Zu Unrecht beschuldigt: Wenn Erwachsene ihren Familienmitgliedern plötzlich sexuellen Missbrauch in der Kindheit vorwerfen, kann dies im Zuge einer bestimmten Form von Psychotherapie geschehen. Die Klienten glauben dann, sich an Vorfälle zu erinnern, die nie stattgefunden haben. Bestärkt werden sie von Therapeuten, die an der Entstehung solcher Falscherinnerungen unbeabsichtigt mitgewirkt haben: durch suggestive Gespräche, Erwartungsdruck und Vieles mehr.
Die Folgen sind fatal: Viele Klienten brechen den Kontakt zur Familie ab, einige erstatten Anzeige bei der Polizei. Vermeintlichen Rückhalt finden sie in Internetgruppen mit anderen Betroffenen. Doch ihre eigentlichen Probleme, bei denen sie sich therapeutische Unterstützung erhofften, bleiben ungelöst.
Wie kann es sein, dass Menschen derart überzeugende Falscherinnerungen ausbilden? Unser Gedächtnis ist kein Archiv, aus dem wir Erinnerungen wie alte Dokumente hervorholen und anschließend unverändert wieder zurücklegen. Das Erinnerte wird vielmehr jedes Mal ein wenig verändert. Durch suggestive Gesprächsführung kann man sogar künstliche "Erinnerungen" an Ereignisse erzeugen, die nie stattfanden. Das gilt selbst für so traumatische Erlebnisse wie sexuellen Missbrauch in der Kindheit. Mit diesem erschreckenden Phänomen und den Folgen setzt sich Buchautor Hans Delfs in der aktuellen Ausgabe des Skeptiker auseinander.
Sein Beitrag erläutert die gedächtnispsychologische Grundlage, um den Verschwörungsmythos vom "satanistisch-rituellen Missbrauch" zu verstehen, über den die Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP) bereits seit einigen Jahren informiert. Demnach sollen satanistische Missbrauchsnetzwerke im großen Stil monströse Verbrechen an Kindern verüben, doch dafür fehlt jeder Beleg – anders als bei wirklichen Missbrauchsfällen. Das Thema stand in den letzten Jahren bereits mehrfach im Zentrum viel beachteter Veranstaltungen und Veröffentlichungen der GWUP.
Dort engagiert sich beispielsweise die Kriminalpsychologin Lydia Benecke als fachlich kompetente Aufklärerin, etwa auf der SkepKon 2018. Interventionen seitens der Gläubigen waren bisher eher von Stimmungsmache als von sachlicher Argumentation dominiert. So lancierte die esoterikgläubige Psychotherapeutin Michaela Huber 2019 eine Protest-Mailkampagne gegen einen geplanten Vortrag von Lydia Benecke im Frankfurter "Club Voltaire", woraufhin der Club einknickte und die Veranstaltung absagte.
Trotz des immensen Gruppendrucks gelingt es einigen Betroffenen dennoch, aus dem Teufelskreis zu entkommen. Unterstützung finden sie bei der Institution False Memory Deutschland (FMD), zu deren Gründungsmitgliedern Skeptiker-Autor Hans Delfs gehört.
Noch findet das Problem der therapeutisch erzeugten Falscherinnerung – ein Qualitätsproblem in der Psychotherapie – zu wenig Gehör in der Öffentlichkeit, beklagen Marie Cammans und Federico Avellán Borgmeyer vom FMD-Vorstand. Skeptiker-Chefreporter Bernd Harder hat mit den beiden ein Interview fürs Heft geführt, in dem sie von ihrer Arbeit berichten.
Eine auf den ersten Blick erstaunliche Frage wirft Amardeo Sarma in einem weiteren Beitrag auf. Anlass ist die Debatte um Dieter Nuhrs Imagevideo für die Deutsche Forschungsgesellschaft. Der Kabarettist hatte mit seiner Kritik am Slogan "Follow the science" ein vielschichtiges Thema angeschnitten – zu komplex für einen 50-Sekunden-Clip.
