Vom 29. bis 31. Mai findet in Regensburg die "SkepKon", die Jahreskonferenz der Skeptikerorganisation GWUP, statt. Aus diesem Anlass stellt der hpd jede Woche einen Referenten und sein Thema im Interview vor. Heute: Anna Veronika Wendland.
PD Dr. Anna Veronika Wendland ist Osteuropa- und Technikhistorikerin und Mitglied der Gesellschaft zur wissenschaftlichen Untersuchung von Parawissenschaften (GWUP). Sie arbeitet als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Marburger Herder-Institut für Historische Ostmitteleuropaforschung und lehrt Geschichte an der Uni Marburg. Für ihre Habilitationsschrift "Kerntechnische Moderne. Atomstädte, nukleare Arbeitswelten und Reaktorsicherheit in Ost- und Westeuropa 1966-2021" forschte Wendland über mehrere Jahre hinweg als Langzeitbeobachterin von Mensch-Maschine-Beziehungen in Kernkraftwerken in Osteuropa und Deutschland. Seit der russischen Invasion in die Ukraine 2022 ist sie häufige Ansprechpartnerin für Medien und Politik für Probleme der kerntechnischen Sicherheit in der Ukraine. Ihre neuesten Buchpublikationen: "Atomkraft? Ja bitte! Klimawandel und Energiekrise: Wie Kernkraft uns jetzt retten kann", Köln 2022, Quadriga Verlag; "Befreiungskrieg. Nationsbildung und Gewalt in der Ukraine", Frankfurt/New York 2023, Campus Verlag.
hpd: Worum geht es in Ihrem Vortrag?
Anna-Veronika Wendland: Falschinformationen spielen nicht erst seit der Erfindung des Begriffs "hybrider Krieg" eine gewichtige Rolle in Kriegen – so auch im Fall des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine. Doch was in diesem Krieg besonders auffällt, ist die häufige Nutzung von Techno-Fakes, also kalkulierten Falschaussagen und gefakten Storys über bestimmte Technologien, die beim Kriegsgegner Angst und Panik schüren sollen, aber auch dem Appell an die internationale Öffentlichkeit dienen. Im Zentrum solcher Formen von Angstkommunikation standen in der Ukraine bislang vor allem Atomanlagen, "schmutzige Bomben" und angebliche Biowaffen-Produktionsstätten. In dem Vortrag werden einige Beispiele analysiert, die Motive, Funktionsweise und Folgen von technikbezogenen Angsterzählungen diskutiert und einige Vorschläge gemacht, wie demokratische Gesellschaften mit Techno-Fakes als Instrumenten des hybriden Krieges umgehen sollten.
Wie sind Sie dazu gekommen, sich mit diesem Thema zu befassen?
Ich bin Historikerin mit einem Forschungsschwerpunkt in der Umwelt- und Technikgeschichte, gleichzeitig arbeite ich seit langem über die Ukraine. Mein Thema – Technik, hybrider Krieg und Angstkommunikation – hat mich daher schon längere Zeit begleitet, da ich immer mal wieder Reports oder Interviews vor allem über die kerntechnische Sicherheit im Krieg hatte.
Was ist das Besondere an Ihrem Denkansatz beziehungsweise Ihrer Perspektive auf dieses Thema?
Mein Ansatz ist ein soziotechnischer, das heißt ich schaue auf die technischen Anlagen, die ich untersuche, prinzipiell als ein System aus Menschen, Maschinen, Normen, Kultur und sozialer Kommunikation. Auch für das Thema Techno-Fakes und Angstkommunikation eignet sich dieser Ansatz gut.
Welche populären Mythen oder Fehlvorstellungen möchten Sie mit Ihrem Vortrag aufdecken?
Rund um technische Risiken im Ukraine-Krieg hat sich eine Reihe von Angsterzählungen gebildet, die zum Teil einen wahren Kern haben und durch viele Übertreibungen und Dazuerfindungen aufgebläht wurden, teilweise aber auch reine Fakes sind. Der erste Fall betrifft vor allem die Situation der ukrainischen kerntechnischen Anlagen, der zweite bezieht sich auf gefälschte und erfundene Nachrichten über angebliche Biowaffenlabore in der Ukraine oder ukrainische Pläne, "schmutzige" radioaktive Bomben im Krieg einzusetzen.
Haben Sie eine "Aufregerthese" parat, für die Sie im Vortrag argumentieren werden?
"Die russische Kriegspropaganda ist gespeist von russischen Ängsten und Obsessionen, aber erfolgreich dank denen des Westens."
Was ist die praktische oder gesellschaftliche Relevanz des Themas?
