Sind wir noch entschlossen, unsere Gesellschaftsordnung und ihre Werte zu verteidigen?

Was sind uns Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und Menschenrechte wert?

BERLIN. (hpd) Seit geraumer Zeit wird auf Tagungen und in den Medien heftig und kontrovers die Frage diskutiert – und die Ereignisse der letzten Woche haben die Diskussion erneut befeuert – wie die Radikalisierung Jugendlicher und ihre Hinwendung zu gewalttätigen islamischen Gruppierungen zu verhindern sei. Das Zauberwort lautet regelmäßig: Mehr Bildung! Aber kann das so pauschal stimmen?

Eine gute Ausbildung, also die Qualifizierung für einen einträglichen Arbeitsplatz, dürfte eine Radikalisierung wohl kaum verhindern. Ungefähr die Hälfte der Terroristen seit dem 11. September 2001 waren Ingenieure. Auch andere Attentäter waren akademisch gebildet. Was nützt aber eine qualifizierte Ausbildung, wenn der entsprechende Arbeitsplatz in der Heimat nicht zur Verfügung steht und Arbeitslosigkeit und Frustration die Folgen sind. Man wandert aus, findet aber auch hier in Europa in vielen Fällen keine persönlich befriedigende Situation vor. Diese wiederum bildet schnell den Nährboden für Enttäuschung, macht anfällig für Angebote aus orthodoxen islamischen Kreisen und kann leicht in der Radikalisierung von Denken und Handeln enden.

Die Lösung des Problems wenigstens des heimischen Terrorismus dürfte eher darin bestehen, eine frühkindlich einsetzende religiöse Indoktrination, vorgenommen durch Eltern, Schule und Prediger, aufzubrechen und durch eine Denkhaltung abzulösen, die der Religion ein vernunftorientiertes Argumentieren entgegensetzt und den sog. heiligen Texten eine moderne Ethik und wissenschaftliche Einsichten. Die zu allem entschlossene Bereitschaft zur Aggressivität gegen die "Ungläubigen", die "irgendwie an der eigenen Situation Schuldigen", speist sich aus einer polit-religiösen Ideologie, die im Gewand einer selbstbewusst bis anmaßend auftretenden Glaubenslehre auftritt und sich als letztgültige, die Menschheit beglückende Wahrheit versteht. Als letzter Auslöser für tödliche Attacken gegen die Aufnahmegesellschaft fungieren dabei meist noch ganz persönliche Probleme. Selbst wenn eine Mehrheit der hier lebenden Muslime nicht zu religiös motivierter Gewalt neigt – es genügt die berüchtigte »radikale Minderheit«, eine Gesellschaftsordnung zu untergraben.

Zu vermitteln ist, dass die im Koran gegen die "Ungläubigen" gerichteten Gebote allenfalls in ihrem zeitlichen Kontext zu verstehen, für eine aufgeklärte Gesellschaft jedenfalls nicht hinnehmbar sind. Auch das patriarchalische Gesellschaftsmodell ist abzulehnen und mit unseren heutigen Auffassungen von einem freiheitlichen und demokratischen Staat mit selbstbestimmten Bürgern zu konfrontieren. Dieser Lern- und Umschulungsprozess ist auch von jenen jugendlichen Zuwanderern zu durchlaufen, die aus einem muslimisch-religiösen Milieu kommen. Sie pflegen auf der Basis eines orthodoxen Islam in der Regel eine religiöse Kultur, die sie in Europa, ihrer neuen Heimat also, sozial von der Aufnahmegesellschaft isoliert, besonders dann, wenn sie ganz betont ihre Glaubenslehre als die einzig richtige, weil gottgegebene Lebensauffassung ansehen. Eine Integration in unsere Gesellschaft kann deshalb nur gelingen, wenn Abschied genommen wird von einem orthodoxen Islam mit dem Anspruch, das individuelle und gesamte gesellschaftliche Leben zu formieren. Unter die hier gewährte Glaubensfreiheit fiele nur ein Gottesglaube ohne allgemeinen gesellschaftspolitischen Gestaltungsanspruch und eine religiös fundierte Moral, die einem allgemeinen Weltethos entspricht.

Ist die grundsätzliche Bereitschaft geschaffen worden, sich auf Verfassung und Gesellschaftsmodell eines europäischen Aufnahmelandes einzulassen, muss eine zweite Phase von Aufklärung und schulischer Wissensvermittlung einsetzen, die gleichermaßen für Zuwanderer wie Einheimische gilt: Es sind die Voraussetzungen und Grundlagen bewusst zu machen, die einen modernen Verfassungsstaat auszeichnen. Diese "Werte" sind wesentlich die Rechtsstaatlichkeit, die Demokratie und die Menschenrechte. Es ist darüber aufzuklären, dass diese Werte nicht von allein entstanden, also nicht selbstverständlich vorhanden sind, sondern über die Jahrhunderte mühsam erkämpft werden mussten, und dass sie ständig in der Gefahr sind, wieder verloren zu gehen.

Es gilt also, nicht nur die Radikalisierung von muslimischen Zuwanderern zu verhindern, es gilt ebenso, Wissen über die Grundlagen unseres Gesellschaftsmodells zu verbreiten und zugleich die Kräfte gegen dessen Unterwanderung zu stärken. Denn das Nichtwissen um die Vorzüge in einem freiheitlichen und demokratischen Staat zu leben, und die damit verbundene Gleichgültigkeit gegenüber den Versuchen, unsere gesellschaftliche Ordnung zu untergraben, stellen große Gefahren für den Bestand unseres Gesellschaftssystems dar. Diesen Gefährdungen ist keinesfalls nur mit polizeilichen und geheimdienstlichen Maßnahmen, ihnen ist vor allem mit intellektuellen Mitteln zu begegnen. Dazu sind die grundlegenden Werte bewusst zu machen, auf denen unser humanistisches Gesellschaftsmodell beruht. Deshalb ist schon in der Schule zu vermitteln, welche geschichtliche Leistung ersten Ranges die Entwicklung des modernen westlichen Staates von den ersten Anfängen im antiken Griechenland über die Französische Revolution bis zur Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte durch die Vereinten Nationen darstellt. Ein moderner westlicher Staat garantiert seinen Bürgern im Prinzip Rechtsstaatlichkeit, wozu wesentlich die Gleichheit vor dem Gesetz gehört, ferner Demokratie, eine Regierungsform, die sich durch freie Wahlen legitimiert, und schließlich die Menschenrechte, wozu unter anderem die Meinungsfreiheit und auch die Glaubensfreiheit gehören und das grundsätzliche Recht des Individuums auf Selbstbestimmung.

"Freie Gesellschaften wachsen nicht auf Bäumen"

Hier soll ein Buch vorgestellt werden, das in didaktisch wohl überlegter Weise diese Inhalte und deren Vermittlungsprozess in ausgearbeiteter Form vorlegt. Der Untertitel dieses Buches, "Freie Gesellschaften wachsen nicht auf Bäumen", bringt zum Ausdruck, dass man sich der einmaligen Vorzüge eines freiheitlichen und demokratisch organisierten Staates – trotz aller noch immer vorhandenen Mängel – immer bewusst sein sollte, und dass es zweitens ständigen Bemühens bedarf, die Feinde dieser »offenen Gesellschaft« immer im Auge zu behalten und ihnen mit den Mitteln aufklärender Bildung entgegenzuwirken. Hier setzt diese wichtige, als Lehrbuch gestaltete Veröffentlichung an.