Weshalb hier eine differenzierte Betrachtung not tut, legt Sarma anhand von zwei aktuellen Beispielen dar, der Klima-Krise und der Corona-Krise. Nach seiner Ansicht sind bei der Entscheidungsfindung nicht nur wissenschaftliche Erkenntnisse, sondern beispielsweise auch politische und ethische Überlegungen zu berücksichtigen. Ein Beispiel: Für Deutschland sei der zeitlich begrenzte Lockdown zur Eindämmung der Corona-Pandemie die richtige Entscheidung gewesen. In Indien jedoch hatte eine ähnliche Maßnahme verheerende Folgen für die ärmere Bevölkerung. Sie verloren ihre Arbeit in den Städten und mussten zurück in ihre Dörfer, meist zu Fuß, oft mehrere hundert Kilometer. "Das kann man sehr wohl kritisieren", schreibt Sarma, "auch wenn die Entscheider, allein auf die Eindämmung der Pandemie bezogen, völlig richtig lagen." Er wünscht sich eine Wissenschaft, die klarmacht, dass es unterschiedliche Wege geben kann, je nach gesellschaftlichen Prioritäten.
Das lässt sich auch auf die Klima-Krise übertragen, wie Sarma darlegt: "Wollen wir einem armen Land im Süden den Bau von Kohlekraftwerken verdenken, mit denen es einen Mindestwohlstand erreichen möchte? Vielleicht will ein Land an der Küste mehrere Kernkraftwerke bauen, um sowohl Strom zu erzeugen als auch Meerwasserentsalzungsanlagen zu betreiben." Zwei Beispiele, die illustieren, wie stark auch scheinbar theoretische Fragen mit konkreten Entscheidungen verknüpft sind. Es wäre wünschenswert, dass Sarmas Beitrag eine breite, substanzielle Debatte anstößt.
15 Kommentare
Kommentare
Nora Koch am Permanenter Link
Vom falsch erinnerten Missbrauch in der Kindheit zu Meerwasserentsalzung und Kohlekraftwerken....
Petra Pausch am Permanenter Link
Sie (und ein paar andere KommentatorInnen) scheinen nicht verstanden zu haben, dass es sich bei dem Artikel um die Ankündigung einer Zeitschrift handelt.
M.S. am Permanenter Link
Falls Sie mit den paar anderen auch mich meinen, was ich vermute: doch, gelesen und verstanden.
Sternchenskepti... am Permanenter Link
Schuld sind immer die anderen. Darf man hier nur kommentieren, wenn man alle Zeitungen, für die geworben wird, gekauft und gelesen hat?
Zum Suggestionsvorwurf: Wer sowas schreibt, musste sich nicht als Erwachsene/r an als Kind erlebte sexuelle Gewalt erinnern, Glückwunsch.
Wer es musste, der weiß, dass man solche Erinnerungen niemandem einreden kann. Denn die Erinnerung kommt nicht aus dem Kopf, sondern aus dem Körper. Der Körper erinnert sich zuerst, man hat Symptome, die man nicht erklären kann, Ärzte erklären einen für bescheuert (ab 40 für klimakterisch, "Trinken Sie mal einen Baldriantee!"), dann tauchen die ersten Bilder auf, im Zusammenhang mit Nebengeräuschen, die mit denen aus der/den früheren Situation/en identisch sind. Mit diesen Sequenzen laufen Sie dann erst mal ewig rum; die Phase, in der sich die Seele wappnet für das, wovon man unterbewusst weiß, das es ausgehalten werden muss.
Erst, wenn die alte/n Situation/en durchgängiger erinnert werden, kommt der Kopf dazu, um das zu tun, was er als Kind nicht konnte. Begreifen, einordnen, Eigensicherung, Selbstbehauptung, Selbstliebe, Archivierung, Solidarität (und trotzdem: lebenslänglich!).
Die Vorstellung, jemand hätte mich währenddessen offiziell der Falschbehauptung wegen Fremdeinflusses bezichtigt, ist ohne Übertreibung eine absolute Horrorvorstellung! Nichts ist größer als die Furcht und die Sehnsucht zugleich, es jemandem anvertrauen zu können, und dann auf Zweifel und Misstrauen bis hin zur Unterstellung von Lüge zu treffen, das ist Folter!
