uns um das Werk Adolf Hitlers in unserem Volk und darum, dass unsere Kirche ein freudiges Ja dazu habe." Der Antisemitismus sei eine "durch und durch sittliche Bewegung", die von den Christen unbedingt bejaht werden müsse.
  19. WA XVIII 633: "Hic est fidei summus gradus, credere illum esse clementem, qui tam paucos salvat, tam multos damnat, credere iustum, qui sua voluntate nos necessario damnabiles facit."
  20. E. Jüngel, Gott als Geheimnis der Welt, 3. Auflage Stuttgart 1978, 1.
  21. Zit. nach dem Artikel "Tod – Gottes – Theologie" in: J. B. Bauer, Die heißen Eisen von A bis Z, Graz 1972, 349.
  22. Vgl. H. Mynarek, Die Neuen Atheisten, Essen 2010.
  23. Bei Bauer, a. a. O. 362.
  24. Pantheismus hier in dem Sinne verstanden, dass Gott nach Luther der im Grunde allein Wirkliche und Wirksame, der alles Determinierende, das einzig wahre Sein ist. Man müsste das also Theopantismus, nicht mehr Pantheismus nennen.
  25. M. Schmidt, Art. Protestantische Mystik, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, Bd. IV, Tübingen 1960, 1253.
  26. F. Buggle/ E. Dahl, Denn sie wissen nicht, was sie glauben, in: Die Lehre des Unheils, Hamburg 1995, 164.
  27. Vgl. meine umfassende, auf seinen originären Lehren, Reden und Taten beruhende Dokumentation über Luther im Ahriman Verlag Freiburg u. d. T. "Luther ohne Mythos", 3. Auflage 2013.