Plädoyer für einen anderen Umgang mit den Tieren

Der französische Schriftsteller und Wissenschaftler Frédéric Lenoir kritisiert in seinem Buch "Offener Brief an die Tiere und alle, die sie lieben" die Doppelmoral der Menschen gegenüber den Tieren und die Grausamkeiten entsprechender Praktiken. Dies geschieht mit leichter Hand, wobei der Autor für die Kenner der Materie wenig Neues bringt, gleichwohl zur Einführung ins Thema ein gutes Werk vorlegt.

"Welch schlimme Gewohnheit erwirbt der Mensch, wie erzieht er sich dazu, Blut zu vergießen, wenn er einem Kalb mit dem Eisen die Kehle ritzt und mit ungerührtem Ohr sein Brüllen hört oder wenn er ein Zicklein, das wimmert wie ein Kind, erwürgen oder einen Vogel verzehren kann, dem er selbst Futter gegeben hat."

Von dem römischen Dichter Ovid, der die "Liebeskunst" und die "Metamorphosen" der Weltliteratur beigesteuert hat, stammen diese Worte. Sie finden sich zitiert in dem Buch "Offener Brief an die Tiere und alle, die sie lieben", das der französische Schriftsteller und Soziologe Frédéric Lenoir vorgelegt hat. Die Schreibperspektive steht im Titel: Der Autor wendet sich an die Tiere, um ihnen die Einstellungen und Handlungen der Menschen ihnen gegenüber verständlich zu machen. Die dabei eingenommene Blickrichtung ist indessen für die Menschen gedacht, will Lenoir ihnen doch ihre Grausamkeit und Widersprüchlichkeit verdeutlichen. Sie bewundern und jagen, herzen und töten, lieben und quälen, streicheln und essen die Tiere.

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Am Beginn steht der Blick auf die Geschichte des Menschen, die Entwicklung zum Herrscher über die Welt. Einher ging sie mit der Ausbeutung und Unterdrückung der Tiere. Der Fleischkonsum, der auf deren Tötung beruht, nahm im Laufe des 20. Jahrhunderts drastisch zu. Das Gleiche gilt für die Grausamkeit in den Schlachthöfen. Um dies alles sich selbst gegenüber zu entschuldigen, ging man manipulativ vor. Dazu gehörte die menschliche Auffassung von Tieren als bloße Sachen, die keine Intelligenz und kein Schmerzempfinden hätten. Auch wurde der Mensch als "Krönung der Schöpfung" gesehen und ihm diverse Alleinstellungsmerkmale gegenüber den Tieren zugeschrieben. Doch all diese Auffassungen erwiesen sich als falsch, wie die moderne Forschung immer neu belegt. Doch bereits viele große Denker machten seit der Antike immer wieder deutlich, dass der Mensch sich selbst durch den brutalen Umgang mit Tieren diskreditiert. Dies belegen immer wieder die eingestreuten Aussagen von Philosophen wie eben dem einleitend zitierten Ovid.

Die Eigenheiten des Menschen sind eben nicht nur seine Eigenheiten. Altruismus, Intelligenz und Moralität gibt es eben auch in der Tierwelt – wenngleich in anderem Ausmaß und anderer Form. Der Autor erinnert aber auch immer wieder an jene Bestrebungen, die Rechte und Schutz den Tieren zugestehen wollten. Bereits in der Antike gab es Apologeten derartiger Positionen. Auch wird ein Blick auf die aktuelle Debatte um Tierethik geworfen, wenn etwa Tom Regans Rede vom "moralischen Betroffenen" oder Peter Singers "Speziesismus"-Postulat im Zentrum stehen. Es geht dann ebenso um die Frage, wie die beklagten Gegebenheiten überwunden werden können. Lenoir, der bereits in der Einleitung seine eigene Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit eingestanden hatte, plädiert nicht für einen radikalen Schnitt. Er will Zwischenlösungen. Dabei soll es etwa um die Freilandhaltung von Hühnern oder ein Label für "ethisches Fleisch" gehen. Abschließend wird betont, dass das eingeforderte Engagement auch der Gesundheit des Menschen nutze.

Bei Lenoirs Ausführungen blitzt manchmal eine tierromantische Perspektive durch. Gleichwohl kann er für alle seine Aussagen immer wieder gute Belege vorbringen, eine Idealisierung der Tiere wäre da gar nicht nötig. Inhaltlich bringt der Autor für die Kenner der Materie wenig Neues, sein Buch kann aber als Einführung ins Thema genutzt werden. Und in der Tat: Die Ausführungen zu dem Nutzen für die Menschen sind überzeugend. Bekanntlich führt der Kontakt mit Tieren zu positiven Veränderungen. Mittlerweile gilt dies sogar für den Arbeitsplatz, wo etwa das Betriebsklima durch Hunde verbessert wird. Dies belegen einschlägige Forschungsergebnisse ebenso wie den befördernden Einfluss des Fleischkonsums auf die Klimakrise. Lenoir plädiert – wie ausgeführt – für einen schrittweisen Wandel. Ein solcher Ansatz ist gesellschaftlich leichter vermittelbar, gleichwohl auch für sich dann wieder widersprüchlich. Dies kann man mit guten Gründen aufgrund der fehlenden Stringenz kritisieren, wichtig ist dabei aber sicherlich: die Richtung stimmt.

Frédéric Lenoir, Offener Brief an die Tiere und alle, die sie lieben, Stuttgart 2018 (Reclam-Verlag), 142 S.