Was jetzt in der beworbenen Zeitschrift genau steht, für die mit dem Artikel angeblich nur geworben werden soll, ist egal für die Bewertung diese Artikels hier.
Frau Hüsgen hat im Endeffekt nicht weniger als einen indirekten Aufruf verfasst, die Erinnerungen von Menschen an früher erlebte Gewalt fifty-fifty für von Therapeuten eingeredete Fantasie zu halten. Ethik? Fehlanzeige.
M.S. am Permanenter Link
Danke für diesen Beitrag!
malte am Permanenter Link
Von "fifty-fifty" steht da nichts. Der Text weist lediglich darauf hin, dass das Phänomen existiert, nicht, wie häufig es vorkommt.
Dittmar am Permanenter Link
Zur False Memory möchte ich noch auf die Familienaufstellung, besonders nach Hellinger, hinweisen. Vielleicht kann jemand mal etwas dazu in der Tiefe recherchiert publizieren?
werner haas am Permanenter Link
Dazu gibt es Literatur. Z.B.:
- Colin Goldner: Der Wille zum Schicksal: Die Heilslehre des Bert Hellinger, Carl Ueberreuter, 2003
- Werner Haas: Das Hellinger-Virus. Zu Risiken und Nebenwirkungen von Aufstellungen, Asanger Verlag, 2009
Gerhard Baierlein am Permanenter Link
Diesen Artikel von Frau Hüsken werden die Priesterlichen Kinderschänder gerne lesen, zumindest den ersten Teil, und als Argument für deren Verteidigung vor sich hertragen, wetten dass!
M.S. am Permanenter Link
Keine Sorge, das tun sie schon länger. Betroffenen zu unterstellen, sie seien sowieso nicht glaubwürdig, hat System. Besonders perfide ist die Masche, Psychotherapie dazu heranzuziehen.
malte am Permanenter Link
Die Glaubwürdigkeit sowohl eines mutmaßlichen Täters als auch des mutmaßlichen Opfers wird von Ermittlern IMMER in Frage gestellt, egal um was für ein Verbrechen es sich handelt.
M.S. am Permanenter Link
Sie haben das Problem in seiner Tragweite nicht verstanden. Es wird pauschal geurteilt. Sie können gar nichts dran ändern. Sie sind in Therapie: automatisch unglaubwürdig.
malte am Permanenter Link
Es kann in einem solchen Fall auch niemand nachweisen, dass er oder sie nicht lügt. Insofern ist es nicht nachvollziehbar, wieso ausgerechnet eine Therapie hier eine Unglaubwürdigkeit begründen soll.
M.S. am Permanenter Link
Eigentlich lese ich hier gerne, aber bei diesem Beitrag kommt mir derartig die Galle hoch! Wissen Sie eigentlich, welche "Blüten" dieser False-Memory-Unsinn inzwischen treibt?
Da ich außerdem Erfahrung als Patientin in Psychotherapie habe: mir ist es niemals, und zwar absolut NIEMALS untergekommen, dass ein Therapeut versucht hätte, mir etwas zu suggerieren, was in meiner Kindheit stattgefunden haben könnte. Des Weiteren sind niemals Erinnerungen aufgetaucht, die nicht aus einer externen Quelle (Zeugen!) stammen. Es wurde niemals Hypnose durchgeführt. Und ein Kontaktabbruch hat zwar stattgefunden, aber sehr lange vor der ersten Therapie, im Kindesalter nämlich.
Über diesen unreflektierten Artikel bin ich wirklich entsetzt. Bitte lesen Sie mal auf der Homepage der False-Memory-Bewegung. Die Texte sind voller Meinungen und frei von nachprüfbaren Fakten. Es werden Formulierungen genutzt wie "Wie gute Psychotherapeuten wissen", um die eigene Meinung als Faktum zu verkaufen. Seriös ist anders.
malte am Permanenter Link
Es geht doch gar nicht darum, dass Therapeuten bewusst etwas suggerieren würden. Da steht ausdrücklich, dass Therapeuten UNBEABSICHTIGT an der Entstehung falscher Erinnerungen mitwirken.