Angsterzählungen, Fakes und Mythen rund um den Ukraine-Krieg werden insbesondere von Russland und seinen Verbündeten in die Welt gesetzt, aber auch die Ukraine bedient sich solcher Narrative, wenn auch aus verständlichem Grund. Die russische Seite setzt vor allem auf Verunsicherung, Lähmung des Gegners und Entsolidarisierung seiner Verbündeten. Die ukrainische Seite will mit Angsterzählungen (etwa "In Saporischschja droht ein sechsfaches Tschernobyl, das ganz Europa verseuchen könnte!") etwas erreichen, nämlich Alarmierung der Weltöffentlichkeit, Empathie und Handlungsbereitschaft.
Jedoch lähmt und demobilisiert Angst die Menschen eher, sie neigen dann eher dazu, dem Opfer ihre Unterstützung zu entziehen, als dem Täter gegenüber Entschlossenheit zu zeigen, "damit es nicht weiter eskaliert". Von diesem Eskalations-Narrativ profitiert also letztlich der Angreifer. Auch halten Fakes die Menschen davon ab, evidenzbasiert und besonnen mit den Nachrichten aus dem Krieg umzugehen und Bedrohungen richtig einzuschätzen. Das lähmt und spaltet auch unsere Gesellschaft an einem historischen Zeitpunkt, wo sie entschlossen und nüchtern neuen Bedrohungen entgegentreten muss, und wo sie eine gute Situationsanalyse braucht, um sich zu schützen.
Warum sollten sich gerade Skeptiker für Ihr Thema interessieren?
Skeptiker sind Hinterfrager und Nachhaker, und das ist das beste Gedankenwerkzeug, um falschen Nachrichten und Angstkommunikation nicht auf den Leim zu gehen.
Welche Kontroversen gibt es mit Blick auf Ihr Thema – und wie gehen Sie damit um?
Die Kontroverse entwickelt sich auf zwei Ebenen. Erstens ist das Thema Angstkommunikation Teil unserer Kontroversen um den Ukraine-Krieg: Was die einen als Angstkommunikation und Propaganda einordnen, halten die anderen für unterdrückte Wahrheit. Es wird außerdem das Kriegsgeschehen in der Ukraine häufig instrumentalisiert, um Partikularinteressen im eigenen Land zu verfolgen. Ein Beispiel ist die Debatte von 2022 um die Laufzeitverlängerung deutscher Kernkraftwerke, in der die für Deutschland relevanten Aspekte (Klima- und Stromversorgungssicherheit, technischer Zustand der deutschen Anlagen) kaum eine Rolle spielten, dafür aber umso mehr ein Übertragungs-Narrativ, in dem mit dem russisch besetzten AKW Saporischschja gegen die deutschen Kernkraftwerke argumentiert wurde. Das behagte mir nicht. Warum? Es verlagerte die Aufmerksamkeit vom tatsächlichen Urheber der Bedrohung, Russland, auf eine Problematisierung der Kernenergie. Sollte Russland unsere Industrieanlagen mit Raketen angreifen, wird ein Dutzend schwer verbunkerter Reaktorgebäude unser geringstes Problem sein – bei einer Risikoabwägung würde ich immer sagen, dass mir Talsperren, Chemieindustrie und die Bombardierung von Großstädten größere Sorgen machen würden.
Mit Blick auf die Ukraine wurde argumentiert, der Krieg zeige doch, wie gefährlich Kernkraftwerke seien. Was uns der Krieg aber bis dato gezeigt hat, ist, wie gefährdet Kernkraftwerke sind, was niemand bestreitet. Gefährlich waren sie entgegen unserer schlimmen Erwartungen aber bislang erstaunlicherweise noch nicht. Die ukrainischen Anlagen erwiesen sich als erstaunlich robust auch in sehr prekären Verhältnissen, zum Beispiel bei Notstromfällen und massiven Angriffen auf das Stromnetz. Heute sind es im Wesentlichen die AKW, die in der Ukraine die Stromversorgung zusammenhalten, während fossile und regenerative Kapazitäten stark zerstört sind. Die wirkliche Kriegskatastrophe, die opferreiche und zig Milliarden von Euro ökonomischen Schaden nach sich ziehende Zerstörung des Staudamms von Kachowka, traf die erneuerbaren Energien. Würde man der Argumentation der Atomgegner konsequent folgen, müssten wir also unsere Talsperren präventiv ablassen und zurückbauen. Diese Konsequenz fehlt aber der Atomdebatte, die leider sehr häufig von Cherrypicking und Doppelstandard, vor allem aber von der völligen Abwesenheit kluger Abwägung geprägt ist.
In welchen Punkten sind Sie sich selbst noch unsicher?
Im eben gesagten "noch". Das betone ich auch. Ich beobachte die Situation in der Ukraine und kann konstatieren, dass die ukrainischen AKW "noch" gut mit Raketenabwehrsystemen ausgerüstet sind und dass ihnen "noch" kein gravierender Unfall aufgrund von Kriegseinwirkungen widerfahren ist. Ich kann es aber nicht ausschließen, wenn die USA ihre Unterstützung zurückziehen oder Russland einen nächsten Eskalationsschritt geht. Diesen Punkt muss ich den Atomgegnern geben. Ich plädiere aber für eine Abwägung von Risiken in der Gesamtschau, und die kommt meiner Meinung nach häufig zu kurz.
Hält der Vortrag allgemeine Lektionen für das kritische Denken bereit? Lässt sich zum Beispiel die Wichtigkeit eines bestimmten logischen Grundsatzes hier besonders gut erkennen? Oder gibt es Denkfehler, die man in Ihrem Bereich besonders häufig antrifft?
Der Denkfehler, auf den ich bei meinem Gegenstand am häufigsten treffe, ist die Gleichsetzung des Denkbaren mit dem gering Wahrscheinlichen und des Wahrscheinlichen mit dem Wirklichen.
Welche Hauptbotschaft sollten Besucher der "SkepKon" aus Ihrem Vortrag mitnehmen?
Fürchtet euch nicht. Strebt nach Abwägung. Versucht, die kulturelle Bedingtheit eurer eigenen Risikowahrnehmung zu reflektieren.
Was kann man für die interdisziplinäre wissenschaftliche Arbeit aus diesem Thema lernen?
Gerade bei der Abschätzung von technogenen Gefahren ist zwischen Risiko und Risikowahrnehmung zu unterscheiden. Bei der Einschätzung eines Risikos braucht man technische Daten, Empirie, Wahrscheinlichkeitsanalysen, aber auch Kenntnisse über Disruption und "Black Swans". Die Risikowahrnehmung ist eine soziale Konvention, sie wird in Gesellschaften durch Kommunikation hergestellt und durch kulturelles Lernen über Gefahren und Bedrohungen informiert. Der soziotechnische Ansatz arbeitet im Grenzbereich zwischen diesen beiden Ansätzen, benötigt aber tiefe Kenntnisse sowohl über die in Frage stehende Technologie als auch über die sozialen und kulturellen Bedingungen, die eine Technologie umgeben.
In welchem Punkt haben Sie unlängst Ihre Einschätzung geändert?
Ich habe die Hoffnung aufgegeben, durch Plädoyers für evidenzbasierte Argumentation und durch Engagement für Ökomoderne und nuclear literacy die Deutschen dazu zu bewegen, nochmal neu über die Nutzung der Kernenergie nachzudenken. Ich habe die Kräfte der Beharrung, die Macht des kulturellen Lernens und die Macht der Angstkommunikation über ionisierende Strahlung unterschätzt.
Gibt es in Ihrem Bereich Argumentationen und Standpunkte, die Sie zwar nicht teilen, aber aus denen Sie etwas gelernt haben? Wenn ja, welche?
Ich halte nicht so viel von der andauernden "Geopolitik"-Diskussion, denn die meisten, die sich in dieser Hinsicht äußern, neigen zu schablonenhafter Wahrnehmung vorgeblich ewiger Gültigkeiten von Einflusssphären, grand strategies, great games, Zugehörigkeit von Territorien zu "Kulturkreisen" und zur Negierung von Transformation, Transition und konkreten menschlichen Erfahrungen vor Ort. Daher mache ich ja so gerne Feldforschung, bevor ich mich zu apodiktischen Urteilen hinreißen lasse. Ich habe aber von einigen geopolitisch argumentierenden Autoren etwas über die Bedeutung von Logistik und Ökonomie im Krieg gelernt.
Welche Kritik an Ihrem Standpunkt gibt Ihnen am meisten zu denken?
Ich sei Anhängerin der "tech-fix-Position" bei der Bewältigung der großen Menschheitsprobleme Klimawandel und soziale Gerechtigkeit.
Das Motto der "SkepKon" – "Fakten. Mythen. Kontroversen" – deutet an, dass die GWUP gesellschaftliche Kontroversen in den Mittelpunkt rücken will. Unabhängig von Ihrem Vortragsthema: Welche Kontroverse liegt Ihnen besonders am Herzen – und was würden Sie sich hier wünschen?
Siehe das bereits angesprochene Thema Abschätzung technogener Gefahren. Ich würde mir wünschen, unrecht zu behalten, das heißt, dass Deutschland doch noch einen Weg findet, über seine Energie- und Klimastrategie vorurteilsfrei zu debattieren.
Debatten über emotionale Themen entgleiten leicht. Haben Sie einen Tipp für die Besucher parat, damit man damit konstruktiver umgehen kann?
Sich immer wieder die klassische Frage stellen, die am Anfang jeder erwachsenen Diskussion steht: "Kannst du dir irgendwas vorstellen, was deine Meinung zu diesem Thema ändern würde?"
Über welche Fragen spricht die skeptische Community momentan noch zu wenig?
Ich bin noch nicht lange genug dabei, um darauf eine Antwort geben zu können. Mein Eindruck aus den Kontroversen 2023/24 bleibt, dass noch zu wenig darüber gesprochen wird, ob Skeptiker mit kritischen Fragen auch da hingehen sollen, wo es weh tut, das heißt, in ihnen selbst nahestehende politische Milieus.
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